Schriftsteller Marek Halter: "Keine Demokratie durch Waffengewalt"

Schriftsteller Marek Halter: "Keine Demokratie durch Waffengewalt"
Von Euronews
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Der Schriftsteller Marek Halter gehört zu denen, die in Frankreich das jüdische Gewissen verkörpern. 1936 geboren ist Marek Halter mit seiner Familie aus dem Warschauer Ghetto in die Sowjetunion geflohen und später nach Paris emigriert.
Er versteht sich als Vorkämpfer für die Menschenrechte und ist mit vielen einflussreichen Politikern wie Wladimir Putin befreundet. Marek Halter meint, die Politiker hörten sich an, was er sagt, dass sie wirkich auf ihn hören, meint er nicht.
Im Interview mit euronews in einer Buchhandlung in Lyon gibt der Schriftsteller Einblick in seine Kontakte mit den Mächtigen der Welt.

Kirsten Ripper
euronews:
Vor einigen Jahren haben sie ein Buch über ihre Wut und ihren Zorn geschrieben. Worüber sind sie im Moment wütend?

Marek Halter:
Hoh… an Zorn fehlt es nicht. Wissen Sie, es gibt einen Unterschied zwischen Empörung und Zorn. Deshalb bin ich mit meinem Freund Stephane Hessel nicht einverstanden. Man kann empört sein und nichts tun, aber wenn man wütend ist, handelt man.

Wir sind in Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen und niemand schlägt uns eine echte Vision vor. Ich hätte gerne, dass jemand im Fernsehen sagt: “So sehe ich die Welt in 10 Jahren und so sehe ich die Rolle Frankreichs in dieser Welt in 10 Jahren.”

Wir müssen lernen anders zu teilen. Wir müssen alle Banken der Welt kontrollieren. Wir müssen vielleicht die Börsen schließen. Es gibt andere Mittel, Geld zu verdienen als auf Kosten anderer. Das brauchen wir nicht. Vielleicht sollten wir dort, wo heute die Börsen sind große Bibliotheken einrichten.

Kirsten Ripper
euronews:
Wütend waren Sie auch wegen der Situation im Nahen Osten, die sich in den vergangenen Jahren kaum verbessert hat?

Marek Halter:
Dieses Problem wird gelöst sein… vielleicht schon vor Ende dieses Jahres.

euronews:
Sie glauben, dass der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis vor Ende des Jahres gelöst wird. Sie sind optimistisch…

Marek Halter:
Wenn Sie auf dem Grund eines Brunnens sind und den Kopf nach oben strecken, dann sehen Sie das Licht. Wir bemerken das nicht, weil wir mitten im Tageslicht stehen.

euronews:
Und Sie glauben, die Palästinenser sind optimistisch?

Marek Halter:
Ich glaube, dass die Israelis und die Palästinenser heute fast ganz auf dem Brunnengrund sind… und wenn sie wirklich ganz unten sind, dann werden sie das Licht finden.

euronews:
Und wer sind heute die Friedensstifter?

Marek Halter:
Das ist eine gute Frage, denn diese fehlen leider überall auf der Welt – und im Nahen Osten ganz besonders. Die Leute, die heute die Palästinenser und den Staat Israel anführen sind nicht auf der Höhe.

Und in Afghanistan ist das Ende nah, der Westen tritt die Flucht an – wie in Vietnam oder in Birma. Man bringt keine Demokratie mit Waffengewalt.

euronews:
In Russland haben Sie zwei Universitäten gegründet…

Marek Halter:
Damit die jungen Russen verstehen, was Demokratie ist. Andrei Sacharov hat mir eines Tages gesagt, die Demokratie ist wie eine Orange.
(auf Russisch: APPELSIN). Wer noch nie eine Orange gesehen hat, wird keine verlangen. Wir erklären den jungen Russen die Orange, und eines Tages werden sie Lust darauf haben. Tatsächlich sind meine Studenten als die ersten auf die Strasse gegangen…

Damit die jungen Russen verstehen, was Demokratie ist. Andrei Sacharow hat mir eines Tages gesagt, die Demokratie ist wie eine Orange.
(auf Russisch: APPELSIN) Wer noch nie eine Orange gesehen hat, wird keine verlangen. Wir erklären den jungen Russen die Orange, und eines Tages werden sie Lust darauf haben. Tatsächlich sind meine Studenten als die ersten auf die Straße gegangen…

Kirsten Ripper
euronews:
Und haben Sie mit Wladimir Putin über die Proteste gesprochen?

Marek Halter:
Ja, ich habe in alles Öffentlichkeit gesagt, Wladimir Wladimirowitsch, meine Studenten sind auf der Straße, was wollen Sie zu ihnen sagen?
Und er hat gesagt: Marek Halter, ich sage ihnen, dass sie demonstrieren dürfen, verdanken sie mir.

euronews:
Und Sie geben ihm recht?

Marek Halter:
Auf gewisse Weise – ja. Zum ersten Mal demonstrieren Zehntausende und niemand kommt in den Gulag.

euronews:
Aber ins Gefängnis…

Marek Halter:
Ach, nein, die Demonstrationen waren vor allem in St. Petersburg. Dort gab es auch Neonazis, die protestiert haben. Keiner meiner Studenten ist brutal behandelt worden.

Putin hat mich beeindruckt, manchmal sind es solche kleinen Sachen… ich habe ihn gefragt, Wladimir Wladimirowitsch: Kennen Sie die Juden?
Und er hat gesagt, ja, als ich klein war, teilten wir eine Wohnung mit einer jüdischen Familie in einem Vorort von St Petersburg, die hießen Abramowitsch… und jeden Tag nach der Arbeit hat Salomon Abramowitsch ein großes Buch herausgenommen und darin gelesen und hat sich hin- und hergewiegt. Ich frage ihn, was er liest: den Talmud. Und dann sagt Putin zu mir, Marek, entschuldigen Sie. Und ich: Warum? Weil mich das gar nicht interessiert. Das fand ich gut – ganz einfach, aber mit Respekt für den Anderen.

Es kann sein, dass Putin nach zwei Jahren meinen Freund Michail Prochorov bittet, Regierungschef zu werden.

euronews:
Steht Prochorov Putin nahe?

Marek Halter:
Das weiß ich nicht. Er ist liberal…

euronews:
Und Sie vertrauen ihm?

Marek Halter:
Ach, wissen Sie, ich vertraue nicht mal mir selbst.

Gerade habe ich ein Buch über Birobidjan geschrieben, eine jüdische Republik, die Stalin 1932-34 gegründet hat und die es noch immer gibt. Sie ist der einzige Ort auf der Erde mit Jiddisch als offizieller Sprache. Jiddisch spricht heute niemand mehr auf der Welt, es ist meine Muttersprache.
Und wissen Sie, wer die letzte Person war, mit der ich Jiddisch gesprochen habe, jeden Monat einmal beim Abendessen, um die Sprache unserer Eltern nicht zu vergessen, es war der Kardinal von Paris, Jean-Marie Lustiger.

euronews:
Er sprach Jiddisch?

Marek Halter:
Er sprach Jiddisch mit seinen Eltern wie ich mit meinen.

Kardinal Lustiger ist 2005 gestorben, aber Marek Halter hat noch viele Pläne. Zunächst reist er nach Moskau, um Wladimir Putin zu treffen, und er erklärt die politische Situation in Frankreich auf Russisch im russichen Fernsehen. Auf dem Gebiet der Belletristik schreibt Marek Halter nach den Portraits der Frauen der Bibel (Maria, Sarah, Zippora und Lilah) als nächstes wieder ein Buch über eine starke Frau: Khadija, die erste Frau des Propheten Mohamed.

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