Wie Migration die Wirtschaft der EU beeinflusst

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Von Euronews
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Willkommen in Rumäniens Hauptstadt Bukarest. Von hier aus werfen wir diese Woche einen Blick auf den Europäischen Binnenmarkt und die Debatte rund um sein Wachstum.

Wir sprechen mit EU-Sozialkommissar Lazslo Andor über die Freizügigkeit in Europa und wir schenken denen Gehör, die selten zu Wort kommen, Migranten aus Osteuropa, die im Zentrum hitziger Debatten stehen. Im Kern geht es uns aber vor allem darum, welche Geschäftsmöglichkeiten die neuesten EU-Mitglieder im Osten eröffnen.

20 Jahre Gemeinsamer Markt, das bedeutet, dass wir viele seiner Freiheiten für selbstverständlich halten. Hier ein Crash Kurs zur Funktionsweise des Marktes, der Wohlstand für Unternehmen und Bürger gleichermaßen sichern soll.

Beim Europäischen Binnenmarkt geht es nicht nur darum, Grenzen abzuschaffen. Er sichert auch die Freizügigkeit. 2,8 Prozent der Europäer leben in einem anderen EU-Land. Die Mehrheit von ihnen ist im arbeitsfähigen Alter, nur wenige gelten als beschäftigungslos, etwa Studenten oder Rentner.

Binnenmarkt, das bedeutet auch den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, was die Wirtschaftsleistung der EU um bis zu 3 Prozent steigert. Diese Freiheiten und aufgehobene Grenzen haben zu einem Anstieg der Exporte und ausländischen Direktivestitionen geführt, Kostenvorteile und Wettbewerb sind hoch. Das heißt: Unternehmen haben Zugang zu 500 Millionen Konsumenten. Dies ist die weltgrößte Freihandelszone, die gut 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung ausmacht.

Durch diese Vorteile sind EU-Unternehmen weltweit wettbewerbsfähig und sie können so Fachkräfte aus allen Ecken Europas einstellen. Dennoch gibt es nach wie vor Hürden, etwa in der Verwaltung, die dazu führen, dass noch nicht alles so glatt läuft, wie es sollte.

Die wirtschaftlich angespannte Lage in Europa hat zu einer hitzigen Debatte rund um die gut 14 Millionen europäischen Migranten geführt – wer sind sie, kommen sie, um zu arbeiten, oder wegen der Sozialleistungen? Am meisten wir über Roma aus Rumänien und Bulgarien gesprochen, von denen viele in Italien, Spanien und Deutschland leben, 5 Prozent von ihnen sind in Großbritannien. Ein Bericht von Giovanni Magi.

Die Debatte um Migration ist hitzig, hier in Großbritannien. Laut der Regierung stiegt die Zahl von europäischen Zuwanderern zwischen 2012 und 2013 um 60.000 auf fast 210.000 an. Der Bulgare Andrei Dawtscheff ist einer dieser Migranten. Gut ausgebildete und mit internationalem Hintergrund. Er reist zwischen seinen Arbeitsplätzen in Amsterdam und London hin und her, davor arbeitete er in den USA. Dabei wird Migranten aus Bulgarien und Rumänien oft unterstellt, sie hätten nur die Sozialleistungen im Auge.

Dawtscheff: “Diese Auffassungen sind unterschiedlich und werden oft von den Medien beeinflusst. Auf der einen Seite denken die Leute, dass Bulgaren und Rumänen herkommen, um die Sozialleistungen abzuräumen, um dann nach Hause zu gehen. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die diese Vielfalt schätzen. Wir arbeiten hart, das ist eine Chance, die uns die EU bietet, das ist wohl ein Teil der Gründungsphilosophie der Union.”

Giovanni Magi: “Die Arbeitnehmermobilität in Europa hat seit 2010 deutlich zugenommen, davor hatte sie wegen der Krise deutlich abgenommen. Vor allem südeuropäische Länder erleben eine wahre Abwanderung. Die meisten dieser Migranten sind junge, gut ausgebildete Arbeitssuchende – die dann allerdings in ihren Heimatländern fehlen, was dort für Probleme sorgt.”

Welche Auswirkungen hat die Migration von Hochqualifizierten auf Heimat- und Aufnahmeland? Dazu gibt es eine Studie.

Marco Manacorda, Wirtschaftsprodessor von der Londoner Queen Mary University: “Während die normale Theorie besagt, dass Einheimische Nachteile haben durch den Zuzug von hochqualifizierten Migranten, konnten wir keine negativen Auswirkungen feststellen. Auch die Herkunftsländer tragen Kosten, etwa wenn sie die Ausbildung bezahlt haben.”

Jobchancen in London etwa bedeuten gleichzeitig das Fehlen von Hochqualifizierten in Bulgarien. Allerdings könnten Fachleute wie Andrei dabei helfen, ähnliche Chancen in ihren Heimatländern zu schaffen.

Junge Migranten wir Andrej überweisen Geld nach Hause und helfen so beim heimischen Wirtschaftswachstum, 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Rumänien, 4,1 in Bulgarien. Zahlen zeigen, dass sie größeren Chancen haben, im Aufnahmeland einen Job zu finden. Ich habe mich mit Lazslo Andor, dem EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration getroffen und ihn gefragt, woran es denn noch mangelt, eingedenk der heftigen Kritik an einer der Grundfreiheiten der EU.

Andor
“Die EU ist durch den Beitritt mancher osteuropäischer Länder ungleicher geworden, dadurch wollen nun auch mehr Menschen diese Freizügigkeit nutzen. Das hilft dabei, das Ungleichgewicht des europäischen Arbeitsmarktes zu beheben. Gerade in Ländern wie Deutschland oder Schweden werden Fachkräfte gesucht, gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit etwa in Griechenland oder Spanien sehr hoch.”

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“Allerdings lässt sich Sozialbetrug nicht vermeiden. Wie reagieren Sie, wenn Länder wie Großbritannien und sogar Deutschland sagen, dass sie sich Sorgen machen?”

Andor
“Wenn Menschen von einem Land in ein andere ziehen, dann gehen sie nachgewiesenermaßen dorthin, um zu arbeiten. Sozialleistungen, Arbeitslosengeld, staatliche Wohlfahrt spielen eine sehr geringe Rolle. Schweden und Dänemark haben einen wesentlich weiter ausgebauten Sozialstaat als Großbritannien, dennoch gehen die meisten Migranten nach Großbritannien und Deutschland. In manchen Ländern gibt es sicher einen Unterschied zwischen der Realität und der öffentlichen Wahrnehmung der Arbeitsmigration, und man spürt die Rolle der Sozialsysteme. Wenn es große Probleme gibt, dann können die EU-Staaten gemeinsam daran arbeiten, Schlupflöcher zu stopfen, damit die Sozialsysteme nicht missbraucht werden.”

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“Müssen wir die Gesetze ändern oder neu verhandeln? Wenn die Wirtschaftsleistung unterschiedlich ist, sind auch die Sozialsysteme unterschiedlich.”

Andor
“Die Arbeitsämter können freie Stellen besser bekanntmachen, das heißt, wenn Leute in einem anderen Land arbeiten wollen, dann wissen sie schon vor der Abreise, welche freien Stellen sie zu welchen Konditionen erwarten. Allerdings bedarf es eines gewissen Niveaus an gesetzlicher Regulierung oder wenigstens einer Abstimmung bei den Sozialsystemen. Die EU muss sicherstellen, dass man etwa beim Umzug in ein anderes Land nicht seine Rentenansprüche verliert, sondern man muss sie quasi mitnehmen. Wenn man dann in Rente geht, kann man in dem Land, in dem man lebt, Rente beziehen, proportional zu dem, was man in diesem Land eingezahlt hat.”

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“Das heißt also, man muss sie Sozialsysteme aller EU-Länder irgendwie in Einklang bringen?

Andor
“Man muss die Sozialsysteme nicht vereinheitlichen. Der verfügbare Etat des Europäischen Sozialfons ist meiner Ansicht nach ausreichend. Selbst, wenn man gerne mehr Einheitlichkeit hätte, lässt sich das System nicht bis ins Detail handhaben. Das muss die Entscheidung der Einzelnen sein. Die Unternehmen sollten in der Lage sein, Arbeitnehmer aus anderen Ländern einzustellen, wenn sie das tun wollen. Es sollte keine Probleme dabei geben.”

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“Wenn man die Reaktionen auf die Personenfreizügigkeit mit denen auf den freien Kapitalverkehr vergleicht, glauben Sie, Unternehmen sind weniger persönlich als Menschen?”

Andor
“Manche Länder sind Ursprungsländer für Migration, aber sie sind Empfänger von Kapital, und manche Länder werden zu stark von ausländischen Kapital dominiert. In ihrem eigenen Land denken die Leute vielleicht, dass ausländische Investoren, ausländische Unternehmen, ausländische Unternehmer die heimische verdrängen, doch wie immer muss man das in einem größeren Kontext sehen. Die Assymetrien zwischen den europäischen Ländern wären wesentlich größer, wenn wir einzelnen Ländern einzelne Rechte verbieten würden. Wir würden eine erste und eine zweite Klasse schaffen.

Eine niedrige Unternehmenssteuer, 16 Prozent hier in Rumänien gegenüber fast 30 in Deutschland, führt dazu, dass die Unternehmen ihr Freizügigkeitsrecht nutzen. Sie kommen hierher und schaffen Jobs, in Rumänien. 70 Prozent dert rumänischen Exporte gehen in die EU. Deutschland und Italien sind die wichtigsten Partner des Landes, und, wie Giovanni Magi erklärt, deren Unternehmen kommen nicht nur wegen der Lage am Schwarzen Meer hier her, sondern wegen der billigeren und dennoch qualifizierten Arbeitskräfte.

Rumänien ist zu Italiens Internationalisierungs-Werkstatt geworden. Unternehmen aus allen möglichen Bereichen haben Niederlassungen hier aufgemacht. Sie profitieren von der guten geographischen Lage des Landes. Das Unternehmen Walter Tosto macht 100 Millionen Euro Umsatz. Die 450 Mitarbeiter stellen große Kraftwerkskomponenten her. Diese Fabrik in Rumänien kommt zu den sieben anderen des Unternehmens in Italien hinzu.

Giovanni Magi, euronews: “Diese Anlage war vor 30 Jahren eine der wichtigsten Fabriken Rumäniens. Heute gehört zu zu einer europäischen Gruppe, die mit den globlane Giganten dieses Industriezweigs konkurriert.”

Vor zwei Jahren hat das Unternehmen Walter Tosto das Kernkraftunternehmen Fecne in Bukarest übernommen. Derzeit wird die Fabrik umgebaut, hier wurden Komponenten für Atomkraftwerke in Rumänien hergestellt.

Luca Tosto von Walter Tosto: “Wir haben entschieden, in Rumänien zu investieren, da wir mit den Arbeitskräften hier etwas wettbewerbsfähiger sind. Wir stellen hier andere Produkte her als in Italien. Und tatsächlich können wir von hier aus auch italienischen Fabriken Unterstützung anbieten.”

Fecne liefert seine Waren an mehr als 50 Länder auf der ganzen Welt. In der rumänischen Anlage werden verschiedene Teile für den US-Markt hergestellt. Und auch Komponenten des neuen Atomreaktors ITER in Frankreich stammen von hier.

Aber Italien lässt nicht nur Atomreaktorteile in Rumänien bauen, sondern auch Mode schneidern. Wir reisen nach Buzău, 100 Kilometer nördlich von Bukarest.

Martelli Europe setzt jährlich 55 Millionen Euro um und hat gut 2000 Mitarbeiter. In Rumänien wird letzten Hand angelegt an Kleidung, die auch von teuren Marken stammt.

Mühsame Arbeiten, etwa das Bleichen von Jeans, es geschieht hier. Wie in China, reißen, falten oder bleichen Hunderte rumänische Arbeiter, meist Frauen, die Hosen von Hand oder in speziellen Maschinen. Genauigkeit ist entscheidend. Jedes Loch, jede Falte wird vermessen und exakt reproduziert. Dieselbe Jeans. Damit die Kosten im Rahmen bleiben, werden solche Arbeiten häufig in günstigeren Ländern außerhalb der EU gemacht. Rumänien aber kann dank billiger Arbeitskräfte die Arbeit in Europa halten.

Mauro Maria Angelini von Martelli Europe: “Es gibt eine Rückkehr zum echten Produkt, dem eigentlichen Produkt, der echten, sichtbaren Wirtschaft. Ich denke, der Prozess hat bereits begonnen, er wird in diesen Ländern bleiben und schließlich auch nach Italien zurückkehren. Denn es ist Teil unseres eigenen kulturellen Hintergrunds.”

Gemeinsam die Lücken im europäischen Binnemarkt zu schließen und Lösungen zu finden, kann die Wirtschaft auf unseren Kontinent noch weiter antreiben.

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