Varela: In der Krise suchen Portugiesen nach individuellen Lösungen

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Die fast schon sprichwörtliche Ruhe und Milde der Portugiesen schlug vor knapp drei Jahren in Wut um: Es waren verzweifelte Proteste gegen die

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Die fast schon sprichwörtliche Ruhe und Milde der Portugiesen schlug vor knapp drei Jahren in Wut um: Es waren verzweifelte Proteste gegen die strikten Sparmaßnahmen, die die Regierung durch das Parlament besiegeln ließ.

Portugal verhängte sich nie dagewesene Steuererhöhungen, die von der Troika vorgegeben wurden. Ihre Steuerlast zählte von da an zu den höchsten in der EU. Nach der Wahlschlappe der Sozialisten im Juni 2011 übernahm eine neue Mitte-Rechts-Regierung die Führung.
Seitdem hat die Zahl der Arbeiter, die nur den Mindestlohn – also 505 Euro – erhalten, um 70% zugenommen. Das ist zur Zeit jede fünfte Arbeitskraft.

Die Sparmaßnamen lösten eine massive Auswanderung aus. Seit 2011 hat eine halbe Million Portugiesen das Land verlassen. Sehr viele, berücksichtigt man, dass in Portugal nur rund 10 Millionen Menschen leben. Viele junge Leute – selbst mit Universitätsabschluss – stehen vor der Wahl: resignieren oder auswandern. Laut Umfragen 60% der 15 bis 24-Jährigen kein Interesse an Politik.

Doch der wirtschaftliche und soziale Abstieg, den viele durchmachen, hat die politische Landschaft in Portugal nicht verändert. Keine neue Partei ist entstanden. Glaubt man den Umfragen, kann sich Ministerpräsident Pedro Passos Coelho Chancen auf eine neues Mandat ausrechnen, während die Sozialisten unter Antonio Costa womöglich stärkste Oppositionspartei werden.

euronews:
“Raquel Varela ist Historikerin für Zeitgenössische Geschichte an der Neuen Universität in Lissabon. Kommen wir sofort zum Wesentlichen: Warum ist in Portugal keine neue Partei aus den sozialen Unruhen hervorgegangen wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien, obwohl es auch hier für sie breite Unterstützung geben würde?”

Raquel Varela, Historikerin:
“Dafür habe ich mehrere Erklärungen: Erstens: Wir haben einen Sozialpakt. Mögliche Konflikte wie durch Arbeitsplatzverlust in Fabriken oder Unternehmen werden durch die Familien abgefedert.
Die Tatsache, dass junge Leute wesentlich länger bei ihren Eltern wohnen, garantiert eine gewisse soziale Stabilität. Aber das ist ein Phänomen, das man in den letzten 30 Jahren auch in Spanien, Griechenland oder anderen südeuropäischen Ländern beobachten kann. Ein weiterer Grund sind umfangreichere soziale Unterstützungsmaßnahmen. Damit meine ich nicht den Wohlfahrtsstaat, denn Wohlfahtsstaat bedeutet alles für alle. Viele soziale Maßnahmen wie der Mindestlohn scheinen die hohe Arbeitslosenquote abzufedern und soziale Konflikte zu entschärfen. Der große Unterschied in Portugal ist, dass unsere Revolution sehr spät erfolgte, die eine große Kommunistische Partei und andere soziale Bewegungen nach sich zog. Die portugiesische Kommunistische Partei hilft dabei, unsere repräsentative demokratische Regierung zu erhalten.”

euronews:
“Ende 2012 gab es eine für portugiesische Verhältnisse eher seltene Welle von Protesten und Gewalt. Hält man die Wut in Portugal eher zurück und drückt sie durch eine geringe Wahlbeteiligung aus?”

Raquel Varela:
“Die Wahlenthaltung in Europa um die Jahrhundertwende ist ein hochinteressantes Thema. Es ist ein Phänomen der institutionalisierten Kritik; es geht darum, die Vorstellung zu kritisieren, dass Wahlen sehr geringe Auswirkung auf das Leben der Menschen haben.
Und das alles vor dem Hintergrund von internationalen Institutionen, die – gestützt von nationalen Institutionen wie Parlamenten – über Maßnahmen entscheiden, statt das Volk darüber abstimmen zu lassen.
Das gilt zum Beispiel für die Europäische Kommission. All das sorgt für eine tiefe Erschütterung der repräsentativen Demokratie, die meiner Meinung nach aber nicht von Dauer sein wird.
Wir stehen nicht kurz vor dem demokratischen Zusammenbruch. Die sozialen Bewegungen fordern dass Demokratie nicht nur formell sein darf. Es muss eine soziale und wirtschaftliche Demokratie geben, eine strategische Kontrolle von Investitionen und großen Unternehmen.”

euronews:
“Drückt sich in der Tatsache, dass die Bevölkerung altert und junge Menschen massiv auswandern, eine gewisse Resignation aus? Dass es keinen Bruch mit der nationalen Regierung und den europ äischen Institutionen gibt?”

Raquel Varela:
“Es gibt eine, vielleicht zwei Generationen, die in den 80er Jahren erwachsen wurden, also während des Sozialpakts, einem Modell, das Konflikte ausschloss. Es gab die vorherrschende Idee, dass sich Menschen politisch nicht engagieren müssen.
Politische Parteien zu hinterfragen, hat nicht dazu geführt, neue Parteien zu schaffen.
Stattdessen sucht man individuell nach Lösungen: wie die Unterstützung durch Familien, auf die die meisten Arbeitslosen in Portugal zurückgreifen können, oder wie Auswanderung – wahrscheinlich war die Quote noch nie höher als derzeit, selbst nicht in den 60ern. Individuelle Lösungen überschneiden sich mit kollektiven Lösungen.”

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