Monat des Binnenmarkts - EU-Kommissar Barnier im Interview

Monat des Binnenmarkts - EU-Kommissar Barnier im Interview
Von Euronews
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Michel Barnier ist Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen bei der EU-Kommission. Im Rahmen des Monats des EU-Binnenmarkts hat er Fragen von EU-Bürgern zum Thema Arbeit, Sozialrechte, Banken und Online-Handel beantwortet. Die wichtigsten Momente dieser Debatte finden Sie hier in einer Zusammenfassung.

Frédéric Bouchard, euronews
Die EU befindet sich in einer Phase von wirtschaftlicher Stagnation und Massenarbeitslosigkeit. 12 Prozent sind es in der EU, in einigen Ländern sind es bis zu 26 Prozent. Herr Barnier, ist ein gemeinsamer Binnenmarkt die Lösung?

Michel Barnier, EU-Kommissar
Wenn wir von einem Binnenmarkt sprechen, dann sprechen wir von 500 Millionen Bürgern, die auch Verbraucher sind. Wir sprechen von 22 Millionen Unternehmen, davon sind 80 Prozent kleine und mittlere Unternehmen. Sie alle haben seit zu langer Zeit das Gefühl gehabt, dass der Binnenmarkt nicht für sie gemacht war. Dass er nur größere Unternehmen betrifft. Seit drei Jahren versuche ich, die Bürger sowie die kleinen und mittleren Unternehmen in den Binnenmarkt einzubinden. Dazu haben wir viele Gesetze vorgeschlagen, die diese Einbindung vereinfachen sollen.

Frédéric Bouchard, euronews
Ich richte mich nun an einen unserer Gäste, der dem Kommissar eine Frage stellen möchte.

Studiogast, Martin Kalani
Hallo Herr Barnier, mein Name ist Martin Kalani. Ich komme aus Bremen und bin Software-Entwickler. Hier meine Idee: Crowdfunding für europäische Projekte. Dabei beteiligen sich Menschen durch Geldinvestition an einem Projekt oder einer Idee, die sie vielversprechend finden. Die Investition geschieht vor der Realisierung des Projekts. Sie erhalten im Gegenzug beispielsweise Gewinnanteile, Produkte oder andere Vorteile. Könnten Sie sich das auch auf europäischer Ebene vorstellen? Eine Internet-Plattform zum Crowdfunding für europäische Projekte?

Michel Barnier
Ich finde diese Finanzierungsmöglichkeit sehr interessant, denn es sind dabei keine Banken beteiligt. Es muss aber eine Art Garantie und Sicherheit geben. Ich arbeite momentan an der Umsetzung eines europäischen Rahmens für Crowdfunding. Wir wollen sicherstellen, dass Plattformen, die das Geld von Menschen sammeln, seriös sind. Menschen, die ihr Geld so investieren, brauchen Sicherheit und Transparenz. Es braucht Regulierung. Aber ich glaube, dass es funktionieren kann. Meine Antwort ist also ja. Wir sollten uns aber genauer anschauen, was wir mit europäischen Projekten genau meinen. Es werden in Zukunft nicht Straßen, der Netzausbau oder Gebäude durch Crowdfunding finanziert werden. Es gibt aber bereits zahlreiche Projekte in den Bereichen Kultur, Soziales, Wirtschaft oder Landwirtschaft, die so finanziert werden.

Frédéric Bouchard, euronews
Marie, haben wir andere Fragen aus den sozialen Netzwerken?

Marie Jamet, euronews
Ja. Eine Frage betrifft das Thema Sozialrechte. Eine Person schlägt die Einführung von EU-Mindestnormen vor. Welche Antwort würden Sie auf diese Frage geben?

Michel Barnier
Ich denke wir müssen uns tatsächlich in diese Richtung bewegen. Wir brauchen eine solide soziale Grundlage. Das sieht man auch am Beispiel der Mindestlohndebatte, die es momentan in Deutschland gibt. Aber ich bin bereit, an einer neuen sozialen Grundsicherung zu arbeiten.

Frédéric Bouchard, euronews
Sie sprechen oft von ‘wettbewerbsfähiger sozialer Marktwirtschaft’. Können Sie uns erklären, was Sie darunter verstehen?

Michel Barnier
Ich erkläre es am besten am Gegenmodell, das sich in den letzten 30 Jahren durchgesetzt hat: der Ultraliberalismus. Beim Ultraliberalismus gibt es eine allgemeine Deregulierung. Das hat die Staatsbankrotte und die Finanzkrise verursacht. Einige Bänker haben geglaubt, dass sie sich alles erlauben können: Sie zahlten sich ihre hohen Boni, wohl wissend, dass die Steuerzahlen später das Risiko tragen würden.
Soziale Marktwirtschaft funktioniert anders. Dabei geht es um Wettbewerb und um Marktwirtschaft aber eben auch um eine solide soziale Grundlage auf europäischer Ebene. Damit meine ich ein Sozialsystem, eine Umverteilung. Ohne sozialen Zusammenhalt ist wirtschaftliche Höchstleistung auf Dauer nicht möglich.

Frédéric Bouchard, euronews
Die internationale Finanzwelt schien tatsächlich unkontrollierbar in den letzten Jahren. Welche Lektion hat die EU aus der Banken- und Finanzkrise von 2008 gezogen?

Michel Barnier
Ich denke, Europa ist der Kontinent, der am weitesten fortgeschritten ist in der Umsetzung der Empfehlungen der G-20 nach der Krise. Wir haben eine solide Grundlage für die Finanzmärkte geschaffen.

Frédéric Bouchard, euronews
Wenn sich so eine Krise heute wiederholt, wäre das europäische Bankensystem dem gewachsen?

Michel Barnier
Wir haben die richtigen Entscheidungen getroffen. Gesetze wurden umgesetzt. Um genauer zu sein: Wenn diese Gesetze vor fünf oder sechs Jahre verabschiedet worden wären, wären drei oder vier Banken von der Krise betroffen gewesen. Da hätte man eine Intervention der Bürger rechtfertigen können. Ich kann nicht sagen, dass es nie wieder eine Krise geben wird. Wir werden immer wachsam bleiben müssen. Bis alle Gesetze in Kraft treten, dauert es zwei bis drei Jahre hier im Parlament und im Ministerrat. Die Demokratie ist langsamer als die Finanzmärkte. Aber wir sind heute gegen eventuelle Krisen gewappnet.

Frédéric Bouchard, euronews
Die europäischen Steuerzahler werden nun trotz allem zur Kasse gebeten. Es fällt ihnen schwer, den Banken zu vertrauen. Das ist das Stichwort für unseren nächsten Gastbeitrag, Herr Barnier.

Studiogast, Kim Valentin
Guten Tag Herr Kommissar. Wir brauchen bessere Banken. Ich komme aus Dänemark und mein Name ist Kim Valentin. Meine Idee ist ein Benotungssystem mit Smileys für Banken. Wenn Banken gegen Regeln verstoßen, bekommen sie einen traurigen Smiley. Bankenaufsichten kennen dieses System bereits, also wäre es leicht einzuführen.

Michel Barnier
Eine sehr interessante Idee. Ich glaube auch an Benotungssysteme. Ich denke, Verbraucherzentralen könnten diese Systeme selbst einführen. Sie könnten im Binnenmarkt auf transnationaler Ebene funktionieren. Sie könnten dabei von den neuen Transparenzvorschriften, denen Banken unterliegen, profitieren. Wir können sie dabei unterstützen. Ein Smiley-System – warum nicht! Ich denke auf jeden Fall, dass die Initiative dafür von den Verbrauchern kommen sollte, das wäre besser, als von administrativer Ebene aus Smileys zu vergeben.

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Frédéric Bouchard, euronews
Durch Online-Handel wurden im vergangenen Jahr 312 Milliarden Euro Umsatz gemacht. Liegt darin eine Lösung für die Krise?

Michel Barnier
Ja, ich denke darin liegt ein Potenzial für Wachstum. Der E-Commerce macht im Vergleich zum gesamten Handel sechs oder sieben Prozent aus. Einige Dinge müssen in diesem Zusammenhang aber abgesichert werden. Ich habe Vorschläge gemacht, um beispielsweise die Sicherheit der Zahlungssysteme zu verbessern. 30 Prozent der Bürger, und ich denke einige hier betrifft das auch, vertrauen der Online-Kartenzahlung nicht. Man gibt schließlich seine ganzen Daten ein. Und sie haben teilweise recht, denn es gibt Betrug und Veruntreuung. Ich habe einen Gesetzesvorschlag gemacht, um die Sicherheitsvorschriften bei Online-Zahlungen für Banken und Kreditkartenunternehmen zu verstärken.

Frédéric Bouchard, euronews
Viele Nutzer beschweren sich über Lieferschwierigkeiten und Lieferkosten…

Michel Barnier
Ich habe mich ebenfalls viel mit der Frage der Qualität und der Preise für Lieferungen beschäftigt. Ich war beispielsweise vor einigen Wochen in Brüssel bei einem Treffen mit Postdienstleistern aus ganz Europa und sogar von außerhalb: Auch Amerikaner und Australier waren dort. Sie arbeiten zusammen an einem europäischen Binnenmarkt. Das Ziel ist, Lieferkosten zu senken, die oft viel zu hoch sind. Auch die Zustellung der Waren muss sicherer werden. Genauso soll der Umtausch erleichtert werden, falls eine Sendung nicht den Vorstellungen entspricht. Hier sind also die Postdienstleister gefragt. Sie arbeiten an gemeinsamen Richtlinien. Ich denke in diesem Bereich werden wir sehr schnell konkrete Fortschritte sehen.

Frédéric Bouchard, euronews
Ein wichtiges Großereignis für die europäischen Bürger darf hier nicht unerwähnt bleiben: Die Europawahlen. Sie finden in sieben Monaten statt. Wahrscheinlich werden die Anti-Europäer stark zunehmen. Was muss getan werden, um die europäische Idee zu stärken?

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Michel Barnier
Da müssen wir reagieren. Wenn uns Europa so nicht gefällt, wie es ist, dann ändern wir es. Ich denke es gibt viele Veränderungen, die man noch machen kann. Ich bin noch nicht zufrieden. Ich werde aber auch nicht akzeptieren, dass man aufgibt, sich einigelt und sagt ‘ab jetzt kämpft jeder für sich’. Schauen wir uns die Welt doch an, wie sie ist. Da gibt es China, die USA, Russland, Brasilien, Indien – alles Länder, die keine Hilfe brauchen. Sie haben eine riesige Bevölkerung und genug Ressourcen. Sie spielen bei den ganz Großen mit. Wenn wir da mithalten wollen, dann nur als Europäer. Zusätzlich zu unserem nationalen Patriotismus sind wir Europäer. Das sage ich den Bürgern immer wieder. Um den Sorgen der Menschen zu begegnen, ihrer Wut und ihren Ängsten, brauchen wir öffentliche Debatten. Das sind meine Ideen zum Stärken der europäischen Idee.

Frédéric Bouchard, euronews
Das Neue bei dieser Wahl ist, dass jede europäische Partei ihren Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten präsentiert. Durch diese persönliche Note will man bisherige Nichtwähler motivieren. Was ist ihre Ambition?

Michel Barnier
Meine Ambition ist es, meine Arbeit gut zu machen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht werde ich wieder an den öffentlichen Debatten im Rahmen des Monats des Binnenmarkts in 2014 teilnehmen. Ich weiß noch nicht, wo genau ich mich wiederfinden werde. Das hängt von meiner Partei ab, der Europäischen Volkspartei. Wir diskutieren gerade die Möglichkeiten. Aber ich freue mich auf die Arbeit und ich werde an jeglicher Diskussion teilnehmen, auch als Bürger Europas.
Ich denke, die Wahl des Kommissionspräsidenten in die Europawahl einzubeziehen, das ist eine gute Idee. Die Bürger, die in ihren Ländern ihre nationalen Abgeordneten wählen – ich hoffe, es sind mehr als sonst – wählen gleichzeitig eine Person als Kommissionspräsidenten, die ihren politischen Überzeugungen entspricht. Ich denke das ist ein demokratischer Fortschritt.

Frédéric Bouchard, euronews
Vielen Dank, Herr Barnier.

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