Ulrich Tilgner: "Ich sehe noch keinen Frieden in Syrien"

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Ein Frieden in Syrien ist vorerst nicht in Sicht.

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Ein Frieden in Syrien ist vorerst nicht in Sicht. Davon geht der Journalist und Autor Ulrich Tilgner aus. Er gehört zu den renommiertesten Nahost-Experten im deutschsprachigen Raum. Jahrelang berichtete er für verschiedene Sender, Agenturen und Zeitungen aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. 2003 wurde er für seine Berichte aus Bagdad mit dem Hanns-Joachim-Friedrich-Preis für Fernsehjournalismus ausgezeichnet. Wir haben mit ihm über die aktuelle Lage in Syrien gesprochen, über die Rolle der USA, Europas, über Flüchtlinge und über die Arbeit der Medien.

“Regime wird Assad nicht gehen lassen”

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Herr Tilgner, Aleppo ist wieder in der Hand Assads, es wurde ein Abkommen zur Evakuierung von Zivilisten und Kämpfern aus Ost-Aleppo geschlossen. Ist damit auch ein Ende des Krieges in Syrien in Sicht?

Ulrich Tilgner
Nein. Denn ein Teil des Abkommens besteht ja darin, dass die Kämpfer, die die letzten Stellungen im Zentrum von Aleppo gehalten haben und dort eingekreist waren, jetzt in andere Gebiete evakuiert werden, in denen weiterhin gegen Assad gekämpft werden soll. Der amerikanische Außenminister John Kerry hatte in den vergangenen Tagen in Paris gesagt, der Kampf gegen Assad würde weitergehen. Es komme darauf an, dass es eine politische Lösung für den Konflikt gebe, denn jetzt zeichne sich keine Lösung für den Konflikt ab. Auf der einen Seite haben Kämpfer des IS die Stadt Palmyra erobert, auf der anderen Seite ziehen andere Rebellengruppen aus Aleppo ab, von denen man im Einzelnen gar nicht weiß, wer sie sind.

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Kerry fordert eine politische Lösung, ist diese denn in Sicht?

Ulrich Tilgner
Nein. Die Opposition sagt zwar, sie wolle ohne Vorbedingungen verhandeln, womit also die alte Forderung aufgegeben wurde, die Verhandlungen bisher erschwert hat: Assad müsse zurücktreten. Aber letztlich will man den Sturz von Assad, und die Regierung in Damaskus will nicht, dass Assad abtritt. Ich glaube – und das ist ganz wichtig für das Verständnis der Verhandlungsprobleme: Es geht nicht darum, dass Assad irgendwo Exil bekommt. Er könnte in Russland oder wo auch immer Exil erhalten. Aber dann würden Tausende seiner Mitarbeiter im Land bleiben, und dann droht ihnen die Nacht der Abrechnung. Daher ist meine Einschätzung: die werden Assad gar nicht gehen lassen.

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Heißt das, es geht gar nicht so sehr um Assad?

Ulrich Tilgner
Es ist falsch, wenn man das ganze nur von Assad abhängig macht. Es geht um das Regime an sich, und dieses Regime hat jetzt mehr und mehr Städte im Land unter Kontrolle, das war ja das militärische Ziel. Jetzt ist ein Rückschlag in Palmyra erfolgt. Aber auch da werden die russischen Flugzeuge zusammen mit der syrischen Armee den IS irgendwann zurückdrängen. Und dann hat Assad im Grunde alle wichtigen Zentren außer vielleicht Deir ez-Zor und die Gebiete im Norden des Landes. Aber er hat dann große, zusammenhängende Gebiete und die wichtigsten Siedlungsräume unter Kontrolle. Und die Opposition wird dann praktisch im Guerillakrieg wieder von klein anfangen und in den Gebieten an der türkischen, der libanesischen und der jordanischen Grenze kämpfen. Da sind die Familien in den Flüchtlingslagern auf der anderen Seite der Grenze, und die jungen Männer kämpfen. Das ist glaube ich das Muster, was man in der Zukunft sehen wird.

“USA wissen nicht immer, wen sie unterstützen”

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In Aleppo, auch das ist in den Berichten oftmals untergegangen, haben vor allem radikale Islamisten gegen Assad gekämpft. Jetzt wurden sie evakuiert. Werden die sich mit den anderen Oppositionsgruppen überhaupt vertragen?

Ulrich Tilgner
Das kann ich nicht beurteilen. Es gibt ja Hunderte von unterschiedlichen Gruppen, die teils nur lokal existieren und die sich natürlich über Verstärkung freuen. Die Opposition ist breit gefächert und hat eine breite Unterstützungsfront. Auf der einen Seite Saudi-Arabien, das ja auch Gruppen unterstützt, die von den USA nicht gefördert werden. Auf der anderen Seite gab es immer wieder Berichte, dass die Lieferung von Waffen und Ausrüstung durch Gebiete erfolgen muss, die von Radikalen kontrolliert werden, die man nicht unterstützten möchte, und dass die sich dann ihren Anteil an dieser von westlichen Staaten bereitgestellten Ausrüstung holen oder einen Anteil davon einfach beschlagnahmen. Das waren immer wieder die Befürchtungen der Amerikaner. Und die Finanzierung durch Saudi-Arabien erreicht eben auch Gruppen, die von den Amerikanern abgelehnt werden. Inzwischen ist in Syrien eine Gemengelage entstanden, die kein Mensch mehr überblicken kann. Und das ist auch das Problem der USA: Sie helfen Gruppen, ohne genau zu wissen, wen sie unterstützen und wer letztlich Teile dieser Hilfe erhält.

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Glauben Sie, Syrien wird zerfallen?

Ulrich Tilgner
Mit der Rückeroberung von Aleppo durch die Regierungstruppen ist eigentlich der Grundstein dafür gelegt, dass die Regierung in Damaskus langsam aber sicher das gesamte Territorium Syriens kontrollieren wird und will und von der Forderung, dass sie alles kontrollieren, nicht abrücken wird. Russland unterstützt das. Faktisch ist das Land heute geteilt. Auf der einen Seite die Kurden-Region im Norden des Landes, die autonom ist. Weiter südlich Gebiete, die vom IS kontrolliert werden. Dann das Kernland, das nach wie vor von der Regierung kontrolliert wird, und dann die einzelnen Bereiche, die von den Assad-Gegnern kontrolliert werden – und schließlich das Gebiet um Tartus, das unter russischer Kontrolle steht. Das sind unterschiedliche Einflussgebiete in Syrien, die man schlecht vereinen kann. Und diese Vierteilung wird von der Regierung nicht akzeptiert, wird von Russland nicht akzeptiert, und deshalb werden sie auch keine Friedens- und Verhandlungslösung akzeptieren, wenn die Rebellen ihre Gebiete behalten wollen.

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Kann eine Versöhnung des Landes unter Assad überhaupt gelingen?

Ulrich Tilgner
Ich sehe noch keinen Frieden. Es hängt natürlich auch davon ab, wie sich der neue amerikanische Präsident Donald Trump mit Russland einigen wird, denn dort liegt der Schlüssel für die Befriedung Syriens. Die Iraner werden eine von Russland favorisierte Lösung mittragen, und die Regierung in Damaskus muss letztlich solch einer Lösung zustimmen, aber die kommt nur zustande, wenn sich Russland und die USA einigen. Und ob das im kommenden Jahr passieren wird, da muss man abwarten. Wenn das nicht passiert, geht der Krieg weiter. Der Schlüssel zum Frieden liegt in Moskau und in Washington, und nur in der Einigung zwischen beiden wird er erreicht werden können.

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Wie zuversichtlich sind Sie, dass das mit Trump gelingt?

Ulrich Tilgner
Das kann ich nicht einschätzen. Ich glaube, persönlich, dass die Kämpfe zurückgehen werden, dass die USA möglicherweise ihre Unterstützung für die Rebellen zurückfahren werden, aber dass Russland daran interessiert ist, dass Assad einen völligen Sieg erringt. Das wollen natürlich auch die Iraner. Und dann wird Syrien Wahlen organisieren und Assad wird schleichend zurückgezogen, aber das Regime wird bleiben. Das wäre mein Szenario für die Entwicklung der Zukunft. Aber kein spektakulärer Frieden, bei dem dann Rebellen und der IS und die Kurden und die Regierung in Damaskus an einem Tisch säßen.

Europas Interesse in Syrien? Die Flüchtlinge

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Welche Interessen verfolgt Europa in Syrien? Hat Europa eigene Interessen oder ist es eingeklemmt zwischen den Großmächten im Osten und Westen?

Ulrich Tilgner
Europa kann sich nicht richtig entscheiden. Auf der einen Seite gab es eine große Euphorie bei der Unterstützung der Assad-Gegner, auf der anderen Seite ist klar: Je mehr die syrische Regierung kontrolliert, desto mehr Flüchtlinge werden zurückkehren, desto mehr wird der Druck in der Flüchtlingsfrage abnehmen. Und das ist das Hauptaugenmerk der Europäer. Die europäischen Staaten haben eigentlich keine einheitliche Syrien-Politik. Sie sind einheitlich darin, dass sie den Zustrom von Flüchtlingen unterbrechen wollen. Und wenn Assad sich als Partner anbieten wird, die Leute ins eigene Land zurückzuholen und man dort irgendwelche Erfolge sieht, dann wird man auch Assad unterstützen. Aber nicht, weil man Assad liebt. Die Flüchtlingsfrage wird das Verhältnis zu Syrien dominieren. Und da sind natürlich allen Taktiken Tür und Tor geöffnet, und da hat jedes europäische Land eine andere Sichtweise.

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War es ein Fehler des Westens, sich so klar gegen Assad zu stellen?

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Ulrich Tilgner
Das ist schwer zu sagen. Es gab 2013 eine Phase, in der der Sturz Assads unmittelbar bevorzustehen schien. Das war eine Zeit, in der ganze Teile seiner Armee überliefen. Die Freie Syrische Armee, die FSA, war 2012 eine starke Kraft. Damals haben ganze Armeeverbände, haben hohe Offiziere, die Seite gewechselt. Das war der Höhepunkt von Assads Schwäche. Damals hat Iran ihn gerettet. Selbst die Energieversorgung wurde durch den Iran sichergestellt. Damals hatte Assad sehr große Probleme. In dieser Situation konnte man mit einem Sturz Assads rechnen. Und ich schätze, wenn der diplomatische Vertrag in der Atomfrage zwischen dem Iran und dem Westen eher gekommen wäre, hätte Assad politisch nicht überlebt. Dass dieses Regime überlebt hat, ist politisch beeindruckend und zeigt eben, dass man vielleicht in Europa nicht immer die Einschätzung hat, die notwendig wäre, um die Lage wirklich beurteilen zu können.

Alles wegen Öl und Gas?

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Es gibt immer wieder Vermutungen, der Krieg in Syrien werde um Öl geführt oder wegen einer Gaspipeline Katars. Ist an solchen Vermutungen etwas dran?

Ulrich Tilgner
Also, die Ölfrage spielt mit Sicherheit keine entscheidende Rolle, denn Syrien verfügt einfach nicht über die Ölvorräte, die notwendig wären, um auf dem Weltmarkt eine Bedeutung zu haben. Das syrische Öl ist wichtig für die Entwicklung des Landes, aber nicht für den Weltölmarkt. Und die Gaspipeline ist ein Luftschloss von Verschwörungstheoretikern. Da wird sehr stark überzogen, und es gibt leider sehr viele Menschen, die nach wie vor die Entwicklung im Nahen Osten durch die Öl- und Gasbrille betrachten und von da aus zu völlig verzerrten Einschätzungen kommen. Die Gasproduktion von Katar wird von US-Firmen kontrolliert, und das geförderte Gas wird als Flüssiggas in die USA geliefert.

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Würde man wegen Öl und Gas Kriege führen?

Ulrich Tilgner
Natürlich. Es kann sein, dass deshalb Krieg geführt wird. Aber es gibt in Syrien so viele andere Gründe, die dazu geführt haben. Ich glaube, viel wichtiger für das Ausbrechen des Bürgerkrieges war die Angst Saudi-Arabiens vor einer Umwälzung der politischen Systeme, die in Straßenprotesten gefordert wurde. Es gab Proteste in Damaskus, in Deraa, in Idlib, in Homs und in Aleppo. Das war der Beginn der Unruhen gegen Assad. Das war die Jugend in den Städten. Das ist eine völlig andere Gruppe gewesen als die Kämpfer heute. Die Kämpfer heute sind sehr islamistisch orientiert. Das ist nicht die junge Generation der Städte, die gegen Assad die Proteste begonnen hat. Und dieses Umschwappen vom Protest der Straße in den großen Städten in einen Bürgerkrieg im Hinterland, der ist von Saudi-Arabien gefördert worden. Die Zerrüttung Libyens ist ja das Beispiel, was passiert, wenn man militärisch gegen einen Diktator eingreift und sich mit Stämmen und islamischen Aufständischen verbündet. Genau das ist in Syrien wiederholt worden. Da hat es diese Unmenge von Toten unter der Zivilbevölkerung gegeben. Der Auslöser waren Straßenproteste. Das hat mit Öl nichts zu tun, das sind politische Gründe gewesen. Öl und Gas spielen möglicherweise eine Rolle. Aber sie sind nicht der Auslöser und der Hauptgrund. Viele Leute sagen, ihr seid auf dem Auge der Energieversorgung blind, die Kriege im Orient werden geführt, um Gas und Öl in die Welt zu bringen. Aber ich halte das für absoluten Unsinn, da es derzeit nicht mehr stimmt.

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Und was halten Sie von den immer wieder auftauchenden Vermutungen, die Proteste in der arabischen Welt seien vom Westen, von westlichen Geheimdiensten, heimlich initiiert und organisiert worden?

Ulrich Tilgner
Das ist – glaube ich – auch falsch. Westliche Geheimdienste können nicht Millionen Menschen mobilisieren, es sei denn, die Leute wollen das. Gerade bei der Bewegung in Kairo konnte man erkennen: Das war die städtische junge Generation. Die hat die Konsequenz gezogen aus dem Scheitern der Amerikaner im Irak und in Afghanistan. Nach diesen Erfahrungen, und anfangs angespornt durch die US-Regierung, hat sie nach dem Motto gehandelt: Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir das selbst machen. Dass viele Parteien und Regierungen im Westen das politisch unterstützt haben, ist etwas anderes. Aber denen fehlt die Kraft, das auszulösen, davon gehe ich aus. Und dass die Gegner dieser Proteste sagen, das wird aus dem Westen organisiert, ist ja völlig klar. Für die Iraner ist jeder Protest, der auf die Straße kommt, vom Westen entfacht, weil man diese Art von Protesten im eigenen Lande unterdrücken möchte. Das sind politische Argumente, die mit der Wirklichkeit in keiner Weise übereinstimmen müssen.

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Hätte der Westen sich in Syrien heraushalten müssen?

Ulrich Tilgner
Aus der Rückschau wäre das natürlich am richtigsten gewesen. Und in der ersten Phase hätte man die Proteste unterstützen müssen. Die Straßenproteste sind ja nur halbherzig unterstützt worden. In Tunesien wurde Ben Ali gestürzt, ohne dass im Westen wirklich begriffen wurde, was passiert ist. Als Mubarak gestürzt wurde, hat der saudische König Obama angerufen und gesagt, das hättet ihr nicht zulassen dürfen. Ihr hättet Mubarak halten müssen. Da ist dieser Frontwechsel entstanden, dass der Westen gehemmt war, die Straßenproteste zu unterstützen. Dann haben die Saudis selbst Militärs nach Bahrain geschickt, sie führen den Krieg im Jemen. Im Jemen hat die Opposition ein Jahr lang vor der Universität in Sanaa campiert. Und die Unterstützung aus dem Westen ist gleich null gewesen. Das ist die Tragik, dass die Leute, die eigentlich Demokratie, Fortschritt, soziale Gerechtigkeit und Freiheit wollen, keine Unterstützung des Westens erfahren haben. Die amerikanische Militärhilfe an Ägypten ging weiter. Und wer hat dann gegen die Moslembrüder geputscht, die immerhin eine gewählte Regierung stellten? Das war die Armee. Wer hat den Putsch mit bezahlt? Das waren die Saudis. Sie sehen, die Spur führt immer in diese Richtung, dass man eine Demokratisierung in der Region nicht möchte, und der Westen kapituliert vor den reichen arabischen Golfstaaten. Das ist glaube ich das Hauptproblem. Die Iraner haben eigene Interessen, die Iraner wollen Bündnispartner in der Region sammeln und unterstützen daher jeden, der sie unterstützt. Das ist eine Politik gegen den Westen, genau wie Russland. Russland ist stark in Syrien, weil man dort einen Bündnispartner gefunden hat, mit dem man den Westen ärgern kann. Und wenn der Bündnispartner langfristig zum festen Verbündeten wird, dann nutzt man diese Chance und wird sich meiner Meinung nach auch von Herrn Trump nicht davon abbringen lassen.

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Aber es heißt doch immer, der Westen setze sich für Demokratie im Nahen Osten ein.

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Ulrich Tilgner
Die Idee, dass der Westen demokratische Verhältnisse im Orient will, die kann man sich abschminken. Die Amerikaner haben gezeigt, dass sie unfähig sind, die entsprechenden Gruppen zu unterstützen. Die Chancen hätten sie gehabt, in Afghanistan, im Irak. Man kann ja sehen, welche Regierungen dort an die Macht gekommen sind: alte Oppositionsgruppen. In Afghanistan waren es zum Teil die Bürgerkriegsparteien, die schon gegen die Sowjetarmee gekämpft haben. Die Warlords, die Kriegsfürsten, die hat man unterstützt. Das sind Leute, die man in den Neunzehnhundertachtzigerjahren aufgebaut hat. Und das sind nun die Leute, die heute der afghanischen Befriedung entgegenstehen. Die Gruppe, die ein Land regieren können, das ist die junge Generation. Sie ist nirgendwo, weder in Bagdad noch in Afghanistan, an der Macht beteiligt worden. Und als die junge Generation auf die Straße gegangen ist, hat man sie nicht wirklich unterstützt.

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Auch die Europäer wollen keine Demokratie im Nahen Osten?

Ulrich Tilgner
Das ist ein vorgegebenes Ziel. Letztlich können Sie ja heute sehen: Die Interessen der europäischen Politik im Orient sind geprägt durch die Flüchtlingsfrage. Früher waren sie geprägt durch ein Wohlverhalten gegenüber den USA: Es gibt eine sehr gute Studie in Norwegen, in der die Afghanistan-Politik des Landes untersucht wurde. Danach war der Hauptpunkt für das Eingreifen Norwegens in Afghanistan war nicht die Situation in Afghanistan, sondern man wollte dem Bündnispartner USA gefallen. Ich würde mal die These wagen, in Deutschland war es genau so. Bündniserwägungen gegenüber den USA waren den Politikern viel, viel wichtiger als die konkrete Lage in dem Lande, in das die Soldaten geschickt wurden. Das ist die bittere Wahrheit. Und so können Sie keine demokratischen Verhältnisse errichten.

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Ist diese Bündnistreue aber nicht schlicht Realpolitik?

Ulrich Tilgner
Das ist keine Realpolitik. Mir gegenüber hat mal ein EU-Diplomat den Begriff genannt: “policy of pretention”. Also eine vorgegaukelte Politik. Man redet über Afghanistan, meint aber im Grunde die USA. Man will den USA gefallen und tut in Afghanistan das, was den USA gefällt. Sie können sehen: Die Fehler im Irak, in Afghanistan, sind von allen westlichen Staaten gleich gemacht worden, auch weil die Staaten Europas in den Fußstapfen der USA unterwegs waren.

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Wird zu sehr auf militärische Lösungen gesetzt?

Ulrich Tilgner
In Afghanistan gibt es 700.000 Bewaffnete. Die kann das Land nicht bezahlen. Afghanistan hat eine Sollstärke von 400.000 Soldaten. Die wird nicht erreicht, weil es in dem Land so viele Fahnenflüchtige gibt. Da sind Sollstärken im Sicherheitsapparat angestrebt worden, die das Land überhaupt nicht unterhalten kann, das kann die afghanische Wirtschaft nicht leisten, da müssen jedes Jahr sechs Milliarden an Unterstützung erfolgen, nur damit der Sicherheitsbereich aufrecht erhalten werden kann. Das heißt, man hat dem Land ein Konzept übergestülpt, was den Kräften des Landes nicht entspricht. Und da kann man sehen, wie über die Köpfe der Menschen in dem Land hinweg Politik getrieben wurde, die nicht stimmen kann. Man hat im Irak 2003 die irakische Armee aufgelöst. Jeder sagt, das war der zentrale Fehler. Die Amerikaner haben die Armee aufgelöst und jeden Soldaten weggeschickt, und heute sind viele von ihnen Kämpfer in den Reihen des IS. Das wäre alles nicht notwendig gewesen.

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Werden solche Kriege von der Rüstungsindustrie initiiert?

Ulrich Tilgner
Ob die Kriege durch die Rüstungsindustrie ausgelöst werden, weiß ich nicht. Aber sie profitiert natürlich davon. Die Friedensbewegung wird immer schwächer, und die Rüstungslobby wird immer stärker. Das ist genau das, was jetzt passiert. Trump wird gewählt, und ehe er seine erste Forderung erheben kann, will die deutsche Verteidigungsministerin mehr Geld für die Aufrüstung der Bundeswehr. Die Bundeswehr war früher eine Parlamentsarmee, heute ist sie in 12 Staaten im Ausland im Einsatz, das ist schleichend passiert. Es erfolgt eine Aufrüstung, die natürlich im Interesse der Rüstungskonzerne liegt, aber ich weiß nicht, ob die Rüstungskonzerne die Politik diktieren. Die ist leider bereit, das mitzumachen, das wird man auch in den USA sehen, wenn Trump den Rüstungshaushalt anhebt. Obama hat ihn von 660 Milliarden Dollar auf unter 600 Milliarden gedrückt. Und jetzt wird er natürlich wieder hochgehen. Trump sagt, ich will das Verhältnis in der Welt entkrampfen, ich will keine Außenpolitik der USA mehr. Aber der Rüstungshaushalt wird hochgehen, das werden Sie sehen. Das sind politische Ziele, gegen die die Bevölkerung nichts einzuwenden hat und die von der Rüstungsindustrie getragen werden. Die Menschen sind nicht bereit, umzudenken, und sie sind nicht in der Lage, die Konsequenzen aus der fehlerhaften Politik ihrer Staaten zu ziehen. Statt dessen ziehen sie sich immer weiter zurück und werden immer nationalistischer.

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Im Nahen Osten spielen viele Kräfte gegeneinander, Syrien, Saudi-Arabien, die Türkei, Katar, der Iran, Kurden, Sunniten, Schiiten. Ist es da nicht zu kurz gesprungen, immer dem Westen die Schuld für die Situation dort zu geben?

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Ulrich Tilgner
Das ist eine ganz wichtige Frage. Natürlich schlummern die Kräfte für dieses Chaos in der Region. Aber die Frage ist: Wer setzt sie frei? Der Terror ist freigesetzt worden dadurch, dass man diese Kräfte bewaffnet und aufgebaut hat. Al-Kaida geht zurück auf die Aktivitäten von Osama bin Laden, als er in den Achtzigerjahren für Saudi-Arabien und die USA die arabischen Freiwilligen im Kampf gegen die Sowjetruppen organisiert hat. Der IS geht zurück in die Zeit, als die Regierung in Bagdad von Schiiten gebildet wurde und die Sunniten in die Opposition gegangen sind. Da hat sich der IS bilden können, 2006, 2007. Dann wurde er geschlagen von den Stämmen der Region, und jetzt auf einmal tauchte er wieder auf, 2014. Das sind Sachen, die haben ihre Ursprung in der Region. Die Leute, vor allen Dingen die junge Landbevölkerung, sind bereit, bewaffnet gegen alles zu kämpfen, was sie stört und jedem hinterherzulaufen, der etwas anbietet. Und dann kommen diese radikalen Gruppen, sie entstehen aus dieser Region. Aber der Westen hat eine Politik in der Region praktiziert, die diese Entwicklung begünstigt hat. Wenn jetzt zum Beispiel Palmyra wieder erobert wurde, dann sicher auch, weil die irakischen Streitkräfte und ihre amerikanischen Berater beim Kampf gegen den IS in Mossul einen Korridor aufgelassen haben, in dem der IS seine Leute abziehen konnte nach Syrien. Jetzt kämpfen sie auf einmal in Palmyra, weil sie in Deir ez-Zor ihr neues Hauptquartier errichten wollen. Wenn Rakka erobert wird, sind sie morgen in Deir ez-Zor. Also, der Westen hat etwas ausgelöst, was in der Gegend schlummert, und ich als westlicher Journalist möchte zeigen, was hat der Westen dort gemacht. Ein orientalischer Journalist müsste zeigen, warum kommen wir aus diesem Teufelskreis nicht heraus, was müssen wir ändern, damit bei uns eine demokratische Opposition erfolgreich ist. Jeder muss vor seiner Haustür kehren.

euronews
Gibt es diese Selbstkritik im orientalischen Journalismus?

Ulrich Tilgner
Die gibt es. Es gibt sehr viele Politiker, zum Beispiel im Iran, die sagen, der Westen ist dafür verantwortlich. Weil man ja auch diese Politik mit betreibt. Der Iran unterstützt Assad. Der Iran ist ja verbal gegen die Konflikte, aber er saugt Honig aus ihnen, er heizt sie mit an. In Afghanistan, im Irak, in Syrien, im Libanon. Das sind die Leute, die sagen, der Westen ist verantwortlich. Aber die junge Generation sagt, es sind einzig wir, die etwas ändern können. Wir sind von der Welt verlassen. Die intellektuellen Jugendlichen in den reichen arabischen Golfstaaten sagen, wir müssen es tun. Uns wird niemand helfen. Und diese Auffassung ist auch unter kritischen Journalisten verbreitet.

“Berichterstattung zu Syrien ist einseitig”

euronews
Wie beurteilen Sie die Berichterstattung in den westlichen Medien zu Syrien?

Ulrich Tilgner
Zu Syrien ist die Berichterstattung relativ einseitig. Ich habe zum Beispiel immer die russische Angriffe und die Angriffe der syrischen Luftwaffe auf die Wohngebiete in Aleppo gesehen, in denen sich die Aufständischen verschanzt hatten, die Barbarei, den Zynismus, der dahintersteckt. Aber es gibt eben auch einen Zynismus der anderen Seite, nämlich Aufständische, die diese Bewohner dort als Schutzschilde benutzten. Immer wieder haben Leute gesagt, die in die Assad-Gebiete gewechselt sind, “wir wurden nicht durchgelassen, wir hatten Probleme bei unserer Flucht”. Das muss man ernstnehmen, das muss man auch sehen.

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euronews
Was ist die Ursache für diese Art der Berichterstattung, in Ihren Augen?

Ulrich Tilgner
Ich würde sagen, die westliche Berichterstattung folgt der Politik. In Afghanistan war für die deutschen Medien immer das richtig, was die Regierung in Berlin gemacht hat. Wobei man vor Ort sehen konnte, dass die Politik in die Sackgasse führt. Aber die Medien haben die Defizite dieser Politik nicht gezeigt. Immer mehr Journalisten sind damals mit der Bundeswehr unterwegs gewesen. Jetzt nimmt die Zahl der embedded Journalists ab. Die Bundeswehr hat ihre Aktivitäten zurückgefahren in Afghanistan und Afghanistan verschwindet aus den Medien. Dabei wäre Afghanistan eigentlich das Beispiel, um die deutsche Außenpolitik zu kritisieren, um zu sehen, was hat man da eigentlich gemacht. Das muss aufgearbeitet werden. Das wird aber nicht aufgearbeitet. Die Berichte sind nicht tiefschürfend genug, damit die Menschen erkennen, was wirklich passiert. Dabei steht in den Zeitungen ja nichts Falsches. Aber die Zeitungen bilden zu sehr die Oberfläche ab. Dabei muss man herausfinden, was steckt dahinter, was treibt die Geschichte voran. Und das steht nicht mehr in den Zeitungen und deshalb fühle sich die Menschen betrogen, weil sie merken, dass die Auswirkungen anders sind als das, was sie an der Oberfläche erleben. Und dazu kommt dann noch das Internet mit seinen zum Teil völlig falschen Nachrichten und unverantwortlichen Theorien.

euronews
Es finden sich ja unter anderem zu Syrien gerade im Internet verschiedene Berichte mit teils gegensätzlichen Standpunkten. Den westlichen Medien stehen Sender wie RT oder Agenturen wie Sputnik der Russen gegenüber. Man wirft ihnen Propaganda vor. Ist das zutreffen?

Ulrich Tilgner
Die stellen die russische Sicht dar. Das ist russische Propaganda, völlig klar. Aber die Amerikaner haben genau das gleiche, nur von Voice of America spricht man nicht. Die haben Sendungen in allen möglichen Sprachen. Das wird übersehen.Oder die Deutsche Welle. Das ist ein Regierungsprogramm, bezahlt vom deutschen Steuerzahler. Die Deutsche Welle ist nicht öffentlich-rechtlich, das ist ein Regierungssender.

euronews Sie sagen also, auch wir im Westen machen Propaganda?

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Ulrich Tilgner
Natürlich. Jeder macht Propaganda, und man weist immer auf die andere Seite. Viele sagen, was Voice of America macht, sei reine Propaganda, und andere sagen, was bei RT steht, ist reine russische Propaganda. Wobei Fakten, die in den sogenannten Leitmedien nicht mehr vorkommen, in RT stehen. Aber dadurch wird dieser Sender ja nicht objektiv oder neutral, sondern er dient russischer Außenpolitik. Das heißt nicht, dass alles, was berichtet wird, falsch ist. Das sind Grauzonen, aber hinter dem Sender steht russische Politik. Und die richtig objektiven Medien erkenne ich so nicht mehr.

euronews
Viele sagen, die westlichen Medien hätten uns in den Krieg geschrieben. Stimmt das?

Ulrich Tilgner
Stimmt! Ja. Würde ich sagen. Wenn man eine demokratische Bewegung in einen Bürgerkrieg umleitet und immer wieder die Bürgerkriegsfiguren in den Vordergrund stellt, dann betreibt man in meinen Augen Kriegshetze. Deswegen ist ja der Artikel nicht falsch. Aber die Summe der Artikel war eine mediale Unterstützung der Aufstandsbewegung, die nicht im Interesse des syrischen Volkes lag. Das sieht man heute: Die Hälfte der Bevölkerung ist geflohen, die städtische Substanz ist außerhalb von Damaskus weitgehend zerstört, die Infrastruktur ist völlig zerstört, was bleibt von Syrien übrige? Da muss man sich doch fragen: wer hat den Bürgerkrieg mit herbeigeschrieben? Die demokratische Opposition ist nicht unterstützt worden. Das muss sich die Presse anlasten, das ist einfach so.

euronews
Wie schätzen Sie eigentlich die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte ein?

Ulrich Tilgner
Ich glaube, die sind faktisch in Ordnung. Man kann ihnen glauben, wenn sie Fakten nennen. Aber man kann sie nur verstehen im Kontext der Opposition. Sie berichtet oft Sachen aus der Brille der Opposition, aber die Fakten stimmen, das ist wichtig. Wenn diese Stelle, die in London sitzt, was sagt, kann man davon ausgehen, dass das stimmt. Das sind relativ gute Informationen. Aber eben einseitige. Und das muss man kenntlich machen. Und sie ist auch die einzige Gruppe, die aus dem Gebiet des IS was bringt und zeigt, wenn Zivilisten bei Luftangriffen der Alliierten umkommen. Ich glaube, zur Zeit ist man bei 60.000 Bomben und Raketen auf Ziele in Gebieten, die der IS kontrolliert. Was meinen Sie, wie viele Zivilisten da ums Leben gekommen sind. Offiziell sind es 1500. Ich würde mal vermuten, mindestens das Zehnfache. Und auf jeden Getöteten kommen sechs bis zehn neue Kämpfer, nach amerikanischen Einschätzungen. Das heißt, man hat dann mal eben 100.000 neue Kämpfer geschaffen. Allein in Mossul ist die Zahl der Zivilopfer bei Luftangriffen größer als die, die die USA insgesamt eingeräumt haben. In Mossul sind bei Luftangriffen immer wieder Studenten in der Universität getötet worden. Wenn der IS im Erdgeschosse ein Büro hat und dieses IS-Büro angegriffen wurde, sind darüber zwei Stockwerke, die von Zivilisten bewohnt werden, und die werden weggebombt.

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Vortrag Tilgners

Bericht des Schweizer Fernsehens über Tilgner

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