Internationaler Haftbefehl als Damokles-Schwert für Syriens Folterer

Internationaler Haftbefehl als Damokles-Schwert für Syriens Folterer
Von Euronews
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HRW-Experte Nadim Houry über die Möglichkeiten, Folter und Kriegsverbrechen in Syrien international strafrechtlich zu verfolgen

Inwieweit können Folter, Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in Syrien geahndet und die Täter auch im Ausland zur Rechenschaft gezogen werden? Wir befragten dazu Nadim Houry, einen Syrien- und Rechtsexperten von Human Rights Watch.

Sophie Claudet, euronews:
“Was ist Ihrer Erfahrung nach das Ausmaß der Folter in Syrien? Ist das etwas Systematisches, ob in den Gefängnissen der Regierung, ob in Krankenhäusern? Wir wissen, dass medizinische Einrichtungen als Folterzentren genutzt wurden. Wie weitverbreitet ist die Folter, und warum?”

Nadim Houry, Human Rights Watch:
“Sie ist systematisch und weitverbreitet. Ich habe fünfzehn Jahre lang im Bereich Menschenrechte gearbeitet, und ich habe selten solch eine systematische Folter-Praxis gesehen wie in Syrien. Sie ist grundsätzlich ein Kontrollmechanismus der Sicherheitskräfte gegenüber der Bevölkerung. Sie ist nicht neu, sie war seit den späten siebziger Jahren ein Machtpfeiler des syrischen Regimes. Sie nutzen dort tatsächlich einige derselben Methoden, die meine Kollegen schon in den achtziger Jahren dokumentierten. Warum sie das tun? Weil sie, wie viele Autokratien und Diktaturen, eine Mauer der Angst errichten wollen, um die Bevölkerung in Schach zu halten und zu kontrollieren. Und als der Aufstand 2011 begann, sahen wir, wie diese Praxis an Umfang und Stärke zunahm, um noch mehr Menschen zu kontrollieren.”

euronews:
“Wir haben in unserer Reportage gesehen, dass etliche Folterer inzwischen in Europa gelandet sind. Wurden einige von ihnen schon verurteilt?”

Nadim Houry:
“Es gab in der Tat einige Fälle von Strafverfolgung in Europa, insbesondere in Schweden und Deutschland. Wir reden da aber über nicht mehr als ein Dutzend Fälle in beiden Ländern. Es gab einige Verurteilungen wegen Folter, in manchen Fällen wurden Leute wegen Terrorismusdelikten oder Exekutionen angeklagt.”

euronews:
“Syrer wurden ebenfalls von Rebellengruppen gefoltert. Sind Sie auch auf solche Fälle gestoßen, und können diese Verbrechen genauso strafverfolgt werden?”

Nadim Houry:
“Ja, auf jeden Fall. Wir haben auch Folter und Exekutionen durch andere, regierungsfeindliche Gruppen dokumentiert. Die Gruppe, die als Freie Syrische Armee bekannt wurde, und Gruppen, die mit der Al-Nusra-Front oder dem IS in Verbindung stehen. Auch solche Fälle wurden in Europa strafrechtlich verfolgt. Was die schiere Zahl dieser Fälle auf europäischem Boden angeht, waren die meisten Angeklagten Mitglieder von Gruppen, die als bewaffenete syrische Opposition eingestuft werden, oder eben Al-Nusra oder IS. Warum? Weil mehr von diesen Leuten aus Syrien geflohen sind, und die Strafverfolgung dadurch leichter war.”

euronews:
“Wie steht es mit den Tätern, die noch in Syrien sind, oder denjenigen, die die Befehle gaben oder die Folter deckten? Reichen die Zeugenaussagen der Opfer, die wir in unserer Reportage sahen, aus, um solche Leute zu belangen?”

Nadim Houry:
“Wenn man feststellt, dass man genug Beweise hat, ohne die Person verhören zu können, könnte potenziell ein örtlicher Haftbefehl folgen, und vielleicht eines Tages eine Form von internationalem Haftbefehl, wenn es irgendeine Übereinkunft zwischen zwei Staaten gibt. Wenn der Täter in Syrien bleibt, kann man im aktuellen Kontext wenig tun, um ihn zu verhaften. Aber wenigstens kann ein Haftbefehl auf europäischer Ebene als Damoklesschwert über den Köpfen dieser Täter dienen, falls sie je nach Europa reisen.”

euronews:
“Lässt sich mit Fug und Recht sagen, selbst wenn es eine Weile dauern wird, bis den Opfern Gerechtigkeit widerfährt, dass all die Beweise und die Zeugenaussagen, die gesammelt werden, vielleicht eines Tages sehr nützlich sein werden, um sie vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu verwenden oder vor einem anderen Gericht, das eingerichtet werden könnte?”

Nadim Houry:
“Wir sollten nicht vergessen, dass die Strafverfolgung in Europa nur eine Komponente einer viel breiteren juristischen Auseinandersetzung mit dem Syrien-Konflikt sein sollte, in dem es so viele Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gab. Es muss weiterhin ein politischer Schritt getan werden, um die Sache an ein internationales Gericht zu übergeben. Im Weltsicherheitsrat wird das bei Russlands Widerstand wohl nicht passieren. Gibt es alternative Wege, durch die UN-Vollversammlung? Wir wünschen uns das und werben bei vielen Regierungen dafür. Aber hoffentlich werden, wenn die Gewalt in Syrien abflaut, die Stimmen im Land selbst lauter, die nach Gerechtigkeit rufen. Und wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft diese Stimmen verstärkt.”

euronews:
“Aber die Syrien-Frage ist vor allem eine politische. Glauben Sie, dass die Justiz die Rolle der Politik übernehmen kann?”

Nadim Houry:
“Kann Justiz die Rolle der Politik übernehmen? Wir denken nicht gern in solchen Begriffen. Es geht mehr darum, ob man für die Justiz Bahn brechen kann, und die Saat für Rechenschaft aussäen kann. Und wenn es politisch unmöglich ist, heute Rechenschaft zu erreichen, weil hochrangige Angehörige der Sicherheitsdienste Syrien nicht verlassen, kann man wenigstens heute die Saat aussäen, dass sie das nächste Mal, wenn sie ausreisen, verhaftet werden. Kann man heute die Saat aussäen, dass Syrien nicht heute, aber vielleicht in fünf Jahren ein unabhängiges Justizwesen hat, das den Mut hat, diese Leute zu verfolgen? Das mag heute wie ein Vertrauensvorschuss aussehen. Aber die Erfahrungen in Ländern wie Argentinen oder im Tschad haben gezeigt, dass das, was heute unmöglich erscheint, morgen möglich ist. Doch der einzige Weg, um es morgen möglich zu machen, ist, wenn man heute daran zu arbeiten beginnt.”

Weiteres interessantes Interview mit Houry hier

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