Wie geht es weiter mit Europa nach der Deutschland-Wahl?

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Unsere Debatte mit Europa-Abgeordneten in Straßburg

Die Parlamentswahl in Deutschland wird auch Einfluss auf die Zukunft der Europäischen Union haben. Die Wähler des bevölkerungsreichsten Mitgliedsstaates entscheiden letztlich auch darüber, ob Angela Merkel oder Martin Schulz Fragen wie die Reform der Eurozone, Verteidigung oder Einwanderung in Angriff nimmt. Zwar führen die Christdemokraten in den Umfragen – doch viele Wähler sind noch unentschieden. euronews lud Europaparlamentarier in Straßburg zur Debatte:

- Dimitrios Papadimoulis aus Griechenland,
einer der Vizepräsidenten des Europaparlaments, Abgeordneter der Vereinigten Europäischen Linken, Nordische Grüne Linke

-Marietje Schaake aus den Niederlanden
von der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa

- David McAllister aus Deutschland,
ehemaliger Ministerpräsident Niedersachsens und nun Europa-Abgeordneter der (christdemokratischen) Europäischen Volkspartei

- Udo Bullmann, ebenfalls aus Deutschland,
von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament.

Interessiert der deutsche Wahlkampf das Ausland?

Stefan Grobe, euronews:
Das war ja ein ziemlich lahmer Wahlkampf, wenn wir ihn mit den letzten Wahlen in den USA, in Frankreich und in Großbritannien vergleichen. Herr Papadimoulis, hat der Wahlkampf in Deutschland überhaupt irgendjemanden in Griechenland interessiert?

Dimitrios Papadimoulis:
Er ist sehr interessant, nicht nur für die Griechen, sondern für die gesamte Europäische Union. Denn Deutschland ist der Motor des Euroraums, die stärkste Volkswirtschaft – und wir sind gespannt, ob die neue Regierung weiterhin so ein, sagen wir mal, ‘deutsches Europa’ schafft – mit dem Schäuble-Dogma ohne Orientierung auf Wachstum, auf den nötigen Umbau der Eurozone, wie es Macron schon vorgeschlagen hat – oder ob wir ein paar Schritte hin zu einem europäischeren Deutschland machen, das in einen Dialog investiert und reinvestiert, der den europäischen Zusammenhalt festigt.

Stefan Grobe, euronews:
Redet man in Griechenland über den deutschen Wahlkampf?

Dimitrios Papadimoulis:
Ja, natürlich.

Stefan Grobe, euronews:
Wie steht es mit den Niederlanden? Deutschland ist Ihr großer Nachbar, Frau Schaake, wie sehen Sie bislang den Wahlkampf?

Marietje Schaake:
Natürlich ist es eine sehr wichtige Wahl für die Zukunft Europas. Viele von uns wären wohl glücklich, wenn sie schon vorbei wäre und wir uns wieder auf Europas Zukunft konzentrieren könnten, statt die Wahl in Deutschland abzuwarten. Aber viele Leute in den Niederlanden haben voller Erstaunen diese ruhige Debatte gesehen, in der zwei Kandidaten grundlegende Themen diskutierten, ohne sich verbal mit Tomaten zu bewerfen, wie wir das aus anderen Ländern kennen.

Wie steht es um die deutsche “Gemütsverfassung”?

Stefan Grobe, euronews:
Ja, eine ruhige Debatte, das kann man, glaube ich, so sagen. Es ist kein Geheimnis, dass Merkels Wiederwahl für eine vierte Amtszeit so gut wie sicher scheint und die Umfragen in dieser Hinsicht waren auch bemerkenswert stabil über gut ein halbes Jahr. Was sagt uns das über Deutschlands Gemütsverfassung? Offensichtlich wollen die Deutschen keinen Wechsel, sie wollen keinen, der die Dinge aufrüttelt wie Donald Trump. Wie steht es um die deutsche Gemütsverfassung, Herr McAllister?

David McAllister:
Mein Eindruck ist übrigens, dass der Wahlkampf gar nicht SO lahm war, wie Sie sagen. Zehntausende Wahlkampfhelfer sind täglich auf der Straße und kämpfen um eine höhere Beteiligung und gute Ergebnisse. Ich denke, am Ende wird Kanzlerin Merkel gewinnen, weil die Deutschen gute Gründe haben, sie zu wählen. Sie ist ein Stabilitätsanker für Deutschland und ein Stabilitätsanker für Europa. Die deutsche Wirtschaft brummt, wir haben einen ausgeglichenen Haushalt und sind, wie unserer Kollege aus Griechenland sagte, der Motor der Eurozone. Lassen Sie uns also auf diesem guten Weg weitergehen. Natürlich sind da einige Reformen in den nächsten Jahren notwendig. Aber die Deutschen mögen keine Experimente, und die Alternative zu einer Regierung unter Merkel wäre nur eine Koalitionsregierung von Schulz als Kanzler zusammen mit Grünen und Sozialisten oder Kommunisten – und das ist etwas, das die Deutschen nicht wollen.

Stefan Grobe, euronews:
Stabilitätsanker – Herr Bullmann? Sie sind Teil dieses Ankers – die Sozialdemokraten regieren mit. Martin Schulz befindet sich in einer sehr schwierigen Position, nicht wahr? Seine Partei war Teil der Großen Koalition, insofern kann er sich nicht wirklich von der Kanzlerin abgrenzen. Dennoch, denke ich, könnte das Klima in diesem Wahlkampf den Sozialdemokraten zum Vorteil gereichen. Es gibt so viele Themen wie soziale Gerechtigkeit oder Bewahrung des Wohlfahrtstaates, die offensichtlich eine sozialdemokratische Antwort brauchen könnten. Warum punktet Martin Schulz in diesem Klima nicht mehr?

Udo Bullmann:
Bevor Sie zu traurig über die Umfragen zu diesem Zeitpunkt sind, kann ich nur jeden ermutigen, bis zum 24. September, sechs Uhr, Wahlkampf zu machen – und dann werden wir wissen, was die Leute in Deutschland denken. Beurteilen Sie das Wahlergebnis also nicht vorschnell. Und wir machen Wahlkampf jeden Tag. Eins muss ich in der Tat sagen, denn wir wollen hier ja die Lage vom europäischen Standpunkt aus betrachten: Europa musste in den vergangenen Jahren große Herausforderungen meistern – da wird jeder zustimmen. Und wir müssen immer noch große Herausforderungen meistern. Und es war überraschend, dass das deutsche Publikum sich normalerweise nicht allzu sehr um das, was in der EU läuft, kümmert, und dass Martin Schulz das in diesem Wahlkampf geändert hat, die Sozialdemokraten haben das in diesem Wahlkampf geändert. Denn wir bringen Europa zurück in die Debatte in Deutschland.

Lehren, die gezogen werden müssen

Stefan Grobe, euronews:
Bloomberg nannte Deutschland kürzlich das “Silicon Valley politischer Innovation”, einen Inkubator für neue Institutionen, Ideen, Politik. Frau Schaake, was kann Europa von Deutschland lernen?

Marietje Schaake:
Ich denke, Deutschland sollte eine Portion Innovation nehmen, die Rolle von Kreativ-Industrien und Start-ups in der Wirtschaft stärken und eine zukunftsorientiertere Wirtschaft anpeilen – dies sollte auf der Tagesordnung stehen, wenn ich eine Wunschliste aufstellen könnte. Aber was können die Europäer von Deutschland lernen? Viel, meine ich. Ich bin überhaupt nicht der Ansicht, dass Deutschland zu sehr nach innen fokussiert ist. Wir haben außergewöhnliche Schritte gesehen, etwa bei der Außen- und Verteidigungspolitik, wo Deutschland in der Lage war, sich von seiner historischen Last zu befreien, auf globaler Ebene eine stärkere Position einzunehmen, da wo es absolut nötig war, und ich hoffe ganz ehrlich, dass dies so weitergeht.

Dimitrios Papadimoulis:
Ich denke, beide Seiten haben voneinander zu lernen. Die Griechen zum Beispiel oder andere Mitgliedsstaaten können einige Lehren aus dem Aufschwung der deutschen Wirtschaft ziehen. Und die Deutschen haben eine Menge Lektionen zu lernen darüber, dass wachsende Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden, den reichen und den armen Menschen, zwischen den Regionen in Europa eine Gefahr in sich birgt – nicht nur für den europäischen Einigungsprozess, sondern auch für die deutschen Interessen. Deshalb denke ich, die Frage für den kommenden Regierungschef in Deutschland und die kommende Regierung ist: Wollen wir ein stärker europäisches Deutschland oder wollen wir den Weg des ‘deutschen Europas’ mit Schäubles Disziplin weitergehen?

Wie soll die Einwanderung politisch gemeistert werden?

Stefan Grobe, euronews:
Ich möchte jetzt auf eins der wichtigsten Themen im Wahlkampf zu sprechen kommen, alle Umfragen belegen dies – nämlich das Thema Einwanderung. Wir haben über Lektionen gesprochen, die gelernt werden müssen. Welche Lehren wurden aus den vergangenen zwei Jahren gezogen, und wo soll es jetzt langgehen? Offenkundig ist das Thema aus den Schlagzeilen verschwunden, aber wenn man die Deutschen fragt, was das wichtigste Thema ist, dann antworten sie ‘Einwanderung’. Herr McAllister, Ihre Meinung zur Einwanderung?

David McAllister:
Also, abgesehen davon, dass Deutschlands Wirtschaft so gut läuft und von der Frage, wie wir dies beibehalten können, spielt Einwanderung in diesem Wahlkampf zweifellos eine große Rolle. Wir alle wissen, dass 2015 ein sehr schwieriges Jahr für Deutschland war, als nahezu eine Million Menschen kamen, und wir wissen, dass dies sich so nicht wiederholen wird. Und seitdem haben wir viel getan, um unsere Grenzen besser zu schützen und illegale Einwanderung besser zu kontrollieren. Ich finde, wir müssen unterscheiden zwischen Flüchtlingen und Asylsuchenden einerseits, die nach Europa, nach Deutschland kommen – und wir haben eine historische Verantwortung, diesen Menschen Schutz und Obdach zu gewähren. Auf der anderen Seite müssen wir die illegale Einwanderung nach Nordeuropa, speziell nach Deutschland, bekämpfen. Ich kann verstehen, dass hunderttausende Menschen aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen wollen, doch wir müssen das besser organisieren. Wir wissen als Deutsche aber auch, dass wir dies nur gemeinsam in Europa tun können.

Stefan Grobe, euronews:
Frau Schaake, stimmen Sie dem zu?

Marietje Schaake:
Sie fragten nach Lehren, die gezogen wurden. Ich denke, dass Deutschland und insbesondere die Kanzlerin in entscheidenden Momenten moralische und mutige Führung gezeigt haben. Und das, denke ich, ist etwas, das wir alle in Europa gesehen und geschätzt haben. Sie hat das im Angesicht realer Herausforderungen getan, angesichts der Flüchtlinge, die nach Europa, Deutschland eingeschlossen, kamen. Aber der Gedanke, dass Menschen, die vor Krieg fliehen, nach internationalem Recht Schutz verdienen, ist wirklich wichtig.

Wie soll die EU mit der Türkei umgehen?

Stefan Grobe, euronews:
Herr Papadimoulis, ein Schlüsselfaktor bei der ganzen Debatte um Einwanderung, ein Schlüsselpartner, ist die Türkei, Ihr Nachbar. Dort haben sich die Dinge verschlechtert. Wie gehen wir mit der Türkei um – sollte es da eine gemeinschaftliche europäische Reaktion geben?

Dimitrios Papadimoulis:
Wir müssen uns mehr um gemeinschaftliche europäische Reaktionen bemühen. Die Flüchtlingskrise anzugehen und die Flüchtlinge in proportionaler Weise umzuverteilen, heißt Konfrontation mit Mitgliedsstaaten wie Ungarn und Polen, die ihre Verpflichtung nicht einhalten. Wir müssen die Genfer Konvention umsetzen. Und für eine Union von 500 Millionen Menschen ist es doch wohl leicht, eine Lösung für 1,5 Millionen Flüchtlinge zu finden. Es ist schade für Europa, dass Nationalismus sich breit macht, wie er auch in der deutschen Politik mit der AfD vertreten ist – das ist eine rechtsextreme Partei.

Stefan Grobe, euronews:
Herr McAllister, wie reagieren wir standhaft auf Erdogan und unterstützen gleichzeitig die türkische Opposition – denn viele Menschen in der Türkei wünschen sich immer noch ein engeres Verhältnis mit der Europäischen Union. Wo liegt der schmale Grat, auf dem wir hier wandern müssen?

David McAllister:
Die Türkei ist ein wichtiger Nachbar, ein wichtiger Partner und ein NATO-Verbündeter. Und das Land, in dem Herr Bullmann und ich leben, ist Heimat von Millionen Menschen türkischer Abstammung. Viele von ihnen sind heute deutsche Staatsbürger. Ich persönlich bin sehr traurig über die Verschlechterung der Lage in der Türkei. Sie entfernt sich von unseren gemeinsamen europäischen Standards. Und deshalb bin ich für das Einfrieren der Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Türkei. Es macht einfach keinen Sinn, weiter mit dem Erdogan-Regime in Ankara zu verhandeln, auch nur ein weiteres Beitrittskapitel zu eröffnen. Deshalb müssen wir auf der einen Seite sehr klar sagen, dass wir nicht bereit sind, diese Entwicklung in der Türkei zu unterstützen, denn das hat nichts mit unseren gemeinsamen europäischen Werten zu tun. Auf der anderen Seite müssen wir diplomatische Kanäle mit Ankara offen halten und natürlich auch immer im Kopf behalten, dass bei den letzten Wahlen, beim letzten Referendum, 48 Prozent der türkischen Wähler Herrn Erdogan nicht unterstützt haben. Deshalb sollten wir weiterhin die Demokratie und die Zivilgesellschaft in diesem großen Land unterstützen.

Stefan Grobe, euronews:
Herr Bullmann?

Udo Bullmann:
Ich würde die Idee unterstützen, dass wir speziell in unserem Land enge Verbindungen mit der Türkei haben, wirtschaftliche, kulturelle Verbindungen, viel Austausch. Wenn man sich Kulturerzeugnisse ansieht, wie Filme, dann empfindet man das immer wieder, diesen gewissen positiven Austausch zwischen der deutschen und der türkischen Kultur – und das sollten wir nie aufgeben. Wir sollten ganz besonders zu unseren Freunden in der Türkei halten, den jungen Leuten, zu denen, die sehnsüchtig auf einen Wandel hoffen, auf mehr demokratische Freiheit, auf eine liberalere Gesellschaft. Wir sollten diese Menschen nie fallenlassen. Und das ist meiner Ansicht nach auch das Markenzeichen unseres Verhaltens. Dass wir keine Verletzung der Bürgerrechte zulassen dürfen, etc. etc. Wir sollten Erdogan nicht erlauben, Menschenrechte auszuhebeln.

Der deutsch-französische Motor

Stefan Grobe, euronews:
Ich möchte noch etwas anderes ansprechen, das in den Medien gefeiert wurde – das Wiedererstarken des deutsch-französischen Motors. Glauben Sie, dass die Dinge sich jetzt schneller voranbewegen, Frau Schaake?

Marietje Schaake:
Sie könnten, und sie müssen. Mit einer richtigen Führung in den Mitgliedsstaaten, die begreift, was zu Hause getan werden muss, um wieder Vertrauen und Führung für Europa aufzubauen, kann viel geschehen. Ich finde, Präsident Macron macht mit seiner Reform-Agenda einen wichtigen Schritt auf dieses Ziel hin. Wenn Deutschland sich bewegen und von einigen der Sparmaßnahmen ablassen soll – die meiner Ansicht nach schon dringend gebraucht wurden, um Vertrauen wiederherzustellen und allen zu zeigen, dass Übereinkünfte und gemeinsame Regeln auch eingehalten werden … Aber, wenn Frankreich jetzt also mit Reformen folgen kann, dann wird dies meiner Ansicht nach Deutschland erlauben, auch einen Schritt nach vorn zu machen und Frankreich zu helfen, einige Wirtschaftswachstumsziele auch zu erreichen und aus dieser schwierigen Lage herauszukommen. Und natürlich können sie gemeinsam mit anderen europäischen Ländern auf ein Europa hinarbeiten, das auf globaler Ebene stärker ist. Denn das ist es, was wir brauchen.

Stefan Grobe, euronews:
Herr McAllister, Sie haben eine persönliche, eine familiäre Verbindung mit Großbritannien. Wird der deutsch-französische Motor wegen des Brexits erstarken?

David McAllister:
Nun, diese deutsch-französische ‘Amitié’, diese Freundschaft, das ist schon etwas ganz Einzigartiges, Spezielles. Kein Land steht Deutschland so nahe wie Frankreich, und wir wissen, dass die deutsch-französische Partnerschaft der Motor für Europa ist. Ich denke, die Europäer können erwarten, dass nach den Wahlen in Deutschland, wenn wir eine neue Regierung haben, konkrete Vorschläge von Deutschland und Frankreich kommen werden, wie die Europäische Union modernisiert werden soll, und insbesondere die Eurozone. Aber eins ist wichtig: Natürlich müssen Deutschland und Frankreich Führung zeigen, aber sie sollten die übrigen 26 auch nicht erpressen. Die Europäische Union ist eine Familie von 28 souveränen Mitgliedsstaaten, und es völlig egal, ob sie klein oder groß sind, sie haben alle dieselben Rechte, und sie müssen alle mit demselben Respekt behandelt werden. Deshalb würde ich sagen, deutsch-französische Führung aus dem Hintergrund, sehr inklusiv – das wäre mein Wunsch für die Zukunft.

Udo Bullmann:
Inspiration und keine Bevormundung, so würde ich meinen Standpunkt zusammenfassen. Denn ich denke, genau, ja, Deutsche und Franzosen müssen zusammenarbeiten und die Initiative ergreifen. Wann immer diese beiden in einer Sackgasse stecken, haben wir Probleme in ganz Europa, die dann gelöst werden müssen. Aber andererseits müssen beide Seiten intelligent genug sein, auch die Belange der Peripherie zu verstehen, der Randstaaten, die direkt an der Front stehen. Es war nicht besonders mutig, all die Dublin-Verpflichtungen über Griechenland und Italien zu verhängen. Kanzlerin Merkel war mutig, als in Ungarn die Lage eskalierte, und wir haben sie dafür bewundert. Aber als Strukturelement ist es nicht wirklich mutig, Länder allein dastehen zu lassen. Deshalb müssen wir mit einem neuen, gemeinsamen Ansatz die Asylpolitik angehen und auch nun, nach der Zeit der Sparpolitik, gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.

Stefan Grobe, euronews:
Sie haben den Reformprozess erwähnt. Verfolgen Deutschland und Frankreich wirklich dieselbe Linie, was Tiefe und Tempo der Reformen angeht? Mein Eindruck ist, dass Präsident Macron da viel ehrgeiziger ist als Angela Merkel. Riskiert Frankreich in der politischen Realität, der Junior-Partner im deutsch-französischen Verhältnis zu sein – und wird es das hinnehmen?

Udo Bullmann:
Wenn die deutsche Politik intelligent gemacht wird, dann startet man auf gleicher Augenhöhe – und nichts anderes!

Stefan Grobe, euronews:
Herr Papadimoulis, hat Griechenland seine Hausaufgaben gemacht? Und was erwarten Sie von der künftigen deutsch-französischen Zusammenarbeit?

Dimitrios Papadimoulis:
Ich denke, Griechenland hat in den vergangenen Jahren eine Menge getan. Das griechische Volk hat in der letzten Zeit sehr gelitten unter schlechter politischer Führung, und nun erholen wir uns wieder. Aber heute braucht nicht nur Griechenland, sondern auch Europa und maßgeblich der Euroraum einen Neustart. Nicht nur eine Währungsunion, sondern eine viel stärkere politische Union, eine stärkere wirtschaftliche Union, ein solideres Budget, ein Wachstum, von dem alle profitieren. Eine stärkere Kohäsionspolitik, denn es ist wichtig, nicht nur für die Europäer, sondern für die ganze Welt, in den europäischen Vereinigungsprozess zu investieren! Das ist die fortschrittlichste Idee, die es gibt! Und ich denke, es ist zwar gut, in die deutsch-französische Allianz zu investieren, aber man darf dabei nicht vergessen, dass wir eine Union von 28, bald von 27 sind. Deshalb ist es wichtig, der wachsenden Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden ins Auge zu sehen, dem Mangel an Zusammenhalt zwischen den Menschen, den Regionen, und in unsere gemeinsame Zukunft in inklusiver Weise zu investieren.

Das ‘beste Deutschland, das wir je hatten’?

Stefan Grobe, euronews:
Herr Bullmann, hat Angela Merkel recht, wenn sie sagt, dass die Deutschen heute im besten Deutschland leben, das sie je hatten?

Udo Bullmann:
Ich finde, der Slogan ist nicht schlecht. Aber wir sollten uns mal die Zahlen ansehen. Zur Zeit herrscht ein positives Wirtschaftsklima in Deutschland. Aber wir müssen uns zwei Fragen stellen: Kommt dies wirklich allen zugute? Allen? Und wird es lange anhalten? Ist es wirklich zukunftsfähig? Wenn man sich die Zahlen anschaut, und die kann man nachlesen, dann sieht man, dass es eine große Gefahr gibt für die EU und für die Eurozone, einen Prozess der De-Industrialisierung, der da abläuft. Und für Deutschland gilt das genauso. Die langfristigen Daten zeigen uns, dass die öffentliche und die private Investitionsrate in Deutschland weit hinter dem Durchschnitt der Industrieländer zurückliegt. Da haben wir also wirklich ein Problem. Das Problem steht nicht auf der Tagesordnung, wir reden darüber nicht genug.

Stefan Grobe, euronews:
Herr McAllister, was antworten Sie darauf?

David McAllister:
Ich bin da anderer Meinung. Kein Land ist perfekt, Deutschland bei weitem nicht. Natürlich bleibt immer noch mehr zu tun, wir müssen weiterhin die Armut bekämpfen, die Arbeitslosigkeit, die zwar sehr gesunken ist, aber wir haben noch lange nicht Vollbeschäftigung. Wir müssen mehr in unsere öffentliche Infrastruktur investieren, und genau das hat die Regierung für die nächsten vier Jahre vor.

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