Interview mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz

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Kriege, bewaffnete Konflikte, Folter, Katastrophen – wie kann man soviel menschliches Leid lindern? Ist die humanitäre Diplomatie dabei, an Wirksamkeit zu verlieren oder zu gewinnen? Seit 12 Jahren leitet Jakob Kellenberger das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Er wird diese Aufgabe in wenigen Wochen einem Nachfolger übergeben. Monsieur Kellenberger, Sie kennen die Lage in Syrien. Was beunruhigt Sie daran am meisten?

Jakob Kellenberger
Ich war als einziger Chef einer humanitären Organisation in den vergangenen neun Monaten dreimal in Damaskus, ich habe mich persönlich sehr stark engagiert. Das Rote Kreuz ist der einzige internationale Akteur vor Ort. Unsere Organisation erweitert gegenwärtig ihr Aktionfeld und die Zahl ihrer dort tätigen Vertreter als Reaktion auf die Notwendigkeit, dort mehr zu tun. Ich befürchte sehr, dass es noch schlimmer kommen kann, noch ist kein Ende der Gewalt in Sicht.

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Der Konflikt in Syrien beeinflusst die Beziehungen der Staaten im UN-Sicherheitsrat. Müssen Ihrer Meinung nach die Vereinten Nationen reformiert werden, um leichter agieren zu können?

Jakob Kellenberger
Nein, Nein….

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Aber in der Syrienfrage…

Jakob Kellenberger
Nein, nein….

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Angesichts des eindeutigen Scheitern der Diplomatie?

Jakob Kellenberger
Man muss trotz allem sagen, dass der sogenannte “Annan-Plan”, der die Feuereinstellung vorsah und einen anschließenden Dialog der beteiligten Parteien, im Grunde ein guter Plan war. Wenn man jetzt aber sieht, wie gegen die Absprachen zur Feuereinstellung verstoßen wird, gebe ich Ihnen Recht. Man weiß nie genau, wer dafür verantwortlich ist. Ich sage ganz einfach, die wohl am ehesten mögliche Alternative liegt nach wie vor in dem Versuch eines ernsthaften politischen Dialogs. Ich befürchte aber, dass sich der Konflikt zu einem Bürgerkrieg auswächst.

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Sind die Institutionen heute gelähmt?

Jakob Kellenberger
Ja, und das nicht zum erstenmal. Wie Sie wissen, wird der UN-Sicherheitsrat jedesmal durch Veto blockiert, wie auch in anderen Situationen.

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Wie erreichen Sie, in einem bewaffneten Konflikt von beiden Seiten als unabhängiger, neutraler Akteur anerkannt zu werden?

Jakob Kellenberger
Man muss unparteiisch an seine Arbeit herangehen. Ich verstehe das so, dass wir uns bei unserer Arbeit nur von den humanitären Notwendigkeiten leiten lassen. Davon, dass Menschen Schutz und Hilfe brauchen. Das sehe ich nicht als opportunistische Haltung an. Es ist unser Prinzip, dir Voraussetzung für unsere Art zu handeln.

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Das Rote Kreuz hat in Pakistan sein Programm gekürzt aus Angst vor Entführungen. Die sind dort ebenso wie in Afghanistan, Irak oder Kolumbien zu einer Kriegswaffe geworden. Droht uns ein Sieg des Terrors, wodurch humanitäre Aktionen unmöglich werden?

Jakob Kellenberger
Was in Pakistan passiert ist, ist aus zwei Gründen sehr schlimm. Einerseits haben wir dort einen sehr engagierten mutigen Mitarbeiter verloren. Einen Menschen, der arbeitete, um zu helfen. Der andere Aspekt betrifft die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Das heisst, man muss sich aus bestimmten Regionen zurückziehen. Sie haben Recht, wenn sich die Dinge so entwickeln, wird es sehr schlimm. Das sind Niederlagen. Niederlagen im humanitären Bereich, die in aller Welt schreckliche Folgen haben.

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Nach den Attentaten vom 11. September hat der Kampf gegen den Terror die Menschenrechte in den Hintergrund gedrängt. Sie selbst haben Meinungsverschiedenheiten mit den USA in Sachen Guantanamo. Treten Sie für eine Stärkung der Rechte von Opfern bewaffneter Konflikte ein?

Jakob Kellenberger
Es hat sehr schwierige Differenzen gegeben, aber nach der wichtigen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der USA von 2006 wird auch dort die Genfer Konvention anerkannt. Das hatte sich wirklich als großes juristischen Problem dargestellt. Es stimmt, nach dem 11. September hatte man in gewissen Bereichen tatsächlich Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden zwischen militärischen und humanitären Notwendigkeiten. Das betraf die Einordnung von Werten, denen man zu folgen hat.
Der Wert “Sicherheit” wurde zeitweise als sehr viel wichtiger angesehen als der Wert “Freiheit”.

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Muss heute das Kriegsrecht (le droit de la guerre) an die modernen Konflikte angepasst werden?

Jakob Kellenberger
Das kodifizierte, in Verträgen niedergelegte Recht ist für diese Art von Konflikten sehr entwickelt. Heute geht es aber nicht mehr um Konflikte zwischen Staaten. Es ist wenig ausgestaltet für bewaffnete Konflikte, die nicht als “international” einzuordnen sind. Es besteht die Notwendigkeit, das Kriegsrecht anwendbar zu machen auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte.

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Tausende palästinensische Familien im Westjordanland haben Angehörigen, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Gibt es politische Hindernisse bei Ihren Missionen im Gazastreifen oder im Westjordanland?

Jakob Kellenberger
Auf juristischer Ebene, bei der Umsetzung von juristischen Standards gibt es klare Differenzen zwischen Israel und dem Roten Kreuz. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wir meinen, da sei die IV. Genfer Konvention anzuwenden. Israel meint, das humanitäre Völkerrecht sei da nicht anwendbar. In den israelischen Gefängnissen sitzen Tausende von palästinensischen Gefangenen, die wir besuchen. Wir besuchen aber auch die Gefangenen in den Gefängnissen, die der Autorität von Ramallah unterstehen und auch jene unter der Autorität von Gaza.

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Sie wissen natürlich, dass die palästinensischen Gefangenen von einem neuen Hungerstreik bedroht sind. Zwei von ihnen schweben bereits in Lebensgefahr. Wie kann man diese Praxis der von israelischen Behörden angeordneten Haft beenden?

Jakob Kellenberger
Wir beschäftigen uns natürlich mit diesem großen Problem, das sich in Israel stellt, verstärkt auch nach dem 11. September wegen sogenannter “Sicherheitsgründe”, ohne dass die Betreffenden einer konkreten Straftat beschuldigt werden. Ich muss Ihnen sagen, dass bei der Umsetzung des humanitären Völkerrechts bereits große Fortschritte erzielt wurden, weil inzwischen eine unabhängige Kontrolle-Behörde gefordert wird, die regelmäßig prüft, ob von einer Person immer noch eine Gefahr ausgeht oder ob diese Person freizulassen ist.

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