Ankara wirbt um die im Ausland lebenden Türken

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Wir befinden uns im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. Inhaber der kleinen Läden und Imbissstuben sind hier vor allem Türken. Sie zählen zu den rund 2,8 Millionen wahlberechtigten Türken, die im Ausland leben. Sie haben in den vergangenen Tagen ihre Stimme abgegeben, denn im Ausland wurde vom 31. Juli bis zum 3. August über den künftigen Präsidenten der Türkei entschieden. Knapp vor der Wahl hörten wir uns um. “Ich werde für einen Kandidaten stimmten, der führen kann, der die internationalen Gesetze, die Menschenrechte respektiert und der das Land auf der internationalen Bühne gut vertreten kann. Dieser Kandidat ist Ekmelletin Ihsanoglu”, meint ein Passant und ein anderer fügt hinzu: “Recep Tayyip Erdogan hat offenbar die besten Chancen. Alle werden für ihn stimmen.” Was aber nicht zuzutreffen scheint: “Ich werde für Selahattin Demirtas stimmen, weil er ein guter Politiker ist und sich für den Frieden einsetzt.” “Wir sind nur unzureichend informiert worden. Doch wir erhoffen uns das Beste von dem künftigen Präsidenten”, kritisiert ein weiterer Passant.

Die Regierung in Ankara bemüht sich seit einigen Jahren um die im europäischen Ausland lebenden Türken. Erstmals konnten diese an der Abstimmung teilnehmen, ohne dafür in die Türkei zu reisen. “Die politische Debatte ist aus der Türkei in die Mitgliedsstaaten der EU hinausgetragen worden, zu den Mitgliedern der türkischen Diaspora, die einen türkischen Pass haben. Die türkischen Politiker stellen ihre Ziele in Städten wie Brüssel vor. Die Polarisierung wird auch in diesen Gemeinschaften, die in den EU-Mitgliedsländern leben, immer stärker”, so Steven Blockmans vom Zentrum für Europäische Politikstudien. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa will zur Präsidentschaftswahl am 10. August Beobachter entsenden. Denn bei den Kommunalwahlen Ende März hatte es Anhaltspunkte für Manipulationen bei der Stimmenauszählung gegeben.

Über das Thema sprachen wir mit Amanda Paul, die als Expertin für die Denkfabrik Europäisches Politikzentrum tätig ist.

euronews: Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden bereits 2005 eröffnet, zur Zeit aber liegen sie auf Eis. Die EU hat die jüngsten Entwicklungen in der Türkei heftig kritisiert. Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei?

Amanda Paul:
Diese Beziehungen sind sehr schwierig, man könnte von einer Tragödie sprechen. In den vergangenen Jahren hat der Reformprozess in der Türkei stark nachgelassen, insbesondere im vorigen Jahr erlitten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, einschliesslich der Pressefreiheit einen Rückschlag. Die Lage wird zusätzlich dadurch verschlimmert, dass Ministerpräsident Erdogan, der zum dritten Mal amtiert, von der Macht besessen ist. Die EU verfügt über keinerlei Mittel, um den Demokratieverlust in der Türkei zu stoppen.

euronews:
Der künftige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker sagte, er erwarte nicht, dass während seiner fünfjährigen Amtszeit neue Mitglieder der EU beiträten. Schließt er auch für die Türkei die Türe?

Amanda Paul:
Zur Zeit ist der Blick der EU nach innen gewandt, denn die Wirtschaftskrise ist noch nicht überwunden. Daher gibt es jetzt überhaupt kein Interesse an einer Erweiterung. Viel wichtiger ist, dass der Reformprozess fortgesetzt wird. In der EU der 28 herrscht noch Unklarheit darüber, ob die Türkei beitreten soll oder nicht. Gleichzeitig fragt sich die Türkei selbst, ob sie beitreten soll oder nicht, was zur Folge hat, dass der Reformprozess und die Demokratisierung in der Türkei zum Stillstand gekommen sind.

euronews:
Am 10. August wird in der Türkei erstmals der Präsident durch eine Direktwahl bestimmt und die EU will die Abstimmung beobachten. Wie stellt sich diese Wahl aus der Sicht der EU dar? Wird man die Wahl Erdogans begrüßen, wie 2007 die Wahl Abdullah Güls begrüßt wurde?

Amanda Paul:
Die Europäische Union darf nicht Partei ergreifen, doch im allgemeinen ist man über die möglichen Folgen der Präsidentschaft Erdogans sehr besorgt. Denn Ministerpräsident Erdogan hat seinen Anspruch auf Führerschaft deutlich gemacht, sollte er das Amt des Staatschefs antreten. Dass er es bekommt, gilt als fast sicher. Das hieße, dass er die Türkei vom Weg der Demokratie vermutlich noch weiter abbringen würde. Seinen möglichen Wahlsieg hätte er nur einer Hälfte der Wähler zu verdanken, wobei er die andere Hälfte mit Sicherheit ignorieren würde. Das aber wäre schlimm für die Türkei, schlimm für die EU und schlimm für die gesamte Region.

Über den derzeitigen Stand der Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara sprachen wir auch mit Alperen Özdemir vom Verein unabhängiger türkischer Unternehmer und Industrieller MÜSIAD.

euronews:
Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei begannen 2005. An welchem Punkt der Beziehungen befinden wir uns heute?

Alperen Özdemir:
Von 2010 bis 2013 ist keine einziges Verhandlungskapitel eröffnet worden. Erst im November 2013 wurde das Kapitel für Regionalpolitik eröffnet. Das war ein Fortschritt. Wir denken, dass die italienische EU-Ratspräsidentschaft den Verhandlungen neuen Schwung bescheren könnte. 2014 ist für die Türkei das Jahr der Europäischen Union. Beides wird als positiv eingeschätzt. Wir hoffen, dass während der Präsidentschaft Italiens, die bis zum Jahresende dauert, zwei neue Kapitel eröffnet werden.

euronews:
Wie wird sich das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in der Türkei auf die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel auswirken?

Alperen Özdemir:
Während der Wahlkampagne zählte die EU nicht zu den Schwerpunktthemen. Darüber ist nicht viel gesprochen worden. Dafür gibt es ziemlich viele Gründe. Die Türken sind inzwischen von der EU nicht mehr so begeistert wie früher. Auch die türkischen Geschäftsleute sind heute nicht mehr so enthusiastisch wie früher. Aus einer von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen und in den vergangenen Tagen veröffentlichten Umfrage geht hervor, dass etwa 50 Prozent der Türken den Beitrittsprozess als positiv einschätzen. Andererseits wissen wir, dass die drei Präsidentschaftskandidaten den Beitritt der Türkei zur EU offen unterstützen.

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