Nordirland und der Brexit

Nordirland und der Brexit
Von Hans von der Brelie
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Gefährdet der Brexit den Friedensprozess in Nordirland? Welche Sorgen haben die irischen Unternehmer? Können EU und UK einen Kompromiss finden?

Welche Auswirkungen hat der Brexit auf Nordirland? Könnte ein Scheitern der Brexitverhandlungen zu der Wiedereinführung von Zollkontrollen in Irland führen? Welche Sorgen machen sich die Unternehmer, die sich seit dem Friedensabkommen (1998) beiderseits der irischen Grenze niedergelassen haben? Und warum mehren sich seit einiger Zeit Stimmen, die vor Gewalt warnen? Panikmache oder berechtigte Ängste? Während es nun Ernst wird mit den Brexitverhandlungen, hat sich Euronews-Reporter Hans von der Brelie zusammen mit Kameramann Aaron Lilburn in der irischen Grenzregion umgesehen, im Norden und im Süden.

Quer durch die irische Insel verläuft eine “umstrittene Grenze”, die Grenze zwischen der Republik Irland, Mitglied der Europäischen Union – und Nordirland, Teil Großbritanniens, bald kein EU-Mitglied mehr. Nordirland ist die vom Brexit am stärksten betroffene Region, sowohl politisch wie auch wirtschaftlich. Friedlich und wohlhabend wirkt hier alles. Doch wird das so bleiben?

Warntafeln

Seit einigen Wochen tauchen entlang der Grenze gelb-schwarze Warntafeln auf. Empörte Brexit-Gegner aus dem Süden und dem Norden haben sie aufgestellt. In zwei Jahren verläuft hier die Außengrenze der Europäischen Union. Die Menschen auf beiden Seiten der Grenze sind gegen Grenzkontrollen. Warum?

2019 wird Irlands Landkarte anders aussehen. Das blau-goldene Sternenbanner der Europäischen Union wird dann nur noch im Süden der geteilten Insel gehisst.

Bittere Grenzerfahrungen

Wir sind in Clones, einem Grenzdorf im Süden. Die bürgerkriegsähnlichen Unruhen der 70er und 80er Jahre hinterließen schmerzhafte Spuren beiderseits der Grenze. Tausende starben, Checkpoints und blockierte Straßen brachten die Wirtschaft zum Erliegen. Donald McDonald musste sein über drei Generationen betriebenes Bekleidungsgeschäft schließen. Die Kunden “aus dem Norden” kamen nicht mehr. Hatte Donald McDonald vor der Militarisierung der Grenze noch 60 Prozent Laufkundschaft aus Nordirland, waren es vier Jahre später, nach Einführung der militärisch überwachten Grenzkontrollen, nur noch zwölf Prozent. Die Unruhen oder “Troubles”, wie die drei Konfliktjahrzehnte hier allgemein nur genannt werden, führten zu galoppierender Arbeitslosigkeit, massiver Abwanderung, Hoffnungslosigkeit – und zu einer sich immer schneller drehenden Gewaltspirale.

Doch bleiben wir bei den wirtschaftlichen Folgeerscheinungen der scharfen Grenzkontrollen damals. “Über 50 Geschäfte gaben hier in Clones auf”, erinnert sich Donald McDonald. Dann wendet er das Argument auf den Brexit – den geplanten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – an: “Ich habe absolut keine Lust, dass wir Derartiges erneut erleben müssen. Grenzbarrieren zerstören Hoffnung, Vertrauen und Beziehungen. Die politische Entscheidung Großbritanniens, auf Protektionismus zu setzen, richtet Schaden an.”

Alptraumszenario

Britische Militärs machten diese Grenzbrücke während der Unruhen sechsundsiebzigmal unpassierbar. Wieder und wieder entfernte die Dorfbevölkerung die Blockaden, es kam zu Schießereien – bei denen der heutige Bürgermeister, Pat Treanor, ein guter Bekannter Donald McDonalds, einen Finger verlor. Soll nun ausgerechnet hier erneut ein Grenzposten entstehen, im Falle eines “harten Brexits”?

“Ein regelrechtes Alptraumszenario”, erwidert Donald McDonald auf meine Frage. “Ich habe gehört, dass unlängst ein offizieller Mitarbeiter der irischen Finanz- und Zollbehörde hier unterwegs gewesen sein soll. Offenbar hat die Suche nach potenziell geeigneten Gebäuden oder Grundstücken in dieser Gegend bereits begonnen…”

“Was würde geschehen, sollten hier tatsächlich Grenzinfrastrukturen errichtet werden?”, frage ich Donald McDonald weiter. Der weißhaarige Mann überlegt kurz, dann warnt er: “Die Menschen hier würden in einer Art und Weise reagieren, die weder für das Friedensabkommen gut wäre, noch für die Bevölkerung oder die Insel als Ganzes.”

“Sie meinen, die Rückkehr zur Gewalt kann nicht ausgeschlossen werden?”, hake ich nach. – “Es würde wohl mit zivilem Ungehorsam beginnen”, antwortet Donald McDonald. “Leider kann Derartiges bei so einem Szenario nie ausgeschlossen werden.”

Rätselraten um die Brexitgrenze

Wir wechseln auf die andere Seite der Grenze, nach Norden. Während der Unruhen waren hier dreißig Prozent arbeitslos, heute sind es nur noch knapp drei, das ist besser als der EU-Durchschnitt: Vollbeschäftigung.

Conor Patterson arbeitet für die Industrie- und Handelskammer von Newry und gibt Unternehmern Tipps gegen Brexit-Panik. Er zeigt uns die Reste eines verlassenen LKW-Kontrollpostens.

Weiche Grenze? Harte Grenze? Freihandel oder Zollgrenzen? Das hängt davon ab, ob Großbritannien sich mit der EU wird einigen können – oder nicht…

Radikalisierungsfalle und Gewaltrisiko

“Sollte kein Abkommen erzielt werden”, warnt Conor Patterson, “dann bräuchten wir wieder Infrastrukturen wie diese dort…” – Er zeigt auf die riesigen Hallen des mittlerweile verfallenen LKW-Kontrollpostens. Dann fährt er fort: “Doch die Gegend hier hat eine Vergangenheit voller Gewalt, in der Grenzposten angegriffen wurden, denn sie behindern den freien Waren- und Personenverkehr… Wir haben in Europa genug Probleme mit radikalen jungen Menschen, wir brauchen nicht noch ein weiteres Problem das noch zu mehr Radikalisierung führt. – Das Risiko liegt darin, dass Splittergruppen (der IRA) Teile der Gesellschaft radikalisieren werden, vor allem junge Menschen, die sich leicht beeindrucken lassen. Die könnten von einer Ideologie angezogen werden, die Gewalt predigt. Wir möchten das nicht, das damit verbundene Risiko ist einfach zu groß.”

Während die katholische Sinn Fein Partei gegen den Brexit ist und eine Wiedervereinigung (des Nordens) mit (der Republik) Irland anstrebt, unterstützt die protestantische DUP den Brexit und will, dass Nordirland Teil Großbritanniens bleibt.

Insiders: filming in Belfast, Northern Ireland### Wohnzimmerbesuch beim DUP-Abgeordneten

Die EU-Mitgliedschaft entschärfte den Nordirland-Konflikt gewissermaßen. Macht der Brexit ihn nun wieder scharf? Wir bekommen einen führenden DUP-Abgeordneten an´s Telephon, Sammy Wilson, der uns in sein Landhaus einlädt. Nach 40 Minuten Fahrtzeit sind wir angekommen, Wilson zeigt uns stolz seinen riesigen Garten (“Alles mit eigener Hand angelegt.”) und sein Gewächshaus. Er scherzt: “Ich baue Tomaten an, dann brauche ich keine aus den Niederlanden, also der EU, zu kaufen. Pfirsiche wachsen hier auch, die ersetzen Früchte aus dem EU-Staat Frankreich.”

Wir installieren die Kameraausrüstung im Wohnzimmer, vor einer Bücherwand voller Biographien. Vorherrschender Farbton ist Orange, kein Zufall, eher ein politisches Statement, wohl als Anspielung auf den Orden der Orangisten gedacht, der immer im Juli großangelegte Protestanten- und Unionistenmärsche überall in Nordirland organisiert.

Wird der Brexit, falls die Verhandlungen scheitern, tatsächlich zu einer Rückkehr der Gewalt in Nordirland führen? “Das ist Panikmache”, meint Wilson. “Sinn Fein ist es doch egal, ob durch das Gewaltgerede tatsächlich physische Gewalt und Unruhen ausgelöst werden. Das einzige Risiko für den Friedensprozess besteht darin, dass Sinn Fein Hysterie schürt, durch die sich die Partei kurzfristige Vorteile auf dem politischen Schachbrett erhofft. Doch sie sollten berücksichtigen, welche Auswirkungen das auf ihre Anhängerschaft hat, insbesondere auf die Muskelmänner, denen jeder Vorwand gelegen kommt, erneut eine Terror-Kampagne zu starten.”

Suche nach intelligenten Lösungen

Und wie wollen Sie das verhindern? Haben Sie einen technischen Vorschlag, mit dem das politische Problem der künftigen Brexit-Grenze gelöst werden kann?

“Eine intelligente Lösung wäre die Überwachung des grenzüberschreitenden Handels durch elektronische Nummernschild-Erkennung”, meint Sammy Wilson. “Dafür braucht man keine Grenzstationen und muss niemanden anhalten. Das kann man durch Stichproben ergänzen.”

Finanzspritze aus London

Theresa May und ihre konservative Minderheitsregierung in London werden von der umstrittenen, nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) unterstützt. Als Gegenleistung gibt es eine Milliarden-Finanzspritze für die Ex-Bürgerkriegsregion Nordirland. Die Nordiren bekommen für den Deal eine Finanzspritze in Höhe von 1,5 Milliarden Pfund (rund 1,7 Milliarden Euro). Davon war eine halbe Milliarde bereits vor dem Abkommen zugesagt worden, doch kann das Geld jetzt flexibler eingesetzt werden. Es soll unter anderem in die Infrastruktur fließen. Gewissermaßen ist der “Milliardendeal” also eine Vorwegnahme der Brexit-Konsequenzen, denn wenn in zwei Jahren die “Scheidung” von der EU offiziell wird, fallen auch die Zahlungen der EU an Nordirland weg.

Investoren werden unruhig

Kein Militärposten wirft seinen Schatten mehr auf Newry. Früher, während der “Troubles”, der Unruhen, verlief hier eine Straße, die als die tödlichste ganz Nordirlands galt. Das hat sich grundlegend geändert: Keine Sprengfallen mehr, keine Schusswechsel, keine Entführungen, keine Landminen, kein Stacheldraht, kein Militär, keine Terroristen. Auf einem Baum flötet eine Amsel. Im Hintergrund rauscht der rege Verkehr auf der EU-finanzierten Luxusautobahn im Format Extrabreit.

Die Europäische Union hat die Grenzregion seit Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens geradezu mit Geld geflutet. Damit wurden nicht nur Infrastrukturprojekte (Straßen, Häfen, Bahnhöfe…) und unzählige Friedensprojekte finanziert, sondern beispielsweise auch grenznahe Gewerbegebiete. Direkt an der Grenze zur Republik Irland, im nordirischen Kreis Newry, liegt einer dieser “Industrie-Parks”, in dem sich zahlreiche kleinere und mittlere Unternehmen niedergelassen haben. Hier treffen wir uns erneut mit Conor Patterson von der Industrie- und Handelskammer.

Eine Furcht geht um in Newry – und auch anderswo Nordirland. Vertreibt der Brexit die mühsam “angelockten” Investoren wieder? Berater Patterson versucht, den Rollstuhl-Unternehmer Myrddin James aus Wales zu beruhigen, ihm das Verbleiben in Nordirland, im Kreis Newry, schmackhaft zu machen.

“Unsere größte Sorge hier ist der Standort”, sagt Myrddin James. “Unser Unternehmen liegt auf der britischen Seite der Grenze, also im Norden, und wir haben bereits Notfallpläne erstellt, falls wir auf die andere Seite der Grenze, nach Süden, umziehen müssen.”

“Ziehen Sie noch nicht um!”, beschwört ihn Conor Patterson. “Wir setzen uns für Menschen wie Sie ein, damit Sie einen speziellen Status bekommen, verbunden mit Ihrem Standort hier an der Grenze. Sie brauchen Bewegungsfreiheit, im Norden und im Süden, in beiden Zuständigkeitsbereichen.”

“Ein solcher Sonder-Status sollte alle denkbaren Brexit-Ergebnisse abdecken”, meint Myrddin James, “ganz egal, ob undurchlässiges oder durchlässiges Grenzregime. Wir müssen die Grenze jeden Tag 17 bis 20 Mal überqueren. Und Zeit ist Geld. Wir machen uns Sorgen.”

Schlimmstenfalls Brexitzölle bis zu 50 Prozent

Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie werden wohl am heftigsten unter dem Brexit zu leiden haben. Tausend Bauern beiderseits der Grenze liefern Milch an LacPatrick. Vor dem Brexit-Referendum investierte das Unternehmen 45 Millionen Euro in den Bau einer Fabrik in Nordirland: Milchpulver für Afrika und den Nahen Osten. Doch wird Großbritannien vergleichbare Handelsabkommen wie die EU abschließen können? Wir haben uns mit dem Unternehmens-Chef, Gabriel D’Arcy, verabredet.

“Wenn das hier eine internationale Zollgrenze wird”, sagt Gabriel D’Arcy, “und es zwischen der Europäischen Union und Großbritannien kein Freihandelsabkommen über Nahrungsmittel und Landwirtschaft geben sollte, dann wird das Rohmaterial – unsere Milch beispielsweise – dem Zollregime der Welthandelsorganisation unterworfen, das können bis zu 50 Prozent des Produktwertes sein, jeglicher Handel wäre damit erledigt.”

Brexitdebatte in der Dorfkneipe

Machen wir zum Schluss einen Abstecher in das nordirische Rostrevor, einen Küstenort kurz vor der Grenze. Der Liedermacher Matthew McGrath lebt hier. Er nimmt uns mit in sein Stammlokal, Crawfords Bar, wo er heute Abend auftreten wird, wie oft mittwochs. Ein “traditioneller Abend” ist angekündigt, jeder darf beitragen, es wird gesungen, irische Volksmärchen, Gedichte, Balladen, Zungebrecher vorgetragen. Viel Bier fließt. Der Laden ist voll, die Stimmung gut.

Doch zuvor diskutieren die Dorfbewohner bei einem Pint über den Brexit, auch Sinn-Fein-Mitglied Michael Gray-Sloan, der Totengräber des Dorfes, bezieht Position. Nordirland werde den Großteil der Brexit-Zeche zahlen müssen, glaubt er.

“Ich denke, dass der Brexit ein Desaster ist, politisch, wirtschaftlich und sozial”, meint Michael Gray-Sloan. “Niemand weiß, was uns erwartet, und die Tatsache, dass uns die Engländer aus der Europäischen Union herauszerren, muss man fast schon als kriminell bezeichnen, völlig bekloppt.”

Deirdre Murphy: “Ich hoffe, dass wir doch noch einen weichen, einen superweichen BREXIT hinbekommen.”

John McMahon: “Theresa Mays Vorstellung eines harten Brexit ist nicht mehr haltbar. Sie ist politisch zu schwach, um das noch durchzubringen.”

Paddy McGuinness: “Sich als Teil Europas, als Europäer zu fühlen, ist wichtig für die Menschen hier.”

Deirdre Murphy ergänzt: “Wenn es doch zu einem harten Brexit mit einer echten Zollgrenze kommen sollte, dann wird das den Friedensprozess rückgängig machen. Der reinste Alptraum… Da darf man gar nicht dran denken…”

Matthew McGrath greift zu seiner Gitarre und singt ein Lied gegen Gewalt, vor Jahren komponiert, aber immer noch aktuell: So much love. Sinngemäß heißt es in dem Refrain: Warum braucht es soviel Hass, um sich darauf zu besinnen, dass man eigentlich nur ein bißchen Liebe braucht?

Insiders: filming on the Irish border

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