Muss Europa neu erfunden werden?

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“Das wahre Europa? Nichts einfacher: Das ist die Union, die auf dem Kopf steht.” “Sie befindet sich in einem schlechtem Zustand, den sie überwinden muss.” “Das Gegenteil von dynamisch.” “Ängstlich.” Dieses waren einige der Aussagen zu Europa, die wir in Brüssel sammelten. Der Blick, den Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Medien auf Europa warfen, war scharf und unbestechlich. Veranstalter des Treffens war die französische Wochenzeitung “Nouvel Observateur”. Im Verlauf von drei Tagen wurden Ideen und Vorschläge zu einem Europa geäußert, das am Scheideweg steht.

Sieben Monate vor der Europawahl wurde hier über Marktwirtschaft, Wachstum, den wachsenden Populismus und die Rolle der Kultur gestritten. Für Laurent Joffrin, Herausgeber der Wochenschrift “Nouvel Observateur”, ist der Klub der 28 ein Furcht erregender, gesichtsloser Verwaltungsapparat: “Jacques Delors war jemand, der Europa ein Gesicht gegeben hat. Unabhängig davon, ob man ihn mochte oder nicht, wusste man, wofür er stand. Nachdem die Regierungen der Nationalstaaten aber keine starke Persönlichkeit wollen, ziehen sie jemanden vor, der keinen Schatten wirft. Weil Macht und Kompetenz verschwimmen, entsteht der Eindruck mangelnder Demokratie.” Und der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors sagt: “Heute gibt es einen Präsidenten der Kommission und einen Präsidenten des Europäischen Rates. Es ist gut zwei Führungsfiguren zu haben, denen die Vermittlerrolle zukommt. Herman Van Rompuy ist eine solche Perönlichkeit. In Wirklichkeit bestimmen wir somit nur einen halben Kommissionspräsidenten.” Diesbezüglich aber soll sich einiges ändern. Bei der Europawahl im kommenden Mai entscheiden wir uns für einen Europaabgeordneten, zugleich aber für einen Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Nicht alle sind von diesem Modell überzeugt.

Wie aber wird Europa wieder attraktiv? Der Journalist Bernard Guetta meint: “Wir könnten gemeinsam gegen soziales Dumping kämpfen, über Ökologie und Währungsfragen unserer Konkurrenten verhandeln. Den Menschen würde klar werden, dass die 28 Mitglieder oder selbst nur die 17 der Eurozone gemeinsam stärker sind als China.” Die konservative Europaabgeordnete Sylvie Goulard fügt hinzu: “Themen wie die Eurozone oder die Bankenunion vermögen niemanden zu begeistern. Gäbe Europa hingegen jeder Familie die Mittel in die Hand, um die Kinder eine Fremdsprache erlernen zu lassen, um Reisen zu machen oder um einen Aufenthalt im Ausland zu finanzieren, könnte das europäische Projekt wiederbelebt werden.”

Doch viele stehen Europa ablehnend gegenüber, Umfragen zufolge haben die Gegner Europas Zulauf. Der französischer Philosoph Michel Onfray warnt davor, den Karren vor die Wand zu fahren: “In der Zeit des Stalinismus hieß es, Schwierigkeiten in der Sowjetunion seien darauf zurückzuführen, dass das System noch nicht vollkommen sei, dass der unvermeidliche Fortschritt aber alle Probleme lösen werde. Genauso verhält es sich heute mit Europa. Man sagt uns, Probleme kämen daher, dass Europa noch nicht europäisch genug sei. Mehr Europa aber führte dazu, dass die Schwierigkeiten überwunden würden.”

Vielleicht genügte es, deutlich zu machen, worin sich Europa von dem Rest der Welt unterschiedet, um es wieder attraktiv zu machen. Der frühere Chef der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy, ist der Ansicht: “Im Unterschied zu anderen Teilen der Welt, wie es die USA oder China sind, ist man in Europa weniger bereit, Ungleichheit zu akzeptieren. Das Sozialsystem ist Teil der europäischen Identität. Wir brauchen ein Prozent Wachstum. Gelingt das nicht, gerät das Sozialsystem in Gefahr. Das würde aus meiner Sicht auch die europäische Identität gefährden.” Während der deutsche Schriftsteller Peter Schneider betont: “Unser Kapitalismus ist viel humaner als jener der USA, Ausbildung und Gesundheitsvorsorge sind kostenlos. Obama wird als Kommunist beschimpft, weil er die Gesundheitsvorsorge einführen will. Wir leben auf einem privilegierten Kontinent, doch wir verteidigen ihn nicht, wir verteidigen unserer Werte nicht, die Werte der Aufklärung.” Neue Erkenntnisse oder gar Lösungen gab es am Ende der drei Tage natürlich keine. Doch es herrschte auch kein Zweifel darüber, dass Beschönigungen die Europäische Union keinen einzigen Schritt weiterbringen.

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