"Antwerpen ist gefährlicher als Tel Aviv"

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Von Kirsten Ripper
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Gleich nach der Ankunft in Tel Aviv fährt der Vorortzug für 16 Schekel (weniger als 4 Euro) in die Innenstadt. Der Fahrer des Taxis, das dort morgens um 5 Uhr steht, spricht gut Englisch, meint, die Geschäfte liefen schlecht, weil die Leute in Tel Aviv nur noch das Nötigste erledigten. Aber er sei dennoch froh, zurück in Israel zu sein. Hier seien zwar die Immobilienpreise sehr hoch, und er wisse nicht, ob er sich eine Wohnung kaufen könne, aber er sagt: “Antwerpen, wo ich mehr als 20 Jahre lang gelebt habe, ist jetzt gefährlicher als Tel Aviv.” Auf die Frage, was denn in Antwerpen so gefährlich sei, meint er, dort regierten jetzt ja die Moslems, die Extremisten, das würden all seine Kontakte in Antwerpen bestätigen. Die Taxifahrt dauert nicht lang und kostet knapp fünf Euro, für so wenig Geld könne man in Belgien nicht mit dem Taxi fahren, unterstreicht der etwa 50-Jährige noch und braust davon.

Meine AirBNB-Gastgeberin ist Noya, sie ist 36 und wohnt in einer hübschen, geräumigen Wohnung in der Innenstadt von Tel Aviv – unweit der Rothschild Avenue. Die Wohnung gehört eigentlich ihren Eltern, die aber woanders wohnen. Noya ist sehr nett, hat oft Leute aus aller Welt bei sich zu Gast, und sie ist weit gereist, sie war mehrere Monate in Südamerika, in Indien, in Thailand und in Paris. Aber auch sie glaubt: “Für uns ist es in Belgien und in Frankreich jetzt gefährlich.” Mit dem “wir” meint Noya die Juden, auch wenn sie selbst nicht gläubig ist.

Das kollektive “Wir” ist besser zu verstehen ist, wenn man die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besucht. Denn das “Wir” der Israelis leitet sich ab aus den sechs Millionen Toten des Holocaust, darunter 1,5 Millionen tote Kinder – und auch Jahrzehnte später gibt es dieses Gemeinschaftsgefühl, das tief in der israelischen Seele verankert ist. Darauf ist der Staat Israel aufgebaut, erklärt Noya.

Sie glaubt, dass das Gemeinschaftsgefühl durch den Krieg in Gaza verstärkt wird (obwohl sie meint, dass es die Solidarität auch in guten Zeiten geben sollte). Mit dem Krieg gegen die Hamas ist Noya einverstanden – wie offenbar viele Israelis. Sie meint, die Menschen in Europa seien sich nicht bewusst, wie gefährlich die radikalen Muslime seien, sie unterschätzten die Gefahr. Es gebe immer mehr extreme Anhänger des Islam, die sich offen gegen Juden richteten – in vielen Staaten der Erde und jetzt auch in Europa. Man müsse sich nur die Dschihadisten ansehen. Sie meint: “Ihr werdet schon sehen…”

Nicht alle Israelis unterstützen das militärische Vorgehen. Im Museum für Moderne Kunst in Tel Aviv werden Werke des israelischen Künstlers David Reeb ausgestellt, der sich schon seit Jahren für die Palästinenser engagiert – auch indem er Videos im Westjordanland gedreht hat. Der 62-Jährige ist einer der wenigen, der gegen die Kämpfe ist.

Auch auf Facebook gibt es kritische israelische Stimmen, wie die von Ronny Eldry, der 2012 die Kampagne Isreael loves Iran ins Leben rief.

Der Krieg hat viele Touristen abgeschreckt. Dabei schreibt die JERUSALEM POST sehr zutreffend: “Tel Aviv seemed to have stepped into a bearable wartime routine.” Es herrsche “erträgliche Kriegsroutine”: Während meiner ersten drei Tage in der Stadt am Mittelmeer mussten wir drei Mal wegen eines Bombenalarms ins Treppenhaus, meistens am frühen Morgen. Dort stehen dann alle zusammen, und die Eltern versuchen, ihre kleinen Kinder mit Spielchen oder mit Vorlesen zu beruhigen. Da man nur 15 Sekunden brauchen soll, um im Treppenhaus zu sein, sind viele im Schlafanzug, die Kleinen oft nur in Windel und T-Shirt. Doch was ist das im Vergleich zu den vielen toten Kindern in Gaza.

An sie denkt auch Noya, obwohl sie die Angriffe der israelischen Armee für richtig hält. Sie selbst hat im Alter von 18 Jahren vor allem im Untergeschoss des riesigen Komplexes des Verteidigungsministeriums gearbeitet, vor dem man viele junge Frauen und Männer in Uniform sieht. Für Frauen gibt es spezielle Sandalen zur Uniform. Auch der Wehrdienst für alle schweißt die Israelis zusammen. Eine harte Zeit, in der man kaum Geld bekommt, aber durch die alle durch müssen – abgesehen von den Ultraorthodoxen. Dass die streng religiösen Israelis keinen Wehrdienst leisten und meist auch keine Steuern zahlen, das ist Noya ein Dorn im Auge. Noya hat schon an den sozialen Protesten teilgenommen, und sie erklärt, dass da die Mittelklasse demonstriert habe, diejenigen, die viel Steuern bezahlen, während alles teurer wird und der israelische Staat kaum etwas für sie tut. Sie wählt Yair Lapid, der Journalist ist mittlerweile Finanzminister, in einem Kabinett, das weiter Krieg führen will.

Nicht nur an den öffentlichen Gebäuden, auch an Wohnungen und selbst an manchen Autos und Motorrädern hängen israelische Fahnen. Bei den französischen Touristen, die offenbar die Einzigen sind, die trotz des Krieges nach Tel Aviv kommen, sind Handyschutzhüllen mit der israelischen Fahne, die auf Märkten zu erstehen sind, der Renner. Die israelische Fahne verkauft sich gut, es gibt sie sogar auf Unterhosen für kleine Jungs.

Die Fahnen an den Wohnungen hängen sowohl von schicken Balkonen als auch an heruntergekommenen Hütten. Das sind Anhänger der Rechten, erklärt mir die Inhaberin der französischen Buchhandlung, in der es Bücher, CDs und Wolle gibt. Die Französin lebt schon seit vielen Jahren in Tel Aviv, sie meint: “Hier sind meine Kinder sicher, selbst wenn sie um drei Uhr morgens nach Hause kommen. In Paris ist das nicht so.”

Kirsten Ripper

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