Rettung aus Not: Schweden hilft verfolgten Christen aus Syrien

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Von Euronews
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Krieg, Elend und blanker Terror vertreiben uralte christliche Gemeinschaften aus Syrien und dem Irak. Wohin fliehen? Zuflucht suchen in den Nachbarländern oder weit weg in Europa? Immer mehr Flüchtlinge aus Nahost suchen Asyl in Schweden.

Robert Kouki und seine Familie haben überlebt. Jetzt sind die Flüchtlinge aus dem Nordosten Syriens in Sicherheit. Sie sind
in Schweden, in Södertälje.

Die Industriestadt Södertälje ist bekannt in Nahost: 30.000 der etwas über 90.000 Einwohner Södertäljes kommen aus dem Irak und Syrien, die meisten sind syrisch-orthodoxe Christen.

Seit einem Jahr erteilt Schweden vielen Flüchtlingen aus Syrien unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigungen. 36.000 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak werden in diesem Jahr, 2014, in Schweden um Asyl bitten, schätzen die Behörden in Stockholm (Stand: Anfang Oktober 2014). Hinzu kommen etwa 20.000 Syrier, die 2014 im Rahmen der Familienzusammenführung einreisen durften. 56.000 Neuankömmlinge aus Syrien und dem Irak innerhalb von nur zwölf Monaten, das stellt den Sozialstaat auf die Probe – selbst in Schweden.

Für den kommenden Frühling 2015 rechnet Schweden mit weiteren Zuzüglern, vorallem aus dem Irak. Die schwedischen Experten gehen davon aus, dass 2015 etwa 33.500 Asylbewerber aus Syrien und dem Irak eintreffen werden, plus eine schwer im Voraus zu beziffernde Anzahl von Angehörigen, die von ihrem Recht auf Familienzusammenführung Gebrauch machen werden.

Doch zurück nach Södertälje, zurück in die kleine Sankt Gabriel Gemeinde der Syrisch-Orthodoxen Kirche. Robert Koukis Familie wird von Ayoub Stefan willkommen geheissen, dem Syrisch-Orthodoxen Priester von Sankt Gabriel, einer von sechs assyrischen Kirchen in Södertälje. Der Priester kennt die Nöte der Neuankömmlinge aus eigener Anschauung, er selber kommt aus dem Norden Syriens, hat hier in Schweden eine zweite Heimat gefunden.

In seiner Heimatstadt Al-Hasakah gründete der IT-Ingenieur Robert Kouki ein Computer-Unternehmen, hatte zehn Angestellte. “Die Leute fingen an, statt Computer das Wort Robert zu verwenden”, scherzt Robert Kouki trotz seiner Notlage. “Ich muss meinen Robert reparieren, statt: Ich musss meinen Computer reparieren.” Kurz, der Mann war gut im Geschäft. Doch dann kamen Bürgerkrieg, Anschläge, Entführungen, Internetsperren, Stromausfälle… und die Angst, als Christ demnächst im Fadenkreuz der Islamisten zu stehen. Es war eine schwierige Entscheidung, erzählt Robert Kouki. Auf einmal stehen ihm Tränen in den Augen, vorallem der Abschied von den in der Stadt verbliebenen Angehörigen fiel schwer.

Alle hier in Södertälje, auch Priester Stefan, wissen: in den kommenden Monaten werden noch mehr verjagte Christen hierher kommen, aus Syrien und dem Irak. Ayoub Stefan: “Unsere Leute, vorallem die Christen aus dem Irak, müssen Schreckliches durchmachen. Sobald die Regierung machtlos ist, sobald die Grundfesten eines zivilen Zusammenlebens zerbröckeln, ist es für die christliche Minderheit schwierig, dort zu leben. Viele unserer Leute dort wurden umgebracht.”

In gewisser Weise befinden sich die christlichen Syrer in einer komplizierten Situation, “zwischen Hammer und Amboss”, könnte man sagen. Viele unterstützten lange Zeit das Regime in Damaskus (oder unterstützen es immer noch), in der Hoffnung auf Stabilität und Sicherheit. Doch stattdessen herrschen in Syrien nun Instabilität und Unsicherheit.

Die ersten Assyrer kamen vor 50 Jahren nach Södertälje, bauten Lastwagen, arbeiteten in der florierenden Pharmabranche oder standen in einem der unzähligen Zulieferbetriebe am Band. Andere kamen aufgrund politischer Verfolgung in ihrer Heimat hierher, bauten sich in Södertälje eine zweite Existenz auf. Wegen dieser historischen Migration haben auch heute noch viele Syrer und Iraker Verwandte oder Freunde in Södertälje. Die Stadt ist ein Anknüpfungspunkt, ein vertrauter Name, kein blinder Fleck auf der Landkarte Nordeuropas, sondern ein fester Ankerplatz.

Ab 2003 kamen viele Flüchtlinge aus dem Irak nach Södertälje, in den Jahren um 2006/2007 etablierte sich im Nahen Osten das Image von Södertälje als “Fluchtburg”. Viele der damaligen Flüchtlinge erhielten allerdings keine permanente Aufenthaltsgenehmigung, noch heute findet man in der Stadt Gruppen von Irakern “ohne Papiere”, oft aus den heute umkämpften Regionen, eine Abschiebung verbietet sich daher – aus humanitären Gründen.

Im Ronna-Zentrum mitten in Södertälje gibt es alles, was man so braucht im Alltag: kleine Geschäfte, Apotheke, Bank, Frisör und eben auch die winzige Sankt Gabriel Kirche. Södertälje gilt als sozialer Brennpunkt – die Arbeitslosigkeit ist mit mittlerweile über 14 Prozent weit höher als anderswo in Schweden. Insbesonders viele Flüchtlinge sind arbeitslos – und manche Iraker haben kein Bleiberecht – obwohl sie Schreckliches durchmachen mussten. Kheder Elias ist einer von ihnen. “Die Christenverfolgung in Nahost nimmt zu”, sagt Kheder. Angesichts der islamistischen Terrorkämpfer stehen viele Christen vor der Wahl: zahlen oder sterben.

Kheder Elias kam bereits vor etwa sechs Jahren nach Schweden, so wie viele andere der meist älteren Männer im Bibelkreis der Sankt-Gabriel-Gemeinde bekam er keine Aufenthaltsgenehmigung. Sein Fall spielte sich zeitlich gesehen also vor dem heutigen Wüten der islamistischen Terrorbanden ab, wirft aber trotzdem ein aussagekräftiges Licht auf das um sich greifende System der “Schutzgelderpressungen”, der übrigens nicht nur die christlichen Minderheiten ausgesetzt sind, sondern auch Jesiden und andere religiöse Minderheiten.

“Am Anfang haben wir bezahlt”, erinnert sich Kheder Elias, “doch als die Erpresser erneut kamen, hatte ich Schwierigkeiten, Geld aufzutreiben. Daraufhin wurden ich und meine Tochter entführt. Doch ich hatte Glück: der Fahrer kollidierte mit einem entgegenkommenden Auto zusammen – ich konnte die Türe öffnen und weglaufen.” Zurück nach Hause wagte er sich daraufhin nicht mehr, er rettete sich in ein anderes Stadtviertel, kam vorläufig bei Verwandten unter, dann entschloss er sich zur Flucht, kehrte dem Irak für immer den Rücken. Die schwedischen Behörden haben ihm trotzdem kein Bleiberecht eingeräumt, sein Fall weist Ungereimtheiten auf, die Entführer trugen Polizeiuniformen, kamen im Polizeiauto. “Ich glaube nicht, dass das echte Polizisten waren”, sagt Kheder heute, “die hatten sich getarnt”. Einem der zuhörenden alten Herren treten die Tränen in die Augen, auch er hat kein Bleiberecht, “meine Angehörigen schon… Warum nur? Was soll ich denn tun? Zurück kann ich nicht.”

Anfangs bekamen die gestrandeten Flüchtlinge noch eine staatliche Unterstützung, eine Art Taschengeld um die Dinge des täglichen Bedarfs kaufen zu können, doch damit ist es vorbei. “Wir leben in bitterer Armut hier”, sagt Kheder Elias, “doch das ist immer noch besser als im Irak umgebracht zu werden”. Die anderen Männer, die sich im Eingangsbereich der Kirche um ihn geschart haben, nicken. Auch sie sind auf milde Gaben der Kirchengemeinde angewiesen. Für sie ist schwer verständlich, warum den Neuankömmlingen aus Syrien volle Unterstützung zuteil wird, ihnen, den schon seit Jahren hier “Gestrandeten” aus dem Irak aber nicht. “Wir sind alt”, sagt Kheder Elias resigniert, “wir erwarten nicht viel, eine Geste, dass wir bleiben dürfen”.

Priester Stefan aus Syrien stattet Robert Kouki einen Hausbesuch ab. Kouki kam, im Gegensatz zu Elias, legal nach Schweden. Die Familie will so schnell wie möglich in Schweden Fuss fassen. Stolz präsentiert uns Robert seine Schwedischkenntnisse, vor wenigen Tagen hat er einen von den schwedischen Behörden ausgesetzten Preis gewonnen, weil er so rasch die schwedische Sprache erlernte.

Das Euronews-Interview will er auf Schwedisch führen, nicht in seiner Muttersprache. Die christliche Minderheit im Irak und in Syrien sei systematischen Schutzgelderpressungen ausgesetzt, berichtet er: “Ich selber kannte zwei Christen, einen jungen Mann und seinen Vater, die entführt und dann ermordet wurden. – Mittlerweile ist es so, dass die Entführer unterschiedslos gegen alle vorgehen: gegen Arme, Angehörige der Mittelklasse, Reiche… Ich bekam richtig Angst, nicht nur um mein eigenes Leben – sondern vorallem um das meiner Kinder.”

Andererseits betont Kouki aber auch, dass er als Christ unzählige muslimische Freunde hatte – und immer noch hat. Zwar kann er nicht von Schweden nach Syrien telephonieren, doch manchmal klappt es umgekehrt und einer seiner alten Freunde kann über Satelittentelephon kurz eine Verbindung aufbauen. “Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Moslems und Christen, nein, sie verläuft zwischen bewaffneten Extremisten und schutzbedürftigen Minderheiten.”

Roberts Töchter Merella und Adella sind zehn und vierzehn Jahre alt. Sie sind jung, lernen schnell, gehen in Södertälje zur Schule, konnten sich rasch einen neuen Freundeskreis aufbauen. “An die Bombardierungen kann ich mich noch erinnern”, sagt die schwarzhaarige Merella. “Wir hatten Angst auf dem Schulweg, wir hörten Schüsse”, berichtet ihre rothaarige Schwester. Doch für Merella und Adella gehört Syrien zur Vergangenheit. Ihre Zukunft sehen sie in Schweden. Nur in Schweden. Und dafür lernen und büffeln Sie, von morgens bis abends. Die Schulnoten können sich sehen lassen. Neulich wurde Geburtstag gefeiert, Merella wurde zehn, eingeladen wurden vorallem schwedische Freundinnen. Eine bewusst gewählte Strategie der Eltern: sie wollen, dass Ihre Kinder dazu gehören, sich problemlos zurechtfinden in der neuen Heimat, in Schweden.

“Seit meiner Ankunft in Schweden vor einem Jahr lerne ich jeden Tag mindestens zehn neue Wörter”, sagt Adella, “und mit meinen Cousins und Cousinen, die schon länger hier leben, spreche ich nur Schwedisch.” Verlassen wir Robert, es ist Schlafenszeit, Merella und Adella sind müde.

Am kommenden Tag treffen wir uns mit Ibrahim. Vor sechs Monaten kam er aus Syrien und spielt seitdem in der Jugendmannschaft der Assyrischen Superstars. Die Kicker aus Södertälje sind schwedenweit bekannt: die A-Mannschaft spielte vor Jahren kurz in der Ersten Liga, heute quält sie sich durch die Zweite Liga und fürchtet den Abstieg. Vielleicht helfen ja die Talente aus Syrien und dem Irak? Ein Blick auf das Spielfeld weckt Zweifel, da wird ziemlich gebolzt… Die meisten jungen Spieler sind, wie Ibrahim, Christen aus Nahost – doch auch einige Muslime spielen mit im Team. In Schweden gilt das Toleranz-Prinzip, in Syrien und Irak scheint es zunehmend zu verblassen.

Ibrahim Touma: “Die christliche Minderheit in Syrien steht unter realem Druck. Christlich gekleidete Frauen sind sexuellen Agressionen ausgesetzt, christliche Männer, die offen das Kreuz auf der Brust tragen, werden als ungläubige Aussenseiter behandelt und ausgegrenzt.”

Ibrahims Familie erhielt eine Aufenthaltsgenehmigung, Ibrahim konnte legal einreisen. Sein Fussballfreund Aho reiste hingegen illgal aus Syrien aus, über die Türkei, Griechenland, Lettland (in Riga verbrachte er einige Monate in Haft) – für jede Etappe kassierten die Schlepper extra. “Mein Vater hatte eine gute Arbeit und Geld”, sagt Aho Gabriel. “Um nach Schweden zu gelangen, musste meine Familie den Schleuserbanden 12.000 Euro zahlen, nur für mich.” Auch sein Bruder wurde geschleust. Da er Soldat war, musste er den Schleusern mehr als das Doppelte bieten. “Doch meine Familie hatte Angst, dass meinem Bruder oder mir etwas angetan werden könnte, aufgrund der Tatsache, dass mein Bruder beim Militär war”, begründet Aho die Flucht aus Syrien. “Ich möchte meine Eltern nachkommen lassen, wenn irgend möglich”, sagt er. Schweden erreichte er als Minderjähriger, in Södertälje wohnt er bei Verwandten.

Wir sprechen mit Ninous Toma, dem Jugendtrainer von Assyriska Föreningen: “Seit dem Auftauchen der Islamisten und ihrem sogenannten Kalifat hat sich die Situation grundlegend gewandelt: die wollen die Christen aus der Region vertreiben, so schnell wie möglich. Die Angst ist allgegenwärtig, innerhalb der christlichen Minderheit. Die ganze Region steht in Flammen.” Ninous Toma ist schon sehr lange in Schweden, er kam auf dem Umweg über Baden-Württemberg hierher. Das Fussball-Engagement sieht er als konkrete Eingliederungshilfe, denn irgendwo müssen die Jugendlichen und jungen Männer ihre überschüssige Energie ja austoben können. “Es ist interesssant zu sehen, dass Reibereien und gelegentliche Rempeleien öfters durch hier geborene Jugendliche mit Migrationshintergrund ausgelöst werden, nur selten oder fast gar nicht durch Neuankömmlinge.” Sein Ziel: Regeln aufstellen, Regeln respektieren, den Toleranzgedanken wiederbeleben… und natürlich viele, viele Tore.

Ibrahim lebt in einem Vorort Södertäljes. Er ist glücklich, es bis hier geschafft zu haben. Singend geht er durch das enge Treppenhaus der Sozialwohnungssiedlung am Stadtrand. Seine Familie lebt etwas beengt, das Appartment wird von zwei Familien geteilt. Doch alles ist pickobello aufgeräumt und blitzblank. Ibrahim, sein kleiner Bruder, seine kleine Schwester, seine Mutter – alle wirken heiter, gelöst, zufrieden. Man spürt es förmlich: hier hat die Angst kein Zuhause.

Wir fragen Ibrahim, warum er Syrien verlassen hat. “Ein Verwandter von uns wurde von der terroristischen Al-Nusra-Front entführt, als er unterwegs war”, berichtet er. “Die Al-Nusra-Leute haben angekündigt, ihm den Kopf abzuhacken. Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist. Meine Familie hatte Angst, deshalb haben wir das Land verlassen.” Jetzt sind sie in Södertälje, die Angst ist verschwunden.

Södertälje hat eine sozialdemokratische Bürgermeisterin, Boel Godner. Doch bei den jüngsten Wahlen legte die Anti-Einwanderungs-Partei kräftig zu, auch in Södertälje. Godner versucht im Interview, sich einerseits von der extremen Rechten klar abzugrenzen, plädiert aber inhaltlich ebenfalls für eine gleichmässigere Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Schwedens. Heute ist die Gesetzeslage so, dass alle Flüchtlinge sich dort niederlassen können, wo sie möchten. Es reicht, die Adresse eines Bekannten oder Verwandten vorzulegen. “Da sollte man genauer hinschauen”, schlägt die sozialdemokratische Bürgermeisterin vor, “ob der Wohnraum ausreichend ist”. Es mache keinen Sinn, stillschweigend zu akzeptieren, dass Flüchtlinge in Kellerwohnungen oder in bereits überfüllten Wohnquartieren Unterschlupf finden. “Andere Gemeinden sollen auch ihren Teil der Aufgabe übernehmen”, sagt Godner. Also eine Abschaffung der “Wohn-Freiheit”? Die neue Koalitionsregierung in Stockholm wird sich die Anregungen aus Södertälje aufmerksam anhören, vielleicht diskutieren, doch eine Gesetzesänderung in Richtung “Residenz-Pflicht” ist wohl eher unwahrscheinlich.

Und welchen Ratschlag möchten sie den EU-Nachbarn geben, Frau Godner? “Habt weniger Angst vor Flüchtlingen!”, kommt die spontane Antwort, “es wird schon klappen, wenn Ihr die aufnehmt. Kümmert euch um die Kinder! Investiert in das Schulsystem! Die Kinder der Vertriebenen müssen eine echte Chance bekommen, richtig gut die Sprache des Aufnahmelandes lernen, dann bauen sich keine Probleme auf.”

Und dann ist da noch die Frage, ob den Flüchtlingen denn nicht besser vor Ort, in der Region geholfen werden sollte? Warum die Flüchtlinge in Europa aufnehmen? Einen kurzen Moment überlegt die Bürgermeisterin von Södertälje, zögert mit der Antwort, formuliert dann aber umso bestimmter: “Das Grundrecht auf Asyl darf nicht angetastet werden, das ist ein Menschenrecht! Wer Asyl sucht, in Schweden oder in einem anderen Land der Europäischen Union, dem darf man den Weg nicht versperren.” Es sähe besser aus in dieser Welt, gäbe es weniger verschlossene Pforten und Türen für Flüchtlinge. Und dann möchte die Bürgermeisterin noch etwas loswerden: “Es geht hier bei diesem Konflikt nicht um Christen oder Moslems, es geht, was den Irak betrifft, schlicht und einfach um Terrorismus, um Kriminalität. Mit einem Religionskrieg hat das alles nicht das Geringste zu tun.”

In Sankt Jakob, der riesigen Syrisch-Orthodoxen Kathedrale von Södertälje, treffen wir uns mit Afram Yakoub, dem Vorsitzenden des Verbandes der Assyrer in Schweden. Er möchte, dass den Flüchtlingen vor Ort geholfen wird, im Nahen Osten. Ein Massen-Exodus der Christen aus Syrien und dem Irak nach Europa oder nach Amerika wäre das Ende einer mehrere Tausend Jahre alten Kultur.

Afram Yakoub hat ein gut vernetztes Kommunikationssystem aufgebaut, er hat direkte Verbindung zu Informationsquellen in der Krisenregion. “Nach meinem derzeitigen Kenntnisstand verlassen derzeit jeden Tag etwa zehn bis zwanzig Familien den Irak. Wir werden mit Effizienz und System aus dieser Gegend vertrieben und ausgelöscht. Unsere zentrale Forderung an Politiker und Regierungen: den Assyrern sollte vor Ort geholfen werden, sie sollten dort bleiben im Mittleren Osten.” Und wie sollte sie aussehen, diese Hilfe? “Die humanitäre sollte da ankommen, wo sie gebraucht wird, wir brauchen politische Hilfe – also Druck auf Bagdad und Erbil – und wir sollten auch militärische Hilfe für die Assyrer in Betracht ziehen”, meint Yakoub.

Yakoub schaltet eine Skype-Verbindung zu einem Freund im Irak, auch er ein Christ. Der frühere Ladenbesitzer flüchtete sich vor dem Ansturm der islamistischen Terror-Gangs aus Mossul nach Dohuk im kurdischen Teil des Irak. Aus Sicherheitsgründen möchte er anonym bleiben, als Decknahmen wählt er “Elia”.

“Wie ist das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen? Werden die Christen diskriminiert?”, fragt ihn Yakoub. “Glaub nicht”, antwortet Elia, “dass das alles erst jetzt begonnen hat. Christen haben ihren Glauben hier nie frei ausleben können. Selbst zur Zeit von Saddam Hussein nicht: bei den Freitagsgebeten in der Moschee wurde das Christentum schlecht gemacht, christliche Traditionen, Werte und der christliche Glauben wurden angegriffen.”

“Was denkst Du über eine Bewaffnung der Assyrer im Irak?”, fragt Yakoub den Skype-Partner im Irak. “Klar,”, meint Elia, “die sollten Waffen bekommen und das Recht, sich selbst zu verteidigen.”

Doch auch die Situation der Moslems sei katastrophal, beispielsweise in Mossul, seiner Heimatstadt, “da gibt es derzeit weder Wasser noch Strom und die Terroristen verhaften jeden, den sie für einen Gegner halten”.

Am nächsten Morgen treffen wir noch einmal Ibrahim, vor der Schule, sein Fussballtrikot hat er eingetauscht gegen gepflegte Stadtkleidung. Er will in Schweden bleiben, für immer. Sein Traum: Architekt. Im Sprachkurz geht es heute um Kleidung, Schmuck und Frisur. Lena Boström, die engagierte Lehrerin, schafft es mit viel Humor, wirklich jeden einzelnen der meist schon älteren Schüler zum Reden zu bringen.

Wir fragen Ibrahims Sprach-Lehrerin nach Ihrem Integrations-Rezept: wie kann die Eingliederung der Flüchtlinge in die Gesellschaft erleichtert werden?

Lena Boström: “Zu Beginn erkläre ich die schwedische Gesellschaft. Wir machen viele Ausflüge, entdecken die Hauptstadt Stockholm, versuchen uns in Alltagssituationen zurechtzufinden. Viele Flüchtlinge riskieren, sich abzukapseln. Meine Aufgabe ist es, den Horizont zu erweitern, damit sie mitmachen können in dieser Gesellschaft.”

Auch Robert Kouki treffen wir noch einmal. Heute ist er mit seiner Karriere-Beraterin an der Universität Stockholm verabredet. Das schwedische Arbeitsamt und die Universitäten des Landes haben eine gemeinsame Initiative gestartet, mit der ausländischen Akademikern der Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert werden soll. Ein halbes Jahr gibt es Bewerbungstraining: Wie verfasse ich einen Lebenslauf auf Schwedisch? Wo und wie suche, finde und kontaktiere ich potentielle Arbeitgeber? Was sind meine Stärken und Schwächen? Welche Kompetenzen bringe ich mit? Was kann ich? Was will ich? Wer braucht mich?

Robert Kouki braucht nicht lange nachzudenken: “Ich habe zwei Träume”, lächelt er sanft, “einen kurzfristigen und einen langfristigen. Kurzfristig möchte ich meinen Lebensunterhalt sichern, als Computer-Experte beispielsweise oder als PC-Lehrer.Langfristig hoffe ich, hier in Schweden mein eigenes Unternehmen gründen zu können – so wie ich es auch in meinem Herkunftsland, in Syrien, getan habe.” Klappt das, so wird Kouki eines Tages etwas sehr wertvolles für Schwedens Gesellschaft leisten: er wird Arbeitsplätze schaffen. Sein Unternehmergeist ist ungebrochen, man traut es ihm zu, sich hier in Schweden eine solide Zukunft aufzubauen.

Horea Arizcurinaga, seine Karriereberaterin, sieht das ähnlich:
“Wir müssen uns klarmachen, dass viele Flüchtlinge wertvolle Qualifikationen mit nach Schweden bringen. Die Unternehmen hier im Land können davon nur profitieren.”

Seit Beginn des Jahres stieg die Zahl der syrischen Flüchtlinge in Schweden um fast 140 Prozent (Stand: Januar 2014 bis Ende September 2014), die Zahl der irakischen Asylbewerber nahm um 80 Prozent zu. In Bezug auf die Bevölkerungszahl nimmt Schweden soviele Asylbewerber auf, wie sonst kein anderes EU-Land.

Bonus interview: Boel Godner

Die schwedische Stadt Södertälje nimmt viele Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak auf. Euronews-Reporter Hans von der Brelie sprach mit der sozialdemokratischen Bürgermeisterin von Södertälje. Das Interview (auf Englisch) können Sie hier hören.

Bonus interview: Afram Yakoub

Der Vorsitzende des Verbandes der Assyrer in Schweden, Afram Yakoub, fordert die Einrichtung einer Schutzzone für Assyrer im Irak. Euronews-Reporter Hans von der Brelie traf Afram Yakoub in Södertälje/Schweden. Das Interview (auf Englisch) können Sie hier hören.

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