Bleibt Polens Verteidigung fit für die NATO?

Bleibt Polens Verteidigung fit für die NATO?
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Von Hans von der Brelie
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Die Schaffung einer 53.000 Mann starken zivilen Teilzeittruppe, einer Art Milizarmee aus Paramilitärs, sorgt für Aufregung in Polen, der EU und NATO.

Großes Durcheinander bei Polens Militär: Die Warschauer Regierung entlässt massenhaft führende Offiziere der regulären Berufsarmee, zeitgleich baut der umstrittene Verteidigungsminister eine zivile Teilzeittruppe aus Paramilitärs auf, kündigt Beschaffungsaufträge für Hubschrauber made in EU und geht auf Distanz zum Eurocorps. Die Verbündeten beginnen sich zu wundern und die Bevölkerung ist zunehmend verunsichert. Denn während es bei der polnischen Landesverteidigung drunter und drüber zu gehen scheint, bestehen die insbesondere auch in Polen als Bedrohung wahrgenommenen Spannungen im Osten der Ukraine weiter fort…

Um zu verstehen, was in Polen vor sich geht, schickte Euronews seinen Reporter Hans von der Brelie in die polnische Provinz. Fester Händedruck, wacher Blick, ein durchtrainierter Körper: Wir sind zu Gast bei Michal Kurzawa in Skierniewice, einem Städtchen im Herzen Polens, etwa 80 Kilometer von der polnischen Hauptstadt Warschau entfernt. Der 18-jährige Abschlussschüler ist Lebensretter bei der Freiwilligen Feuerwehr im Ort und spielt Rugby. Doch Michals große Leidenschaft sind Waffen und Uniformen. Deshalb hat er sich einer Gruppe Paramilitärs angeschlossen, die sich Strzelec (“Die Schützen”) nennt.

Seit Russlands Einverleibung der Krim und den Kämpfen im Osten der Ukraine fühlen sich viele Polen nicht mehr sicher. Zehntausende haben sich polnischen Selbstverteidigungsgruppen angeschlossen. Tendenz steigend. Michals uniformierter Verein, die bereits 1909/1910 gegründeten Strzelec (“Schützen”), ist eine der ältesten paramilitärischen Gruppen Polens.

Angriffstraining mit Biomunition

Im Keller hat Michal – sicher verwahrt – eine echte Schußwaffe, die teilt er sich mit seinem Vater. Doch für das Wochenendtraining verwendet die Strzelec-Gruppe ausschließlich Gewehrattrappen. Die verschossenen Plastikkügelchen sind biologisch abbaubar, echte “Biomunition” sozusagen.

Michal Kurzawa lebt in einem typischen Teenager-Zimmer: Asterix, Harry Potter, ein Basketball, ein Fussball, ein ungemachtes Bett… Doch dann sind da auch noch andere Dinge, die für das Zimmer eines Jugendlichen auf den ersten Blick erst einmal ungewöhnlich erscheinen. Militaria allüberall: Oben auf dem Schrank stapeln sich gleich mehrere Pappschachteln mit Militärstiefeln, an der Wand hängt ein Fotokalender mit Soldatenmotiven, im Schrank finden sich Uniformwesten und -hosen, auf dem Schreibtisch liegen zerschossene Schießscheiben (Michal scheint oft ins Schwarze zu treffen, stellt man bei genauerem Hinsehen fest), auf einem Regalbrett sieht man ein wildes Sammelsurium aus Drähten, Batterien und selbstgebastelten Rauchbomben…

Bedrohung aus Richtung Osten

“Das ist meine Ausrüstung”, zeigt Michal stolz auf seine aus eigener Tasche bezahlte Militariakleidung. “Was hast Du dafür bezahlt?”, will ich von ihm wissen. “Na, umgerechnet werden das insgesamt so um die 500 Euro sein”, antwortet Michal. “Hier, das ist mein bestes Stück, diese Schussweste der US Navy Seals.”

“Michal, Du warst schon einmal in den USA, da kommt man ja leichter an Waffen. Sollte das auch in Polen so sein?”, frage ich Michal. Die Antwort des jungen Polen ist eindeutig: “Ich denke, auch hier bei uns in Polen sollte man den Waffenbesitz deregulieren, so wie in einigen Staaten der USA, denn ich bin der Überzeugung, dass unser Polen ernsthaft bedroht ist. Die Bedrohung kommt meiner Meinung nach sowohl aus Richtung Osten wie auch aus einigen Drittweltstaaten… Deshalb sollte man auch mehr Möglichkeiten für echtes Schießtraining haben. Mein Vorschlag: In jeder polnischen Stadt sollte es einen Schießstand geben.”

Mit Gewehr im Anschlag über den Campingplatz

Mitten auf einem Familien-Campingplatz im nahegelegenen Wald übt Michal mit seiner uniformierten Freizeit-Truppe Streifegehen. Mit Gewehr im Anschlag schleichen sich die drei Dutzend jungen Erwachsene um die Ecke einer Holzhütte, vorbei an zum Trocknen aufgehängten Büstenhaltern, Hemden und Unterhosen, vorbei an Fussball spielenden Kindern, vorbei an einer Gruppe aufgekratzter Kanuten, vorbei an brutzelnden Steaks auf einem Grill, vorbei an dösenden Rentnern und jungen Eltern mit Kleinkindern bis hinunter zum Ufer des schmalen Baches, der sich durch den Wald schlängelt.

Ein lauter Knall, eine im Wald versteckte zweite Gruppe Paramilitärs greift an. Mit rotem und gelbem Rauch simulieren die beiden Gruppen einen Kampf. Schüsse werden ausgetauscht, Befehle gebrüllt. Deckung gesucht. Der geordnete Rückzug geübt. Alles wirkt “sehr echt”.

Oben auf der Böschung fühlen sich einige der Campingplatzbesucher in ihrer Ruhe gestört und verlangen lautstark nach einem Ende der wilden Böllerei, mit dem Kernargument, dass man, erstens, seine Steuern zahle aus denen bereits die reguläre Berufsarmee finanziert werde, was ja wohl reiche, und dass man, zweitens, deshalb nicht durch Paramilitärs auf dem Campingplatz gestört werden wolle. Hört sich recht schlüssig an, ist aber hier auf dem Freizeithüttengelände offenbar nur eine Minderheitenmeinung. Bevor der verbale Schlagabtausch eskaliert, verzieht sich Michals uniformierte Selbstverteidigungstruppe in den Wald. Mit der zu schützenden Bevölkerung möchte man es sich ja schließlich nicht verderben.

Filming Polish paramilitary group SJS Strzelec - Part 1### Lokalmiliz für asymmetrische Kriegsführung

Die polnische Regierung hat mit dem Aufbau einer sogenannten “Armee zur Territorialverteidigung” begonnen – einer Art Lokalmiliz für asymmetrische Kriegsführung. Bis 2023 soll diese Extratruppe aus Zivilisten 53.000 Teilzeitkämpfer umfassen, sagt mir ein Sprecher der neuen Miliz. Zum Vergleich: Bei der regulären Berufsarmee sind 100.000 Polen besoldet – davon gehören etwa 50.000 zur kämpfenden Truppe.

Paramilitärische Freiwilligentruppe statt Wiedereinführung der Wehrpflicht

Zunächst tobte in Polen die Debatte, ob nicht doch besser die Wehrpflicht wieder eingeführt werden sollte, um dem verteidigungspolitischen Ziel einer Aufstockung der Truppe gerecht zu werden. Verschiedene Szenarien kursierten, es wurde hin- und hergerechnet. Dann ließ Ende des vergangenen Jahres die rechtspopulistische Regierung in Warschau eilends ein Gesetz durchbringen, mit dem Polens verteidigungspolitische Weichen gestellt wurden. Die Schaffung der paramilitärischen Territorialverteidigungskräfte ist damit eine beschlossene Sache.

Monatelang wurde in Polen auch darüber diskutiert, wie die Paramilitärs dieser künftigen Territorialverteidigungsmiliz ausgestattet werden sollen, mit leichten oder mit schweren Waffen oder auch mit Drohnen? Und was bringt das Ganze überhaupt der Verteidigung Polens und was trägt es bei zur Sicherheit der NATO-Partner?

Territorialverteidigungsmiliz bekommt 800 Millionen Euro

Die populistische Rechtsregierung in Warschau will die zahlreichen, meist in Vereinen organisierten polnischen Paramilitärs in diese künftige Territorialverteidigungsmiliz integrieren, als Freiwillige. Der Kostenpunkt für die Aufbau- und Anlaufphase liegt bei umgerechnet etwa 800 Millionen Euro.

Einige der heute existierenden “privaten” Paramilitärs stehen auf demokratisch gefestigtem Boden, so wie beispielsweise Michals lokale Strzelec-Einheit. Doch angesichts der weiten Bandbreite polnischer Paramilitärs, angesichts der Nähe einiger paramilitärischer Gruppen zur gewaltbereiten polnischen Hooligan-Szene, darf man doch Zweifel haben, ob die Gesamtheit der uniformierten Freizeitkämpfer vollständig harmlos sind. Ein Sprecher der neuen Territorialverteidigungsmiliz versucht, meine Bedenken zu zerstreuen. Die Armee würde jeden einzelnen Freiwillilgen genauestens überprüfen, und zwar nicht nur auf die körperliche Eignung, sondern auch hinsichtlich der “geistigen Gesundheit”.

Flugabwehrraketen für zivile Teilzeitsoldaten

Laut Insiderinformationen optiert Warschau für das Konzept der leichten Infanterie, die Teilzeitkämpfer bekommen Gewehre – aus polnischer Produktion – später auch Drohnen, Panzer- und Flugabwehrraketen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen präzisiert der Milizsprecher Euronews gegenüber, dass diese Waffen natürlich nicht daheim im Kuhstall oder Kleiderschrank aufbewahrt würden, sondern lediglich im Krisenfall ausgegeben würden. An Fussballhooligans mit Panzerfäusten hat man auch in Polen kein gesteigertes Interesse. Und um jegliches Risiko auszuschließen, soll bei der neuen Territorialverteidigungsmiliz ein sehr vernünftig klingendes Prinzip zur Geltung kommen. Erfahrene Soldaten sollen die freiwilligen Teilzeitsoldaten sozusagen “an die Hand nehmen”.

Einmal im Monat werden die künftigen Territorialverteidigungsmilizen zum Auffrischtraining einberufen, das dauert dann jeweils ein Wochenende lang. Darüber hinaus gibt es einmal im Jahr ein etwas längeres, mehrwöchiges Training, organisiert, unter anderem auf Truppenübungsplätzen der regulären Berufsarmee. Auch eine monatliche Aufwandsentschädigung, ein finanzielles Handgeld für die zivilen Teilzeitsoldaten, ist bereits offiziell beschlossene Sache. Im Prinzip soll die neue Zusatz-Truppe funktionieren wie die Freiwillige Feuerwehr. Im Alltag sind die Mitglieder dieser Territorialverteidigungsmiliz Bauern, Bäcker oder Berufsschullehrer. Wenn das Telefon klingelt (Ernstfall oder Naturkatastrophe), streifen sie sich ihre Uniform über und stehen bereit zum Helfen (falls gerade Frieden) oder Kämpfen (falls gerade Krieg), so das Konzept.

Filming Polish paramilitary group SJS Strzelec - Part 2### Mittagspause mit Michal

Michal löffelt etwas aus einer Konservendose. “Michal, glaubst Du wirklich, dass Polen bedroht wird?”, will ich von ihm wissen. “Ich denke, ja”, meint Michal Kurzawa. “Die größte Bedrohung für Polen ist Russland.” Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: “Und Putin.”

Im Ernstfall soll den Bürgerwehren die Rolle einer Guerilla-Miliz zufallen: Sollte die reguläre Armee geschlagen werden, dann könnten – so die Theorie – die Territorialverteidiger Brücken sprengen, Sabotage-Akte gegen Gebäude einer eventuellen Besatzungsmacht begehen, bei Desinformationskampagnen gegensteuern und – im Untergrund – das Fortbestehen des polnischen Staates auch nach einer Niederlage garantieren.

Während bewaffneter Auseinandersetzungen könnten die Territorialverteidiger auf lokaler Ebene die regulären Soldaten unterstützen, mit Lokalwissen helfend eingreifen, eventuell Polizeiaufgaben übernehmen, regionale Infrastruktur wie Wasser- und Elektrizitätswerke, Sendemasten oder Verkehrsknotenpunkte sichern. Und im Frieden wäre denkbar, dass die künftige Territorialmiliz bei Naturkatastrophen hilft: Sandsackschleppen bei Hochwasser, Schneisenschlagen bei Waldbränden…

Und warum das Ganze?

Doch macht dieses Projekt einer Territorialverteidigungsmiliz aus zivilen Teilzeitsoldaten wirklich Sinn? Dreh- und Angelpunkt ist das offenbar im Büro des polnischen Verteidigungsministers kursierende Bedrohungsszenario eines “hybriden Krieges”. Polen ist durch die Vorgänge in der Ukraine nach wie vor tief verstört, und zumindest der Verteidigungsminister und seine engere Entourage scheinen eine Art “Remake” auch in Polen nicht auszuschließen. Nur, in Polen gibt es keine russische Minderheit, eine asymmetrische Kriegsführung mit “grünen Männchen” nach dem Muster der Ukraine ist extrem unwahrscheinlich, unabhängige Beobachter sind sich darin einig. Denn bei einem militärischen Konflikt würde Moskau wohl eher mit massiven Panzerverbänden angreifen – wenn nicht gleich zu nuklearen taktischen Gefechtsfeldwaffen greifen. Leichtbewaffnete Freizeitkämpfer könnten da kaum etwas ausrichten. Allerdings sind viele Experten der Auffassung, dass Russland keinen Konflikt mit einem NATO-Mitglied vom Zaun brechen wird.

Trotzdem setzt die polnische Regierung auf Paramilitärs. Warum? Was bedeutet das für Polens Demokratie und für Polens Verteidigung? Sehen wir uns einige Zahlen, einige Fakten an.

Schon jetzt 17.000 Freiwillige

17.000 Freiwillige haben sich bereits für die künftige Teilzeittruppe gemeldet (Stand Frühling 2017). Michal Kurzawa ist allerdings nicht unter ihnen, obwohl er fast seine gesamte Freizeit im paramilitärischen Schützenverein Strzelec verbringt. Sein Vorbild sind die echten Vollzeitprofis bei der polnischen Berufsarmee, ganz im Gegensatz zu der im Aufbau begriffenen zivilen Territorialverteidigunsmiliz. Letztere soll offenbar nicht in die vertikale und vereinheitlichte Kontroll- und Befehlshierarchie der regulären Streitkräfte integriert sein. Michal sieht deshalb das Risiko von Parallelstrukturen.

Paramilitärische Privatarmee des Verteidigungsministers?

Michal Kurzawa nimmt kein Blatt vor den Mund: “Mit dieser Territorialverteidigungsmiliz baut sich Verteidigungsminister Macierewicz eine Privatarmee auf. In den USA gibt es die Nationalgarde, die kann auch gegen das Volk eingesetzt werden, nach innen. Das Konzept gefällt mir nicht.”

Auch drei Frauen machen mit in Michal Kurzawas lokalem Selbstverteidigungsverein Strzelec. Das Sagen hat Zbigniew Antolak-Gaczynski, ein ehemaliger Soldat mit internationaler Schlachtfelderfahrung aus der Zeit des Jugoslawienkonfliktes. Dreimal bat ihn das Verteidigungsministerium bereits, statt beim paramilitärischen Schützenverein Strzelec das Kommando über den lokalen Ableger der Territorialverteidigungsmiliz zu übernehmen, doch er lehnte ab.

Zwischen zwei Schießübungen mit Michals privat organisierter Paramilitärgruppe nimmt sich Zbigniew Antolak-Gaczynski kurz Zeit und erklärt seinen Standpunkt: “Wir sind nicht Teil der Territorialverteidigungskräfte, auch wenn ich gute Kontakte bei den Streitkräften habe. Und als Organisation wird Strzelec dieser neuen Truppe nicht beitreten. Wir bestehen auf unserer Unabhängigkeit.” So weit er wisse, wollten zwar einige der jungen Erwachsenen des Vereins von Strzelec in die reguläre Berufsarmee wechseln, aber niemand zu der neuen Teilzeittruppe, auch er selber nicht. Und warum nicht? “Ich kann nicht in den Kopf des Verteidigungsministers sehen und genau sagen, was der so alles vorhat. Doch wenn man sich das Gesetz zur Einführung der Territorialverteidigungskräfte genau durchliest, dann wird klar, dass diese Miliz auch anders eingesetzt werden könnten, als offiziell immer behauptet wird…”

Hauptquartier in der Zarenfestung

In einer Festung aus der Zarenzeit treffen wir den Sprecher der Territorialverteidigungskräfte, Marek Pietrzak. Lokale Kämpfer seien “hochmotiviert”, die wollten Herd, Heim und Hof verteidigen und verfügten zudem über perfekte Ortskenntnise. Kritik am Milizkonzept weist er scharf zurück: “Es gibt kein Risiko, dass diese Territorialverteidigungsarmee gegen polnische Staatsbürger eingesetzt wird.” Obwohl er mit dem Euronews-Team reden will und darf, das entsprechende OK von ganz oben hat er bekommen, scheint irgendetwas trotzdem nicht geklappt zu haben im militärbürokratischen Genehmigungshürdenlauf: Wir dürfen nur durch das Eingangsgewölbe, aber keinen Schritt weiter. Das Interview müssen wir neben dem Eingang aufzeichnen. Offenbar ist das Euronews-Team leicht suspekt, in das Innere des Hauptquartiers dürfen wir nicht.

Marek Pietrzak begründet die strategische Notwendigkeit für die nun beginnende Reform folgendermaßen: “Die Schaffung der Territorialverteidigungskräfte ist eine Antwort auf die veränderte geopolitische Lage in Zentral- und Osteuropa. Wir sind nicht die Einzigen. Als Erste haben die Schweiz und die skandinavischen Länder so ein Konzept verwirklicht. Doch auch in einigen Staaten Mittel- und Osteuropas gibt es Ähnliches, in den baltischen Staaten, in Rumänien und Bulgarien.”

Geldverschwendung

Nach dem Treffen mit Marek Pietrzak sind wir mit einem führenden Kopf der liberalen Opposition verabredet, dem früheren Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak. Der redet von Geldverschwendung. Man lebe nicht mehr im 19. Jahrhundert und mit Partisanenkämpfern sei heute kein Krieg zu gewinnen. Um NATO-kompatibel zu bleiben, solle Polens Militär besser Geld für Hubschrauber und die Abwehr von Internetattacken ausgeben.

“Hinzu kommt”, fügt Tomasz Siemoniak hinzu, “dass wir bestenfalls eine Art Wochenend-Soldaten bekommen. Wenn schon Extra-Training, dann sollte man das in eine voll ausgebildete Reservisten-Armee investieren, die Teil der Streitkräfte ist. Eine Reservisten-Truppe könnte die reguläre Armee tatsächlich sinnvoll unterstützen, nicht diese Wochenend-Soldaten, das ist Traumtänzerei.”

Verteidigungspolitisches Chaos

Auch Siemoniak bezeichnet den derzeitigen Minister als sehr umstrittene Person, eine Einschätzung, die von vielen hochgradigen Militärs geteilt wird, als einen Mann, “der in viele Skandale verwickelt und geradezu abhängig von Verschwörungstheorien ist”. Er sei für seinen Job “nicht qualifiziert” und desorganisiere die polnische Armee, statt sie zu reorganisieren: “Wir stehen vor einem politischen Chaos und Inkompetenz. Verdienste und Erfahrung spielen keine Rolle mehr, alles dreht sich nur noch um politische Sandkastenspiele und daraus resultiert die Situation, die wir heute haben.”

Tomasz Siemoniak berichtet mir von den Bedenken, die seitens der NATO-Partner im Hinblick auf die heutige Lage in Polen intern geäußert würden: “Das Militär lebt ja nicht auf einer einsamen Insel, sondern ist Teil der Gesellschaft. Und NATO- und andere Politiker sind ernsthaft besorgt darüber, was in Polen vor sich geht.” Offiziell hat die NATO offenbar die Abwarten-und-Teetrinken-Parole ausgegeben, in der Absicht, kein Öl ins Feuer zu schütten.

Zum Abschluss des Gesprächs versucht der frühere Verteidigungsminister eine milde Note zu finden: “Meiner Meinung nach sollten unsere Bündnispartner Polen aus einer 25-Jahres-Perspektive betrachten, sollten den gelungenen Transformationsprozess zur Kenntnis nehmen, die mittlerweile vielen Jahre, die Polen Mitglied der NATO ist.” Aufgrund der derzeitigen Vorkommnisse und Missstimmungen sollte die NATO nicht ihre grundsätzlich positive Haltung gegenüber Polen ändern: “Ich hoffe, dass unsere Bündnispartner auch weiterhin an uns glauben werden, langfristig.”

Stimmenfang mit Paramilitärs

Über einen Warschauer Hinterhof gelangen wir in Slawomir Sierakowskis mit Büchern vollgestopfte Studierstube. Der Philosoph und kritische Beobachter gesellschaftlicher Veränderungen steht der populistischen Rechtsregierung ablehnend gegenüber. Seine Lesart der bevorstehenden Veränderungen ist eindeutig: “Wenn man 50.000 Bürger in so einer Miliztruppe organisiert, dann sind das natürlich auch Wähler. Für den Verteidigungsminister sind das 50.000 potentielle Wählerstimmen, plus Familien.”

Das Wort “Reform” weist Sierakowski empört zurück: “Das soll eine Reform sein?” Im Bereich der polnischen Verteidigungspolitik sei in den vergangenen Monaten so ziemlich alles schiefgelaufen, was nur hätte schieflaufen können. Angefangen mit der Besetzung des Ministeriums. Schlechtgelaunt und mit sorgenzerfurchter Stirn zählt der Denker und Gesellschaftsanalytiker problematische Punkte auf. Polen habe bestehende Hubschrauberlieferverträge mit einer europäischen Firma brutal gelöst und habe jetzt eben keine ausreichenden Hubschrauberkapazitäten. Ergebnis des mittlerweile mehrmonatigen Beschaffungsdurcheinanders: Die Ausschreibung für neue Hubschrauber muss verlängert werden.

Sierakowski ist ein aufmerksamer Beobachter gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen seines Landes und stellt diese in einen gesamteuropäischen Rahmen. Sein Fazig der bisherigen PiS-Entscheidungen klingt beunruhigend:Die Regierung verscherze es sich gleichzeitig mit den wichtigsten Verbündeten, Paris, Berlin, Brüssel. Das bedeute letztendlich weniger, nicht mehr Sicherheit. Als konkretes Beispiel verweist er auf das Durcheinander um Polens Rolle im Eurokorps .

Entlassungs-Massaker im polnischen Generalstab

Vermutlich noch viel problematischer sind weitreichende, tief in die Führungsstruktur des Militärs eingreifende Personalentscheidungen. Der polnische Verteidigungsminister habe massenhaft führende Offiziere entlassen, kritisiert Sierakowski. “Wie Stalin 1937/8”, wagt Slawomir Sierakowski einen historisch etwas schiefen Vergleich. “90 Prozent des polnischen Generalstabs und 82 Prozent der polnischen Armeeführung seien gefeuert worden”, sagt Sierakowski, “mit der offiziellen Begründung, diese Offiziere und Generäle seien mit der liberalen Oppositionspartei verbunden, das ist total absurd.” – Dann erzählt er einen Witz (den wir hier nicht wiederholen) und fügt abschließend hinzu: “In Polen hat der Verteidigungsminister mittlerweile den Spitznamen Abrüstungsminister.”

Im Zusammenhang mit der parallel laufenden Debatte über das “burden sharing” genannte Verteilen und Finanzieren der Verteidigungsausgaben zwischen den NATO-Verbündeten kann man sich aus Brüsseler Sicht (Sitz der NATO) nur wundern. Einerseits ist Polen stolz darauf, das NATO-intern gesteckte Ziel der Zwei-Prozent-Marke (die Bündnispartner wollen/sollen zwei Prozent ihres jeweiligen Bruttosozialproduktes für Militärausgaben budgetieren, woran sich aber kaum jemand hält) bereits jetzt erreicht zu haben – ganz im Gegensatz zu Deutschland beispielsweise. Andererseits entsteht ein Mehr an Sicherheit nicht mechanisch durch das Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels – sondern mittels intelligent geteilter Verteidigungskapazitäten, dank untereinander sich ergänzender Beschaffungsprojekte.

Und auch: Dank einer geteilten Analyse der Sicherheitslage. Also klare Antworten auf grundlegende Fragen: Wer ist bedroht? Aus welcher Himmelsrichtung? Und wie sollte sich das Verteidigungsbündnis auf die unterschiedlichen Bedrohungsszenarien vorbereiten? Daraus ergibt sich auch, dass die Bedrohungslage für die jeweiligen NATO-Mitglieder sehr unterschiedlich aussehen kann. Ist für das NATO-Mitglied Polen wirklich ein Grüne-Männchen-Szenario à la Ukraine die wesentliche Bedrohung? Immer wieder ist im NATO-Umfeld zu hören, man solle mehr Wert legen auf Cyber-Kapazitäten.

Hier hakt auch Sierakowski ein: “Als die Leute von diesen grünen Männchen (nicht als Soldaten einer regulären Armee gekennzeichnete Kämpfer, Anmerkung der Redaktion) auf der Krim und im Donbas gehört haben, dachten sie sich vermutlich: Wenn wir hier bei uns in Polen so eine Invasion verhindern wollen, dann brauchen wir auch so etwas, sagen wir mal, gelbe Männchen, weil die Russen haben ja grüne Männchen… Aber darum geht es doch gar nicht. Hybride Kriegsführung bedeutet heutzutage, dass wir über vergleichbare Cyberkapazitäten wie die Russen verfügen sollten, wir sollten im Bereich der psychologischen Kriegsführung zu den Russen aufholen, wir müssen in der regulären Berufsarmee Polens Schritt halten mit Modernisierung und neuen technischen Entwicklungen, das sind doch die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, nicht das Rekrutieren von Leuten, die im Schießstand auf Zielscheiben schießen.” Sierakowski weiter: “Diese Territorialverteidigungskräfte werden gegenüber durchtrainierten Spezialeinheiten, gegenüber Geheimdienstoperationen keinerlei Chance haben, denn Putin hat seine Armee ganz anders organisiert.”

Heldenfotos auf dem Familientisch

Zurück in die Provinz. Michal stellt uns seiner Mutter Monika, einer Englisch- und Deutschlehrerin, seinem Vater Alek, einem Physiotherapeuten, und seinem kleinen Bruder Franek vor (“Ich möchte YouTuber werden…”).

Die Familie teilt pro-europäische Werte wie Freiheit, Toleranz und Vielfalt, gemischt mit einem kräftigen Schuss Patriotismus. Im zweiten Weltkrieg fochten Michals Vorväter bei Montecassino (in Italien) und in Warschau. Stalin deportierte einen Teil der Familie nach Kasachstan.

“Ich habe mich aufgrund meiner Familiengeschichte den Schützen angeschlossen”, erzählt Michal am Familientisch in der guten Stube. Unzählige Fotos und alte Dokumente sind dort ausgebreitet. “Alle Männer in meiner Familie waren beim Militär. Hier zum Beispiel, auf diesem Foto sieht man meinen Urgroßvater, der war bei der Kavallerie und wurde mit einer der höchsten polnischen Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Ich will diese Familientradition fortführen.”

Michals Traum: Militärarzt in der Berufsarmee

Michal träumt von einer Karriere in der polnischen Berufsarmee. Seine Mitgliedschaft bei den Schützen sieht er – wie auch viele andere der jugendlichen Paramilitärs – als Vorläufer einer “echten” Militärkarriere.

Einen Tag später treffen wir uns erneut mit Michal. Es ist ein Feiertag, der
“Tag der polnischen Verfassung”. Auch Michal und sein uniformierter und mit Gewehrattrappen ausgerüsteter Schützenverein Strzelec nimmt zusammen mit anderen organisierten Gruppen am Festgottesdienst teil. Einerseits ein befremdlich wirkendes Bild, es drängt sich die Frage auf: Was haben Waffenattrappen in einer Kirche zu suchen? Andererseits aber auch ein starkes Symbol: Polen ist bereit, sich zu verteidigen.

Filming Polish paramilitary group SJS Strzelec - Part 3

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