"Mindestlohn kann hunderttausende Jobs kosten"

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Von Euronews
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Fünf Wochen Koalitionsverhandlung und eine letzte lange Nachtsitzung – dann dämmert für Deutschland ein schwarz-roter Sonnenaufgang herauf. Nach 1966 und 2005 gibt es die dritte “Große Koalition” in der Bundesrepublik. In Europa besonders gespannt erwartet kommt der gesetzliche Mindestlohn von 8 Euro 50 ab 2015. Firmen können Übergangsfristen bis 2017 vereinbaren. Darauf warten vor allem die mehr als fünfeinhalb Millionen Billiglöhner im Lande. Gut eine Million von ihnen kann vom Lohn für ihren Vollzeitjob nicht leben und muss deshalb als “Aufstocker” Hilfe vom Amt beantragen. Verbessert wird auch die Situation der Beschäftigten mit Zeitverträgen. Deren Lohn muss nach 9 Monaten dem der Kollegen mit Festanstellung angeglichen werden.
Die börsennotierten Unternehmen werden verpflichtet, 30% ihrer Führungspositionen mit Frauen zu besetzen.
Es kommt unter bestimmten Voraussetzungen die abschlagfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren.
Für die schwarz-roten Projekte sollen 23 Milliarden Euro ausgegeben werden. Davon 6 Milliarden für den Ausbau der Kinderbetreuung, um mehr Frauen die Ausübung eines Berufes zu ermöglchen. Die CSU-Forderung nach einer PKW-Maut auf Autobahnen für ausländische Autofahrer war besonders umstritten. Nun soll 2014 ein Gesetz verabschiedet werden unter dem Vorbehalt: Es muss sicher gestellt werden, dass die Abgabe nur ausländische Autofahrer belastet und mit dem Europarecht vereinbar ist.
Die Energiewende, also die Umstellung der Stromversorgung auf erneuerbare Energien, wird fortgesetzt. Wenn das in Deutschland scheitert, werde sich kein Land mehr an diese Herausforderung herantrauen, sagte dazu der SPD-Chef.
In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern bekommen den deutschen Pass und müssen sich nicht mehr bis zum 23. Geburtstag zwischen Deutschland und dem Herkunftsland der Eltern entscheiden. Das ist aber keine generelle Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft..

In Deutschland haben sich die Spitzen von Angela Merkels CDU/CSU und der Sozialdemokraten auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Die wichtigsten Knackpunkte waren doppelte Staatsbürgerschaft, Renten und vor allem der Mindestlohn von 8,50 Euro. Das letzte Wort über eine neue Regierung hat nun die sozialdemokratische Basis.

Sigrid Ulrich, euronews: “Kai-Uwe Müller ist Spezialist für Arbeitsmarkt und Verteilungsfragen beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, Herr Müller, ist die Kuh nun vom Eis?”

Kai-Uwe Müller: “Mit dem Koalitionsvertrag ist endlich eine Entscheidung in puncto Mindestlohn gefallen, das ist zu begrüßen. Die Debatte in Deutschland hat sehr lange angehalten, war ermüdend und hat auch zu sehr großer Unsicherheit geführt. Mit dem Ergebnis und der Lohnhöhe von 8,50 Euro bin ich persönlich nicht so zufrieden.”

euronews: “Der Mindestlohn gilt als eines der kontroversesten Themen in den Koalitiongesprächen – dabei ist nicht mal sicher, ob er den Geringverdienern nützt. Oder eher ihre Jobs vernichtet. Was dürfte er bewirken, bei Lohnhöhe, Arbeitslosenquote, Wirtschaftswachstum?”

Kai-Uwe Müller: “Die Wirkungen sind tatsächlich vielschichtig. Der Mindestlohn wird auf alle Fälle denen, die ihre Jobs behalten, höhere Löhne bringen, das ist per Definition so. Insofern trägt der Mindestlohn zur Verringerung der Lohnungleichheit bei. Bei der jetzt festgelegten Höhe von 8,50 Euro ist aber bei weitem nicht auszuschließen, dass es auch Beschäftigungsverluste geben wird. Insofern kann er denen, denen er potentiell hilft, auch schaden. Das Risiko ist für bestimmte Bereiche besonders gegeben, für Ostdeutschland, für bestimmte Branchen wie gewisse Dienstleistungsbereiche wie Einzelhandel, Gastgewerbe, auch in der Landwirtschaft.”

euronews: “Gibt es Zahlen, kann man da was schätzen?”

Kai-Uwe Müller: “Nach unseren Schätzungen dürften sich die Beschäftigungsverluste zwischen 100.000 und einer halben Million bewegen. Aber sich auf eine genaue Zahl festzulegen, ist wirklich schwierig.”

euronews: “Das Erfolgsmodell “deutscher Arbeitsmarkt” gründet nach Ansicht Vieler auf Flexibilität – diese Stärke könnte verschwinden, fürchten sogar Gewerkschafter, wenn sich die Politik in die Höhe der Löhne einmischt. 8,50 Euro pro Stunde – das ist eine politische Zahl, daran kann nicht mal mehr die geplante Expertenkommission rütteln. War das klug, sich so festzulegen?”

Kai-Uwe Müller: “Es wäre klüger gewesen, da vorsichtiger vorzugehen. Insbesondere, wenn man das Kommissionsmodell ernst nimmt. Und da wäre ein Einstieg um die 7,00 Euro deutlich vernünftiger gewesen. Man hätte genau analysieren können, ob es negative Konsequenzen gibt und den Lohn sukzessive anheben.”

euronews: “Die SPD will den Mindestlohn. Die SPD wird ihn auch bekommen,” so die Worte von Angela Merkel – war das auch ein Wink an die kritischen Nachbarländer, ja, wir tun etwas für unsere Binnennachfrage?”

Kai-Uwe Müller: “Aus meiner Sicht ist es vor allem ein innenpolitisches und ein Gerechtigkeitsthema innerhalb Deutschlands. Das war die Hauptmotivation der SPD im Wahlkampf und deshalb hatte diese Zahl auch einen so hohen symbolischen Wert. In Bezug auf die Kaufkraft sind wir als Ökonomen eher skeptisch eingestellt, weil die tatsächlichen Einkommensgewinne bei weitem nicht so groß ausfallen wie die nominalen Lohngewinne.”

euronews: “Was meinen Sie persönlich – wird die SPD-Basis zustimmen?”

Kai-Uwe Müller: “Zum Koalitionsvertrag insgesamt? Ich glaube, dass der politische Druck relativ groß ist. Und einige dieser Symbolfragen sind ja im Sinne der SPD-Klientel entscheiden worden. Insofern würde ich mal vorsichtig optimistisch sein, dass auch zugestimmt wird.”

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