Alltag in Konfliktzeiten: Von Charkiw nach Kiew

Alltag in Konfliktzeiten: Von Charkiw nach Kiew
Von Euronews
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Charkiw, die zweitgrößte Stadt in der Ukraine, liegt direkt an der Konfliktzone im Osten des Landes. Es war die erste Anlaufstelle für Tausende Kriegsflüchtlinge aus der Donbass-Region. Wie für Serhiy Kurchenko, der vergangenen Monat mit seinen zwei Söhnen und seiner Frau aus dem Umland von Donetzk nach Charkiw zog. Sie ließen alles zurück: ihre Verwandten sowie die Wohnung mit zerborstenen Fensterscheiben, Wänden und Balkonen. Kurchenko erinnert sich an den Dauerbeschuss: “Wir hörten Granaten und Explosionen überall um uns herum. Wir schliefen im Keller. Die Toilette war aber in unserer Wohnung. Wir mussten dann sehr schnell hochrennen – und nur, wenn es draußen ruhig war.”

Obwohl ihm bei der Suche nach einer Unterkunft geholfen wurde, kann er keine langfristigen Pläne machen. Er will zurück nach Hause, aber das ist noch zu gefährlich. Für Sicherheit und Frieden zu sorgen, ist seiner Meinung nach die Hauptaufgabe des neuen Parlaments. “Unsere Wirtschaft muss sich erholen und die Regierung diesen Krieg beenden. Und alle Gesetze sollen endlich zur Anwendung kommen,” meint Kurchenko.

Wir sind in Pisochyn, eine wenige Minuten von Charkiw entfernte Kleinstadt. Es gibt über tausend Schulkinder. Die einen wählen Russisch, die anderen Ukrainisch als Unterrichtssprache. Auch 40 Kinder aus dem Konfliktgebiet drücken hier die Schulbank. Die Russischlehrerin Svitlana Lukyanenko ist überzeugt, die Sprache sei hier nie ein Problem gewesen. Deswegen habe sie die Ursache des Konflikts nicht nachvollziehen können, als er sich entzündete. Lukyanenko erklärt, “es ist doch ganz egal, welche Sprache jemand spricht. Wir sind freundlich zu jedem. Es hat noch nie Probleme gegeben, weil jemand aus dem Westen oder Osten des Landes kommt.”

In den letzten sechs Monaten hat sich vieles geändert, meint Svitlana. Doch trotz des Krieges besteht weiter die Möglichkeit, das Land zu reformieren. Das erhofft sich die Lehrerin vom neuen Parlament. Wachsende Preise, vor allem für Immobilien, sollen ihrer Meinung nach mit höheren Gehältern einhergehen. “Wir haben natürlich viele Sorgen. Zunächst die wachsenden Nebenkosten – Heizkosten werden im November anfallen. Der Gedanke daran bedrückt uns jetzt schon. Preise für Warmwasser und Gas sind stark in die Höhe gestiegen. Die Rechungen werden sehr hoch sein,” befürchtet die Lehrerin.

Charkiws politische Aussichten liegen noch in einer Grauzone. Bei der Parlamentswahl kandidieren ebenfalls einige örtliche prorussische Politiker und die Verbündeten der früheren Regierung. Das letzte Wort haben die Wähler.

Was Charkiw während des Konflikts zusammenhält, erklärt der bekannte ukrainische Schriftsteller Serhij Schadan: “Es gibt zwei Faktoren. Zum einen, wie sich die Gemeinde selbst mobilisierte. Weil die Menschen aufgerüttelt wurden, konnten die Separatisten keine Kontrolle über die Stadt gewinnen. Und Menschen, die nicht pro-ukrainisch waren, unterstützten auch nicht die Separatisten. Das ist einer der wichtigsten Faktoren und der Hauptunterschied zu anderen ostukrainischen Städten. Einmal stand die Stadt gefährlich nahe vor einer Machtübernahme. Das hat die Menschen auf die Straße getrieben. Charkiw stand für die Einheit des Landes ein. Lokale Behörden schafften es, die Lage unter Kontrolle zu behalten. Wir wissen nicht, was hätte passieren können, wenn die Polizei nicht im April eingegriffen hätte.”

Auf die Frage, was sich im Laufe des Konflikts in den Köpfen der Menschen geändert hat, meint er: “Auf der einen Seite ist es das Erscheinungsbild der Stadt. Alles ist dort blau und gelb wie die ukrainische Fahne. Doch es hängen nicht nur Flaggen auf Zäunen und Mauern, sondern es gibt auch interne Veränderungen, die natürlich wichtiger sind. Viele Leute, die sich nie mit dem Land identifizieren konnten, fühlen sich mit einem Mal als ukrainische Staatsbürger. Ihnen mag vielleicht nicht gefallen, was hier geschieht, aber sie wollen ihr Land verteidigen. Sonst läuft die Ukraine Gefahr, wirklich alles zu verlieren.”

Von Charkiw nach Kiew. Drei Monate ist es her, dass Hanna und ihre Tochter von Donetsk in die Hauptstadt gezogen sind. Die Mutter wollte verhindern, dass ihre Tochter neben zerschellenden Granaten aufwächst. Zunächst kam die Familie bei Verwandten in Kiew unter, um später in eine eigene Wohnung zu ziehen. Aber einige Vermieter haben Vorurteile gegenüber möglichen Mietern aus dem Osten. Wie auch einige Arbeitgeber. Horycheva beschwert sich, “bei einem Vorstellungsgespräch sagte man mir, “in Donetsk wird sich die Lage bessern, sodass Sie nach Hause können.” Ich antwortete, “und was, wenn mir der Job nicht gefällt? Ich könnte jederzeit kündigen. Welchen Unterschied macht das?”

Viele Flüchtlinge haben Glück im Unglück und finden Unterstützung. Wie Volodymyr und Diana Rodikov, sie haben zehn Kinder, fünf von ihnen sind adoptiert. Die Familie hat Donbas im Juni verlassen und ist nach Kiew gezogen. Nach zahlreichen Briefen an die Behörden wurde überraschend ein neues Flüchlingsheim geplant. Der Familienvater freut sich: “Es ist ein Geschenk des Himmels. Dass jemand ein Haus für uns baut, damit haben wir überhaupt nicht gerechnet – ebenso wenig wie mit dem herzlichen Empfang.”

Während sie auf ihr neues Zuhause wartet, lebt die Familie in einer Behelfsunterkunft. Freiwillige sorgen für Essen und warme Kleidung.
Solche Vereine sind in letzter Zeit zu Hauf entstanden. Sie unterstützen Flüchtlinge aus dem Donbass und der Krim und schicken militärische Ausrüstung. Jeden Tag gebe es mindestens zwei bis drei Anrufe bei der Nichtregierungsorganisation, um Sachspenden oder Geld abzugeben. Die Summen reichen von zwei bis zu 40.000 Euro. Jede Woche senden Freiwillige zwei bis drei LKW mit militärischer Ausrüstung nach Donbas. Behördengänge sind ihnen zu umständlich. Deshalb tun sie sich in Eigenregie zusammen, um die Armee zu unterstützen.

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