Jacques Delors: "Der Euro ist eine Fehlkonstruktion"

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Zehn Jahre lang war Jacques Delors Präsident der Europäischen Kommission. Er gehört zu den Architekten des geeinten Europas, eines Europas, das zwischen Friedensnobelpreis und Krise changiert. Anlässlich dieses Ereignisses hat euronews den Franzosen Delors in Paris zum Gespräch getroffen.

Giovanni Magi, euronews:

Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie erfuhren, dass das Norwegische Nobelkomitee die EU für den Friedensnobelpreis ausgewählt hat? Was war Ihre erste Reaktion, Ihr erster Gedanke?

Jacques Delors, Ex-Präsident der EU-Kommission:

Ich habe an all die Väter Europas gedacht, an die entscheidenden Momente, die von einer Vision und einem gemeinsamen Geist getragen wurden. Ich habe auf der anderen Seite an alle gedacht, die sich für die europäische Sache starkmachen, denn das ist nicht einfach. Es gab und gibt immer wieder schwierige Zeiten, wie etwa im Moment. Ich habe natürlich auch mit vielen sarkastischen Kommentaren in den sozialen Netzwerken und in manchen Zeitschriften gerechnet. Ich denke aber, dass der Nobelpreis insgesamt eine Belohnung und Anregung für alle Europäer ist.

euronews:

Das Norwegische Nobelkomitee hat die EU-Erweiterung als eine neue Ära in der Geschichte bezeichnet. Einige Kritiker sagen aber auch, dass die Erweiterungen, speziell die im Jahr 2004, als gleich 10 neue Länder dazukamen, die politische Führung der Union immer schwieriger und problematischer machen. Wie denken Sie darüber?

Delors:

Auf der einen Seite gibt es die politische Sicht mit sehr erfolgreichen Erweiterungsschritten, etwa als Spanien und Portugal dazukamen. Die damaligen politischen Entscheider, ich war seinerzeit Kommissionspräsident, wollten den Menschen dort, die gerade aus einer Diktatur kamen, zeigen, dass man sie mit offenen Armen aufnimmt, damit sie die Demokratie erneuern oder wiederaufbauen konnten. Da aber ihr Lebensstandard zu der Zeit niedriger war als der Durchschnitt, habe ich gleichzeitig die Kohäsionspolitik vorgeschlagen, die heute mehr als ein Drittel des EU-Haushalts ausmacht. Das war ein großer Moment. Danach habe ich den damaligen Staaten der Freihandelszone EFTA, die ja von Großbritannien aus Ablehnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mitgegründet wurde, einen gemeinsamen Binnenmarkt vorgeschlagen. Und außer Norwegen haben sie alle den Beitritt einem Verbleib in der EFTA vorgezogen. Dann ist die Berliner Mauer gefallen. Das hat den Weg zum Beitritt anderer Länder freigemacht. Ich denke aber nach wie vor, dass diese Erweiterung viel zu hastig war. Man hat nicht versucht, vor der Aufnahme neuer Staaten erst einmal das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Außerdem wurde ich beim Europäischen Ratstreffen in Lissabon 1992 überstimmt, als ich sagte: Beitritt ja, aber nicht zu schnell. Ich schlug vor, zuerst unsere eigenen Institutionen und unsere Finanzregeln in Ordnung zu bringen. Aber damals war die Begeisterung so groß, dass alles sofort geschehen musste oder vielleicht gab es auch bestimmte politische Gesichtspunkte… Also kurz gesagt, meiner Ansicht nach wurde die Erweiterung und Vertiefung nicht sehr gut und in der falschen Dosis durchgeführt.

euronews:

Die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Probleme des Euro aufgezeigt. War die Einführung der Gemeinschaftswährung eine gute Entscheidung?

Delors:

Ja, das war eine gute Entscheidung, aber es gab einige Konstruktionsfehler. Wenn Sie sich an den Bericht des Delors-Ausschusses erinnern – der heißt so, bitte entschuldigen Sie – dann sehen Sie, dass er auf Wunsch des Europäischen Rats Vorschläge gemacht hat, wie man den Euro machen könnte. Es gab bei uns eine wirtschaftliche Seite und eine monetäre. Die wirtschaftliche Seite wurde vernachlässigt, und diesen Konstruktionsfehler müssen wir nun teuer bezahlen. Es gab keine wirtschaftspolitische Koordination, es gab keine offenen Diskussionen zwischen den Ministern, die ja genau sahen, dass Länder wie Irland, Spanien und Portugal direkt ins Unglück zu laufen drohten. Warum? Weil damals der Euro zwar schützte, aber die Wirtschaft nicht stimulierte, er schützte uns sogar vor unseren eigenen Dummheiten. Das ist der Konstruktionsfehler, den wir heute reparieren müssen.

euronews:

Wie kann man den Bürgern das Vertrauen in Europa wiedergeben?

Delors:

Wenn ich die Reaktionen der Länder, die in Schwierigkeiten stecken, sehe, dann sagen sie dort nie: “Unsere Regierung hat Blödsinn gemacht, wir zahlen jetzt dafür.” Nein, sie sagen: “Das ist eine übergeordnete Ideologie, das liegt an Europa.” Es bestand niemals eine so große Notwendigkeit, Europa zu erklären, zu sagen, was Europa uns gebracht hat und für was es steht, als Zukunftsprojekt. Ich werde Ihnen einfach sagen, da ich ja nicht mehr im Geschäft mitmische, und zu meiner Zeit war es auch etwas einfacher, ich werde Ihnen also sagen, dass man diese Dinge anpacken muss, und außerdem ist es nicht die Aufgabe des Kommissionspräsidenten, durch ganz Europa zu fahren. Sondern die einzelnen Regierungen sind gefragt. Anstatt immer zu sagen “Brüssel ist schuld” oder “das ist die Schuld der Vereinigten Staaten”, sollten die Regierungen hingehen und sagen: “Ihr wisst, das und das haben wir bis jetzt gemacht und wir müssen weitermachen, weil es euch nützt.” Und zwar sowohl im Hinblick auf das Zusammenleben als auch auf Arbeitsplätze und weitere Entwicklungen.

euronews:

Kommt irgendwann die politische Union Europas?

Delors:

Im Moment sehe ich das nicht. Ich sehe folgendes: Da die Unterschiedlichkeiten bisher immer einer der europäischen Motoren waren – man denke an Schengen, den Euro – glaube ich, dass die Eurozone gefestigt werden muss, indem man die Zusammenarbeit verstärkt, wie es die Verträge auch vorsehen. Diese Eurozone sollte ihren eigenen Haushalt haben, ihre eigenen Instrumente zur wirtschaftlichen Regulierung, und es sollte eine europäische Schuldenagentur geben. Das würde eine Überwachung ermöglichen und gleichzeitig wäre es vielleicht ein Weg der Solidarität, bevor schwerwiegende Probleme entstehen. Ich sehe ein großes, offenes Europa, das vor allem auf dem Binnenmarkt steht, auf den vier Grundfreiheiten des freien Verkehrs von Personen, Dienstleistungen, Waren und Kapital. Dazu fußt es auf einem globalen Ansatz, auf Entwicklungshilfe, Nachbarschaftspolitik, was ja alles den Opfern von Tragödien hilft. Und ich sehe dieses große Europa als ein Modell, das sogar ein Vorbild für eine Reform der UNO sein könnte.

euronews:

Kann es sein, dass die Eurokrise potentielle Beitrittskandidaten wie die Türkei abschreckt?

Delors:

Was die Türkei angeht, da gab es immer sehr viele europäische Staats- und Regierungschefs, die gesagt haben: “Die Türkei? Niemals.” Ich denke, das war ein schwerer Fehler, denn so erschien man in den Augen der Welt wie ein christlicher Club, ein christlicher Verein. Und das treibt einen Keil zwischen die Menschen. Wir müssen schon genug gegen Fundamentalisten ankämpfen, gegen jene, die andere ablehnen, die andere sogar angreifen wollen, um Probleme zu verursachen, damit man niemanden mehr aufnehmen muss. Zu viele Regierungen denken nur sehr begrenzt, und ich möchte hier einen Satz von Tommaso Padoa-Schippoa, dem ehemaligen Präsidenten unseres Think Tanks “Notre Europe”, zitieren, der unter Prodi ein bemerkenswerter Finanzminister in Italien war und der gesagt hat: “Strenge in den Staaten, Erholung für Europa.” Wenn man so bei den Finanzen verfahren würde, indem man einfach 200 Milliarden für die gesamte Periode draufsetzen würde, und wenn diese 200 Milliarden dann nur für Umweltschutz, Infrastruktur und Forschung genutzt würden, dann würde Europa sehr schnell wieder hohes Ansehen gewinnen, das können Sie mir glauben.”

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