Ägypten: Die Front-Frauen der Revolution

Ägypten: Die Front-Frauen der Revolution
Von Euronews
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Frauen standen bei der Revolution in Ägypten in vorderster Linie. Aber welche Rolle werden sie nun im neuen Ägypten spielen? Werden sie gehört, oder von einer nach wie vor konservativen und patriarchalischen Gesellschaft ignoriert werden?

Die Revolution in Ägypten hat seit Januar viele Menschen auf dem berühmten Tahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo zusammengebracht. Ganz vorne und immer mit dabei: Frauen jeglichen Alters und aus sämtlichen Gesellschaftsschichten des Landes. Auch sie entschlossen, ihre Rolle beim Aufbau eines neuen Ägypten einzunehmen. Doch ob sich ihre Erwartungen erfüllen, ist alles andere als gewiss.

Fernab vom Trubel und der lärmenden Geschäftigkeit Kairos liegt im Gouvernement al-Dschiza das Dorf Werdan. Hier soll sich die landesweit erste Gewerkschaft von Landarbeiterinnen und Bäuerinnen gebildet haben. Unter Mubarak wäre solche eine Organisation verboten gewesen. Doch im Dorf hat niemand von dieser Gewerkschaft etwas gehört. Dabei werde sie dringend gebraucht, meint die Bäuerin Ftouh Mahmoud Ktab. Werkzeuge, Dünger, Saatgut, soziale Dienste, Schulen, Gesundheitswesen – es fehle einfach an allem, sagt sie. Und die Revolution habe daran bisher nichts geändert.

“Die Frauen haben bisher nichts von alldem, sie sind Opfer”, sagt Ftouh Mahmoud Ktab. Es gibt hier Frauen mit zwei, drei Kindern, die bekommen Unterstützung, die aber praktisch nichts wert ist. Eine Witwe erhält zum Beispiel 90 ägyptische Pfund, das ist nichts! Was kann eine alleinstehende Frau damit machen? Sich einen Kuchen kaufen? Was kann sie damit auf ihrem Land anrichten? Nichts. Wir kommen hier langsam um. Ich habe nicht genug Geld, um Dünger zu kaufen oder auch irgendetwas anderes, um ein normales Leben zu führen. Die Bauern sind am Ende ihrer Kräfte. Ich hab nicht einmal ein anständiges Kleid, das ich an den Eid-Feiern anziehen könnte.”

Bürokratie und Korruption, Arbeitslosigkeit und ein miserables Gesundheits- und Bildungssystem machen den Menschen wie unter Mubarak weiterhin das Leben schwer. Und jenen, die sich am meisten um Veränderungen in den ländlichen Regionen kümmern, ist die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, die bei den Parlamentswahlen für die Muslimbruderschaft ins Rennen ging.

Azza al-Garf ist eine ihrer Kandidaten im Gouvernement al-Dschiza. Bei einer Versammlung von Frauen wenige Tage vor den Wahlen sprach sie über Themen wie Arbeit und Erziehung – und die Beibehaltung herkömmlicher Familienstrukturen. Dass Frauen sich etwa leichter scheiden lassen können, hält sie für den falschen Weg zu mehr Frauenrechten.

Azza al-Garf sagt: “Es wäre Frauen gegenüber unfair, wenn sie zwar zur Wahl gehen können, danach aber wieder zu Hause bleiben müssen. Sie müssen voll teilhaben und eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Es gibt Gesetze der vorherigen Regierung, die Frauen diskriminieren und gegen die Scharia, gegen islamische Gesetze sind. Zum Beispiel gegen das Gesetz, wonach Frauen und nicht Männer für die Erziehung der Kinder verantwortlich sind. Oder das, nach dem nur Frauen das Sorgerecht für Kinder haben. Diese Leute haben sich in so viele Familienangelegenheiten eingemischt, und immer war es gegen die Scharia. Ich glaube, um eine ausgeglichene Gesellschaft zu haben, darf es keine Diskriminierung geben. Weder gegen Frauen noch gegen Männer.

Es gibt aber auch Anhänger der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, die die radikalen Ansichten strenger Islamisten nicht teilen. Sie wollen das schlechte Image ändern, das ihnen in den Mubarak-Zeiten angehängt wurde.

Om Ayman, eine vollverschleierte Lehrerin, meint: “Das frühere Regime war korrupt. Jetzt, in Zeiten der Freiheit und des Wandels, wollen wir das wahre Ägypten zeigen. Wie werden zeigen, dass das ägyptische Volk zivilisiert und aufgeschlossen ist. Unsere Schleier hindern uns nicht daran, am politischen Leben teilzunehmen. Sie hindern uns nicht daran, das Haus zu verlassen, und beim Wiederaufbau unseres Landes mitzumachen.”

Und die Bibliothekarin Amal Ibrahim setzt hinzu: “Wir wurden auf dem Tahrir-Platz befreit. Und Frauen wie wir waren dort dabei. Die Islamisten waren dort, zusammen mit Frauen, die kein Kopftuch tragen. Glücklicherweise haben wir diese Frauen getroffen und mit ihnen gesprochen. Wir sahen: sie entsprachen gar nicht dem Bild, das wir alle die Jahre über von ihnen hatten.”

Nach wie vor sind für viele Frauen die Hürden der Diskriminierung nicht komplett eingerissen. Im weltweiten Vergleich rangiert das Land in Sachen Frauenrechten und Geschlechtergleichheit auf einem der hinteren Plätze. Die Journalistin Bothaina Kamel ist bekannt für ihren Widerstand gegen die ehemalige Mubarak-Regierung. Jetzt kämpft sie an vorderster Front gegen die Militärregierung. Als erste Frau in der Geschichte des Landes kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen um das höchste Staatsamt. Sie sagt: “Wir müssen den ersten Schritt machen. Wie müssen die Ägypter über Gleichheit unterrichten. Jeden einzelnen Tag. Am Anfang hielten sie mich alle für durchgedreht, aber jetzt ist es Realität, es ist eine Tatsache. Und wir werden weiter daran arbeiten.”

Es gibt viele Schwierigkeiten für Frauen, etwa häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe. Gerade Polizei und Militär stehen im Verdacht, häufig Frauen zu belästigen oder sogar zu missbrauchen. Unter den jüngsten Anschuldigungen sind jene von Demonstrantinnen, die sich – so sagten sie – nach ihrer Verhaftung einem Jungfräulichkeitstest unterziehen mussten.

Im Tumult der November-Proteste haben viele der Frauenrechtlerinnen, mit denen wir sprechen wollten, ihre Interviewtermine abgesagt. Schließlich aber fanden wir eine, spät nachts, auf dem Tahrir-Platz: Jamila Ismail, die sich als unabhängige Kandidatin – erfolglos – um einen Sitz im Parlament bewarb. Gerade ist sie dabei, sich über Todesopfer der Zusammenstöße zu informieren, hier in einem provisorischen Krankenstation, die in einer Moschee eingerichtet wurde. Jamila Ismail erzählt: “In meinem Wahlkreis sagen die Frauen nicht zu mir: ‘Wir wollen unsere Rechte’, das habe ich noch nie gehört. Statt dessen sagen sie: ‘ich will eine besser Ausbildung für meine Kinder, ich brauche ein Haus, Medizin, Gesundheitsversorgung.’ Frauen und Männer haben sich so lange versteckt gehalten. Sie wurden verprügelt, überfallen und verhaftet. In den vergangenen 60 Jahren wurden ihnen viele Rechte genommen, und sie wurden zum Schweigen gebracht. Heute spüren Frauen und Männer die Freiheit, sie wissen, dass sie etwas verändern können, und sie haben den Wunsch dazu und den Willen. Gemeinsam kämpfen sie für ein besseres Leben.”

Viele fürchten nun, dass Frauenrechten in den Moment, das die Revolutionäre Euphorie verebbt, wieder missachtet werden. Und auch Sorgen vor einer erstarkenden islamistischen Strömung sind da. Andere sind optimistischer, denn auf dem Tahrir-Platz wurden auch viele Stereotype zerstört, sagt die Menschenrechtsaktivistin und Bloggerin Sally Sami. Sie hat im Augenblick aber anderes als dem Kampf um Frauenrechte vor Augen:

“Wenn ich wählen müsste, ob ich für Frauenrechte kämpfe oder gegen die Militärgerichte, dann würde ich klar gegen die Militärgerichte ankämpfen. Denn die betreffen alle, sowohl Männer als auch Frauen. Und das muss bekämpft werden, das hat absolut Vorrang, denn wir sprechen hier von Tausenden Menschen, die ungerechterweise im Gefängnis sitzen.”

Andere wiederum sagen, Frauen dürfen die neuen Freiheiten nicht wieder verschwinden lassen. Sie müssten aktiv um ihre Rolle in der Gesellschaft kämpfen. Heba Morayef von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beklagt, dass Frauen in praktisch allen öffentlichen Bereichen unterrepräsentiert seien, ob in der Politik, der Wirtschaft oder in den Gerichten.

Heba Morayef macht klar: “Während der Proteste im Januar gingen Tausende Frauen auf die Straßen, sie fühlten sich sicher. Und sie spürten, dass sie an den Protesten und am Aufbau eines neuen Ägyptens teilnehmen konnten. Doch dann wurden Frauen in vielen Fällen wieder von den wichtigsten Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Eine echte Beteiligung von Frauen ist dringend nötig, und nicht nur die üblichen Posten für Soziales oder Frauenangelegenheiten, mit denen Frauen gerne abgespeist werden. Aber es braucht auch eine landesweite Agenda zur Verbesserung der politischen Teilhabe von Frauen.”

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