Eine Reise durch Kandahar: Im Zentrum der Gewalt

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Von Euronews
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Wir stehen an der sogenannten Pforte der Freundschaft. Es ist ein unglaubwürdiger Name für die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Denn das Verhältnis zwischen den Ländern ist alles andere als herzlich. Jeden Tag passieren rund 60.000 Fußgänger diese Grenze, 4000 Autos, 800 Schwertransporter und Hunderte Militärfahrzeuge, die Nachschub für die Truppen liefern.

Wir befinden uns in Wesh in der südafghanischen Provinz Kandahar, nicht weit entfernt vom Grenzdorf Spin Boldak. Es ist eine wichtige Achse für den Handel zwischen den Ländern, den legalen, aber auch den illegalen Handel. “In den letzten zwei Monaten haben wir 3000 Kilogramm Ammoniumnitrat entdeckt, das man verwendet, um Bomben zu bauen”, erzählt der Kommandant der Grenztruppen Saidullah Kahn, “außerdem 52 Kilogramm Sprengstoff, Hunderte Fernzünder, explosive Gerätschaften und 3000 Kilogramm Haschisch, das für den Iran oder Pakistan bestimmt war.”

130 afghanische Sicherheitskräfte arbeiten hier gemeinsam mit einer amerikanischen Einheit der ISAF, der NATO-geführten Sicherheits- und Aufbaumission in Afghanistan. Neue Instrumente machen es möglich, den größten Teil der Bewegungen an der Grenze zu überwachen. 100 bis 200 Menschen passieren jeden Tag die biometrischen Kontrollen. Digitale Fingerabdrücke und Irisscans werden in einer Datenbank gespeichert. Man ist auf der Suche nach möglichen Verbindungen zu Aufständischen der Taliban. Aber nur selten wird tatsächlich jemand gefasst – und Saidullah Kahn weiß, warum: “Jenseits dieses Grenzpostens breitet sich die inoffizielle Grenzzone über 2000 Kilometer aus. Es gibt keine Barrieren, keine Kontrollposten, nichts, was die Leute, also auch die Taliban, davon abhalten würde, die Grenze zu überqueren. Wenn sie von Pakistan nach Afghanistan wollen, ist das kein Problem, vor allem in der Nacht. Sie können einfach über die Grenze gehen.”

Wir machen uns auf den Weg nach Kandahar City, die Hauptstadt der Provinz und eine Hochburg der Taliban. Zahlreiche Aufständische finden hier Unterschlupf, vor allem seit der Offensive im Süden des Landes, die die NATO vor sechs Monaten gestartet hat und die zahlreiche Taliban gezwungen hat, nach Pakistan auszuweichen. Die Autobahn Nummer 4 ist eine strategisch wichtige Achse im Land. Und sie ist sehr bedeutend für die Zusammenarbeit zwischen den Aliierten und den afghanischen Sicherheitskräften.

Das Panzerregiment, das uns an diesem Tag begleitet, hat die Aufgabe, für Sicherheit an dieser Strecke zu sorgen – denn sie ist wichtig für den Handel und für die Versorgung der Militärcamps der NATO. Für die afghanischen Sicherheitskräfte geht es vor allem darum, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Dank der Kontrollen und der Patrouillen entlang der gesamten Strecke sind Anschläge selten geworden und der Handel läuft wieder weitgehend ungestört, versichert Truppenkommandant Matthew Kelley: “In den letzten zwei Jahren haben wir viel erreicht. Das sieht man daran, wie viele Menschen auf der Straße sind. Sie können sich frei bewegen, auf den Markt gehen, mit der afghanischen Grenzpolizei sprechen. Drei oder vier Polizeiwagen patrouillieren regelmäßig, und ihre Gegenwart zeigt den Menschen, dass es hier sicher ist und dass wir helfen, sie zu beschützen.”

Mit ungefähr 26.000 Soldaten von 130.000 Einsatzkräften im ganze Land beherbergt Kandahar eine der beiden wichtigsten Militärstützpunkte der Aliierten in Afghanistan. Jede Nacht werden von hier aus mindestens 40 Razzien der amerikanischen und afghanischen Einheiten gegen die Verstecke der Taliban gestartet.

Wir sind im Koordinationszentrum der Militäroperationen in Kandahar. Hier werden die Operationen gegen die Aufständischen koordiniert. “Früher war es schwierig, einen Zwischenfall aufzuklären und zu verfolgen”, erinnert sich Colonel Mohammad Hashim Khugiani. “Heute verfügen wir über neue Technologien, neue Kommunikationsmittel, Handys, Funkgeräte, und so sind wir in Kontakt mir allen Einsatzkräften in Kandahar. Die täglichen Berichte werden hier gesammelt. Wir tun unser Bestens, um unsere Einheiten in besonders gefährlichen Gebieten zu unterstützen.”

Im ganzen Land gibt es solche Stützpunkte, wo die Berichte der Sicherheitskräfte und der zivilen Behörden in den verschiedenen Provinzen gesammelt werden.

Wir machen uns auf den Weg ins kanadische Camp „Nathan Smith“, wo die Teams zum Wiederaufbau von Kandahar ihren Stützpunkt haben. Und hierher kommen die afghanischen Einsatzkräfte zum Training. Heute werden wir Zeugen eines Lehrgangs in Minenräumung und der Entschärfung von Sprengfallen. Dies sind die bevorzugten Waffen der Aufständischen. Die Polizisten hier sind eine Sondertruppe und sie finden beinahe täglich neue Sprengkörper. Die meisten sind im Zivil unterwegs, um nicht zur Zielscheibe zu werden. “Wir machen uns ständig Sorgen um die Sicherheitslage, Tag und Nacht”, klagt Gulam Sarwar von der afghanischen Polizei. “Am meisten beunruhigen uns Bomben und Morde. Die Aufständischen laufen in der Stadt herum und niemand weiß, wie man sie erkennen soll. Viele Polizisten wurden von Taliban getötet. Es gibt massive Probleme, diese Umgebung ist alles andere als sicher.”

Eines der wichtigsten Ziele der Aliierten ist es, die afghanischen Sicherheitskräfte besser auszubilden und auszurüsten. Denn dadurch wächst auch die Motivation dieser Männer, die gegen ein sich epidemisch ausbreitendes Übel kämpfen. “Natürlich gibt es innerhalb der Polizei auch Korruption, wegen der großen ökonomischen Probleme hier”, erzählt Polizist Abdul Jalil. “Das Gehalt, das wir vom Staat bekommen, reicht nicht aus. Wir können unsere Familien damit nicht ernähren. Aber dank dieser Ausbildung können wir unsere Fähigkeiten verbessern. Je mehr wir trainieren, desto besser werden wir. Unsere Polizei muss einfach besser ausgebildet werden. Aber Korruption wird wegen dieser wirtschaftlichen Schwierigkeiten weiter ein Thema sein.”

Wir machen uns wieder auf den Weg. Das NATO-Kommando versichert uns, dass die Stadt und ihre Umgebung sicher sind. Man hofft, dass die afghanische Polizei bald allein arbeiten kann, aber der Erfolg stellt sich nur langsam ein. Die Stadt bleibt ein Zentrum der Gewalt.

Dann sind wir in der Residenz des Gouverneurs von Kandahar, des höchsten politischen Machthabers in der Provinz. Wegen seiner Nähe zu Präsident Hamid Karsai entkam Tooryalai Wesa vor einem Jahr nur knapp einem Attentat. Seither hat sich die Sicherheitslage verbessert, versichert er. Einer der Schlüssel zu mehr Stabilität ist die wirtschaftliche Entwicklung. Wir wollen wissen, was er diesbezüglich tun kann. Nicht viel, meint er: “Neben der Sicherheit ist unsere nächste Herausforderung der Mangel an professionellen Hilfskräften. Die NGO’s haben uns diesbezüglich nicht geholfen, ganz im Gegenteil. Sie haben die besten Lehrer, die besten Angestellten für ihre Zwecke eingespannt, sogar Ärzte und Ingenieure. Heute arbeiten diese Leute nicht mehr in ihren Berufen, sondern als Übersetzer, wegen des höheren Gehalts.” Und auch mit den eigenen Landsleuten gibt es Probleme: “Bevor ich hierherkam, wurde alles von den ausländischen Kräften bestimmt, von den Geldgebern. Das war falsch. Die lokalen Gouverneure sollten bestimmen. Wir müssen unsere Bedürfnisse formulieren. Brauche Wir Schulen, brauchen wir ein Krankenhaus, brauchen wir eine Straße, eine Brücke oder was auch immer. Das ist heute bis zu einem gewissen Grad geregelt. Wir sollten aber auch in den Verhandlungsprozess bei Verträgen eingebunden werden. Heute sind solche Verträge in der Hand von zwei oder drei Familien. Das sind die jungen Milliardäre von heute.”

Eine Priorität des Gouverneurs ist es, Arbeitsmöglichkeiten für die Menschen zu schaffen. Auf dem Basar neben seiner Residenz zeigt er uns, wie die Menschen die Lage einschätzen. Ein Mann kritisiert, dass die Verantwortlichen sich nur sehen lassen, wenn etwas passiert. Hier wie auch anderswo gibt es große Vorbehalte gegenüber den politischen Anführern. Ihnen wird vorgeworfen, mit dass sie nur deshalb mit den Aliierten zusammenarbeiten, um sich zu bereichern. Nach einer Viertelstunde verlässt unsere ungewöhnliche Gruppe den Bazar. In derselben Nacht erfahren wir, dass zwei Polizisten nur wenige Stunden nach unserem Besuch hier getötet wurden…

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