Swetlana Alexijewitsch: "Alle russischen Schriftsteller, die den Nobelpreis bekommen haben, wurden verfolgt."

Swetlana Alexijewitsch: "Alle russischen Schriftsteller, die den Nobelpreis bekommen haben, wurden verfolgt."
Von Euronews
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Swetlana Alexijewitsch, die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin, ist eine der Stimmen, die sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin

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Swetlana Alexijewitsch, die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin, ist eine der Stimmen, die sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erheben. Euronews gegenüber sagte die Weißrussin, dass alle russischen Schriftsteller, die den Nobelpreis bekommen haben, verfolgt worden seien.

Natalia Richardson-Vikulina, euronews:
“Was hat sich für Sie geändert, seit Sie den Literaturnobelpreis bekommen haben?”

Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin:
“Es ist nicht viel Zeit vergangen. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt. Mein Alltag hat sich allerdings sehr verändert. Ich treffen viele Menschen und reise viel.”

euronews:
“Haben Sie das Gefühl, dass Sie jetzt mehr Einfluss in der Gesellschaft haben?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Nun, meine Überzeugungen haben sich nicht geändert. Ich denke noch das gleiche wie vorher. Aber als ich z.B. bei der ersten Pressekonferenz gefragt wurde, was ich von der Situation in der Ukraine halte, habe ich gesagt, dass das Land besetzt wird und dass Putin einen Bürgerkrieg anzettelt. Man kann überall einen Bürgerkrieg anzetteln. In Weißrussland könnte man z.B. die Polen gegen die Weißrussen aufhetzen, das ist ohne weiteres möglich. Ich habe das schon immer gesagt, aber Herr Peskov, Putins Pressesprecher, hatte bislang nie darauf reagiert. Jetzt sagte er plötzlich, dass Frau Alexijewitsch nicht über alle Informationen verfüge. Aber Tatsache ist, dass es nichts ändert. Sie können den Nobelpreis drei Mal gewinnen, die autoritären Herrscher werden uns trotzdem nicht zuhören.”

“Unser größtes Kapital ist das Leiden” – Swetlana Alexijewitsch bei ihrer Nobel-Vorlesung https://t.co/u9xeEOpRM9pic.twitter.com/DxaG9xBfIp

— DKultur (@DKultur) December 8, 2015

euronews:
“Wie hat der weißrussische Präsident Lukaschenko auf ihren Preis reagiert?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Er hat mich schließlich beglückwünscht. Aber Gorbatschow sowie der deutsche und der französische Präsident waren ihm zuvorgekommen. In Weißrussland fanden zu diesem Zeitpunkt Präsidentschaftswahlen statt. Es waren sehr viele ausländische Beobachter im Land. Sobald die Wahlen vorüber und die Beobachter abgereist waren, hat Lukaschenko gesagt, dass ich mein Land schlechtmachen würde. Es hat sich also nichts geändert. Alles bleibt beim alten.”

euronews:
“Die Nachricht, dass Sie den Literaturnobelpreis bekommen, hat die russische Gesellschaft gespalten. Viele sagen, dass Sie den Preis nur bekommen haben, weil Sie Putin kritisieren. Hat diese Reaktion Sie überrascht oder haben Sie damit gerechnet?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Nein, damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich dachte nicht, dass die Menschen so reagieren würden, insbesondere die Schriftsteller. Ich dachte nicht, dass die russische Gesellschaft so schwer krank ist. Aber alle russischen Schriftsteller, die den Nobelpreis bekommen haben, wurden verfolgt: Bunin, Solschenizyn, Brodsky und Pasternak. Es ist wirklich erstaunlich.”

euronews:
“Vielleicht geht es nicht nur um Putin. Vielleicht hat es vielen Russen nicht gefallen, dass Sie so viele wunde Punkte der russischen Gesellschaft berührt haben. Vielleicht missfiel ihnen das?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Es gibt viele Gründe. Erstens bin ich aus Weißrussland, aus einem kleinen Land, das viele Russen nicht ernst nehmen. Sie sagen mir, dass die weißrussische Sprache nur ein russischer Dialekt sei. Ich habe den Eindruck, dass die russische Gesellschaft sich nicht gegenüber der Welt geöffnet hat. Die ersten Misserfolge nach der Perestroika haben dazu geführt, dass das Land die Welt abgelehnt und sich wieder verschlossen hat. Das Wort “liberal” wurde zu einem Schimpfwort. Viele Russen teilen Putins Vision eines großen Russlands, das von Gegnern umzingelt ist. Dieses Bild ist immer noch in den Köpfen der Menschen. Wenn man sich das einmal überlegt, in nur ein paar Monaten war es möglich, Brüder gegeneinander aufzuhetzen, Russen gegen Ukrainer. Das war vorher undenkbar. Meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater ist Weißrusse. Und es gibt viele Menschen, bei denen es ähnlich ist.”

“Putin kennt das Volk besser als wir Intellektuellen” Famoses Gespräch mit Swetlana Alexijewitsch in DerSPIEGEL</a> <a href="https://t.co/9lWApNGkDR">pic.twitter.com/9lWApNGkDR</a></p>&mdash; Christoph Lehermayr (Lehermayr) December 7, 2015

euronews:
“In Ihren Büchern beschäftigen Sie sich mit dem Schicksal der Menschen während und nach der Zeit der Sowjetunion. War es wirklich natürlich, dass die Menschen sich wieder der Kirche zugewandt haben? Und kann man heute in Russland zwischen Religion und Propaganda unterscheiden?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Nach der Perestroika wurden die Menschen von der sowjetischen Ideologie befreit. Diese Ideen waren sehr stark und weit verbreitet. Die Russen waren es gewöhnt, einen starken und einheitlichen Staat zu bilden. Und dann sind die Menschen in die Kirche gegangen. Ich weiß, dass unter ihnen sehr viele gute und ehrliche Menschen sind. Auch interessante Persönlichkeiten. Aber sehr schnell, nach nur zehn Jahren, ist die Kirche von damals verschwunden. Die Kirche wurde Teil der Propaganda. Es gibt jetzt eine Art Verbindung zwischen dem Staat und der Kirche. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich über manche Äußerungen schockiert bin. Der Erzpriester Wsewolod Tschaplin kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit des Moskauer Patriarchats. Er sagte vor kurzem, dass die Zeit des Friedens und des Überflusses Gott sei Dank bald vorüber sei. Es würde dem russischen Volk nicht guttun. Die Russen müssten Opfer bringen und leiden. Was soll das? Es ist primitiv, nichts weiter.”

Viele hier haben das noch vor sich. #Swetlana#Alexijewitschpic.twitter.com/CGg9Yj5Dh4

— Oliver Pink (@OliverPink1) November 8, 2015

euronews:
“Viele fordern die Freilassung der ukrainischen Kampfpilotin Nadija Sawtschenka, die in Russland inhaftiert ist. Ist Nadija für Sie ein Symbol der Freiheit und der Hoffnung für die Ukraine?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Ja, diese Frau hat mich beeindruckt. Von Anfang an, sobald ich sie gesehen habe. Ich weiß nicht, ob Sie sich an ihr erstes Verhör erinnern und an die Würde, die sie ausstrahlte. Sie war umgeben von Männern, die ziemlich arrogant waren und sich ihr gegenüber sehr rüpelhaft benahmen. Aber sie blieb ganz ruhig und sagte: “Ja, ihr könnt mich umbringen, aber kann euch versichern, dass die gesamte Ukraine gegen euch ist. Sie sagte das sehr ruhig. Das hat mir gefallen. Ich glaube, sie dachten sich, dass sie nur eine einfache Frau sei. Sie wollten sie irgendwie benutzen, und dann waren sie plötzlich mit einer starken Persönlichkeit konfrontiert, mit einer Jeanne d’Arc.”

euronews:
“Glauben Sie, dass die Ukraine eine Zukunft in Europa hat?”

Swetlana Alexijewitsch:
“Ich denke schon. Ich war vor kurzem in der Ukraine. Ich habe die Kiew-Mohyla-Akademie besucht. Ich war auch auf dem Maidan-Platz und in dem provisorischen Museum dort. Ich habe mir die anderen Besucher angesehen. Ich sah die Gesichter all dieser jungen Menschen, und ich sah ihren Wunsch, in einem anderen Land zu leben. Ich glaube, die Ukraine ist der erste Nachfolgestaat der Sowjetunion, der versucht, die Nabelschnur mit Russland zu durchschneiden und in eine andere Welt zu gehen, nach Europa. Aber dieser Versuch endete blutig. Russland ist einfach nicht bereit, loszulassen. Was ist Russland ohne die Ukraine? Es ist nicht mehr das große Russland, von dem die Russen träumen. Die Ukraine wird frei sein. Aber es sollte weniger Blut vergossen werden.”

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