Türkischer EU-Minister: "Wir brauchen eine Historikerkommission"

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Wir sprechen mit Volkan Bozkır, dem türkischen Europaminister über das Jahr 1915, warum die Türkei in diesem Zusammenhang die Bezeichnung„Völkermord“

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Wir sprechen mit Volkan Bozkır, dem türkischen Europaminister über das Jahr 1915, warum die Türkei in diesem Zusammenhang die Bezeichnung„Völkermord“ ablehnt und wie das Land seine Beziehungen zu Armenien normalisieren will. Sein Tenor: Die Türkei fordert weiterhin, ein internationales Expertengremium einzusetzen, das die Ereignisse des Jahres 1915 bewerten soll.

Bora Bayraktar, euronews: Es ist der 24 April 2015. Es gibt immer noch Streit zwischen der Türkei und Armenien über das, was vor 100 Jahren passiert ist. Wenn jemand dabei das Wort „Völkermord“ in den Mund nimmt, akzeptiert die Türkei das nicht. Warum?
Volkan Bozkır: Weil man damit die tausend Jahre alte gute Beziehung zwischen den Türken und den Armeniern auf ein einzelnes Jahr reduziert, nämlich 1915. Danach dreht sich alles nur noch um das Wort „Völkermord“.Die geschichtliche Erinnerung sollte aber fair sein. Im ersten Weltkrieg wurden Millionen Menschen getötet. Vielleicht sollte man die Ereignisse von 1915 besser aus einer längeren historischen Perspektive betrachten, vielleicht von 1870 bis 1920. Das war für viele Menschen eine schmerzhafte Zeit, nicht nur für unsere armenischen Brüder. Damals haben auch Türken gelitten, genauso wie Kurden. Viele Menschen in dieser Region haben gelitten. Wer immer sich darüber informieren will: die Archive über das osmanische Reich sind offen, und zwar nicht erst seit gestern. Wir haben vor 20 Jahren damit begonnen, in der Zeit von Präsident Özal, die Archive zu öffnen. Es gibt Archive darüber in Paris, London und Berlin. Ich weiß sehr genau, wie sorgfältig dort die Dokumente aufbereitet wurden. Dabei zeigt sich eindeutig, daß es absolut keine Anordnung zum Völkermord gab. Deshalb lehnen wir diese Bezeichnung ab. Und wir sagen: Historische Ereignisse sollten nicht als politische Druckmittel verwendet werden.

Bora Bayraktar: Sie beziehen sich damit jetzt auf die jüngste Äußerung des europäischen Parlaments und auf die Entscheidungen anderer Parlamente, wie beispielsweise Österreich?
Volkan Bozkır: Das europäische Parlament hat eine Entscheidung getroffen und damit eine Aussage gemacht. So etwas gab es schon einmal. nämlich 1987. Als das europäische Parlament eine ähnliche Aussage getroffen hat, ging das Ganze bis vor den europäischen Gerichtshof. Man wollte die Sache damals juristisch fixieren. Das Gericht lehnte das ab. Das ist ein klares Statement.

Bora Bayraktar: Der rote Faden der Argumentation in der Türkei ist: Lasst Historiker über die Sache entscheiden. Aber in Armenien sagen die Menschen: Auch Historiker sind in ihrer Einschätzung nicht frei. Sowohl armenische als auch türkische Wissenschaftler könnten ihre Nationalität ja nicht einfach abstreifen. Das Ergebnis wäre nicht objektiv. Stimmen sie dem zu?
Volkan Bozkır:Diese Frage ist wirklich rhetorisch. Es zeigt, wie Armenien an die Sache herangeht. Die Türkei übt keinen Druck auf ihre Historiker aus. Wir haben unsere Archive geöffnet. Wir zwingen niemanden, sich die Unterlagen anzusehen und in unserem Sinne zu bewerten. Wir sagen etwas völlig anderes. Die Archive sind offen, Wissenschaftler aus der ganzen Welt können kommen und sich ein Bild machen: Kanadier, Schweden, Deutsche, Amerikaner und Armenier. Man sagt, es gibt noch wichtige historische Unterlagen in Boston. Diese Unterlagen sind aber nicht öffentlich. Armenien hat seine Archive auch nicht geöffnet. Türkische Wissenschaftler dürfen nicht in armenische Archive gehen und dort forschen. Der armenische Präsident lässt armenische Wissenschaftler nicht in den Archiven über die osmanische Zeit forschen. So ist die Situation. Deshalb sagen wir, daß wir eine internationale Kommission brauchen. Lasst die Historiker über den Fall beraten! Für die türkische Republik haben unser Präsident und unser Ministerpräsident klar und deutlich gesagt, daß sie das Urteil einer solchen Ηistorikerkommission akzeptieren würden. Ich denke, Armenien weiß, welches Ergebnis bei der Arbeit einer solchen Kommission herauskäme. Deshalb lehnen sie ein solches Vorgehen ab.

Bora Bayraktar: 2009 gab es zuletzt den Versuch einer Annäherung zwischen Armenien und der Türkei. Als es aber um die Enklave Bergkarabach ging, geriet der Prozess erneut ins Stocken. Was ist für eine Normalisierung des Verhältnisses nötig?
Volkan Bozkır: Zunächst muss Armenien damit aufhören, Land von der Türkei zu fordern. Dafür gibt es keine Grundlage. Danach muss Armenien der Einrichtung einer Kommission von Historikern zustimmen und damit aufhören, im Zusammenhang mit 1915 immer wieder von „Völkermord“ zu sprechen. Diese Chance ist bisher vertan worden. Das ist aber die einzige Möglichkeit, die Normalisierung voranzubringen. Wenn wir den Normalisierungsprozess neu anstoßen wollen, kommen auch neue Aspekte auf die Agenda, so ist das in der Politik. Daß sich Armenien von dem besetzten Land in Aserbaidschan zurückziehen muss, ist ein solcher Aspekt.

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