Ein Jahr danach: Familien der Opfer vom Maidan warten weiter auf Gerechtigkeit

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Von Euronews
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Der Platz der Unabhängigkeit in Kiew, kurz Maidan. Er ist zum Symbol geworden. Zwischen dem 18. und 20. Februar vergangenen Jahres wurden hier mehr als 100 Menschen getötet – von Kugeln der Bereitschaftspolizei. Der Vater von Ihor Kulschitskiy war einer von ihnen. Er war 64 Jahre alt. “Die Polizisten sind vom Europaplatz gekommen. Sie haben Panzerfahrzeuge benutzt, um die Barrikaden zu rammen”, berichtet Kulschitzkiy. Die zweite Gruppe kam von der anderen Seite, zwei oder drei von ihnen waren bewaffnet. Sie benutzten Granaten. Mein Vater wurde in die Brust getroffen, eine Kugel traf ihn nahe am Herzen.”

Die Proteste gegen Präsident Viktor Janukowitsch hatten schon drei Monate angedauert. Auf den Fotos von den Toten ist auch Volodomyr Kulschitskiy zu sehen. Sein Sohn erklärt, warum er sich an den Protesten auf dem Maidan beteiligt hat: Kulschitzkiy: “Er hatte einen Sinn für Gerechtigkeit. Er verstand die einfachen Dinge. Wenn man arbeitete, sollte man ein angemessenes Gehalt bekommen. Wenn man stahl, musste man dafür ins Gefängnis. In der Ukraine kann man in ein- oder zwei Jahren Milliarden verdienen. Andererseits kann man ein Leben lang arbeiten und sich noch nicht einmal das Nötigste leisten. Das hat meinen Vater aufgebracht.”

Auf den Videobildern vom 20. Februar 2014 sieht man die Einheiten der Bereitschaftspolizei, die auf die Menge schießen. Bis heute wurde deswegen niemand verurteilt. “All diese Polizisten sagen, sie hätten nur Befehle ausgeführt. Wenn man ihnen gesagt hätte: ‘Springt von der Brücke’, dann wären sie aber nicht gesprungen. Wenn jemand Staatsanwalt ist, muss er eine Anklage erheben können, die auf Beweisen basiert. Es gibt eine Menge Beweise, auch hier auf dem Video. Ich habe den Eindruck, dass jemand die Polizisten schützen will”, meint Kulschitzkiy.

Lediglich zwei Polizisten, die verdächtigt wurden Protestierende getötet zu haben, wurden festgenommen. Ihr Prozess sollte in dieser Woche beginnen, aber er wurde verschoben. Die Richter argumentierten, sie seien wegen ihrer Beteiligung an einem anderen Fall befangen – für die Familien ein Hohn.

Am 10. Februar dieses Jahres ernannte Präsident Petro Poroschenko Viktor Schokin zum neuen Generalstaatsanwalt der Ukraine. Er hat versprochen, dass für Gerechtigkeit gesorgt werde. “Natürlich werden alle Schuldigen der Justiz zugeführt. Einige Namen sind bereits bekannt. Wenn ich Ihnen diese Namen aber jetzt nennen würde, dann würde das zu Problemen führen. Diese Fälle werden in Kürze der Justiz übergeben,” sagt er.

Die Gefühle der Familien der Opfer gegenüber den ukrainischen Justizbehörden schwanken zwischen Skepsis und Hoffnung. Sie warten immer noch auf Gerechtiglkeit.

“Wir müssen siegen, nicht verhandeln”

Maria Korenyuk sprach für euronews mit Volodmir Parasyuk, der bei den Ereignissen vor Ort war.

Maria Korenyuk, euronews: “Wir sprechen nun über die Ereignisse von der Instytutska Straße vor einem Jahr. Bei uns ist der frühere Anführer einer Selbstverteidigungseinheit vom Platz Maidan und heutige Parlamentsabgeordnete Volodomir Parasyuk. Können Sie uns in Erinnerung bringen, was Sie damals gesehen haben? Wie haben Sie sich gefühlt?”

Volodymyr Parasyuk: “Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich an Flüsse von Blut von Protestierenden, die die Straße hinabliefen. Die Leute saßen dort an der Brüstung und hatten Einschüsse in Armen und Beinen. Sie schleppten sie abwechselnd weg. Wir schleppten Leichen und standen in der Instytutska Straße. Die Bereitschschaftspolizei versuchte uns niederzuschießen. Es war unmöglich, die Straße weiter hochzugehen. Das einzige, was wir tun konnten, war, unsere Waffenbrüder dort heraus zu bekommen. Ich erinnere mich an alles, ich sehe es jede Nacht in meinen Albträumen.”

euronews: “Wie war es mit den Protestierenden? Was hatten sie in den Händen? Gab es dort Waffen?”

Parasyuk: “Lassen Sie uns ehrlich sein. Zu Beginn der Proteste auf dem Maidan hatte niemand Waffen. Aber als die Polizei anfing zu schießen, haben die Leute Waffen mitgebracht. 90 Prozent derjenigen, die auf der Instytutska Straße waren, hatten nur Stöcker oder Holzschilde. Dieses Material hat sie nicht geschützt, das war bereits eine Rebellion. Die Revolution wurde zu einem Aufstand.”

euronews: “Dort wurden Dutzende Protestierende getötet. Jetzt sterben Tausende, Soldaten und Zivilisten, im Osten der Ukraine. Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden sie etwas anders machen. Hätten Sie versucht, sich auf halbem Weg mit den Autoritäten zu treffen, um diese Toten zu verhindern?”

Parasyuk: “Es gibt eine einfache Wahrheit: Wir müssen den Feind schlagen, ein- für alle Mal. Wir sollten nicht verhandeln, wir sollten siegen. Das ist einer der Gründe dafür, dass in unserem Land nicht alles richtig läuft, weil unsere Politiker nicht die kollektive Stärke unseres Volkes zu schätzen wissen. Was würde ich anders machen? Ich würde wohl eine aktivere Rolle bei den Wahlen spielen, die auf die Revolution vom Maidan folgten, um die Meinung der Leute zu verändern. Dennoch haben es einige junge Leute ins Parlament geschafft – und das ist schon ein Sieg für sich.”

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