Tierarznei für Menschen: Venezuelas Ärzte warnen vor medizinischer "Steinzeit"

Tierarznei für Menschen: Venezuelas Ärzte warnen vor medizinischer "Steinzeit"
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Von Camille BelloAlexandra Leistner
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Täglich sterben in Venezuela Menschen wegen des desaströsen Zustands des Gesundheitssystems. Der Direktor der Bürgervereinigung Codevida macht die Regierung direkt für die Missstände verantwortlich.

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Ärzte in Venezuela schlagen Alarm: Die seit Jahren andauernde Wirtschaftskrise und der Versorgungsnotstand haben immer dramatischere Konsequenzen. Transplantationspatienten weichen auf Tierarzneimittel aus und ehemals seltene Krankheiten treten wieder häufiger auf.

In 87 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser fehlen einer Studie zufolge Medikamente, drei Viertel der Krankenhäuser haben nicht ausreichend Medizinprodukte, wie etwa Instrumente, Tücher, Pflaster, Spritzen und andere Ausrüstung.

"Es ist ein Rückschritt. Das haben wir schon einmal erlebt, es hieß Steinzeit und die Menschen starben im Alter von 20 Jahren. Nur private Kliniken können noch operieren, aber auch dort gibt es eine Knappheit. Es ist eine landesweite Situation. Apotheken sind leer, sie füllen ihre Regale mit Wasserflaschen", sagte eine venezolanische Ärztin, die Euronews bat, ihre Anonymität zu wahren.

Seltene Krankheiten treten wieder auf

"Die Krise hat verschiedene Facetten, darunter das Wiederauftreten von Krankheiten, die vor Jahrzehnten ausgerottet wurden, einschließlich Malaria und Diphtherie", sagte Julio Castro, ein venezolanischer Arzt und Spezialist für Infektionskrankheiten gegenüber Euronews. "Gestern habe ich einen Jungen im Kinderkrankenhaus in Caracas gesehen, bei dem Diphtherie diagnostiziert wurde. Er musste sterben. Es handelt sich um eine Epidemie, die jetzt aktiv ist und mit Impfstoffen hätte bekämpft werden müssen. Das Gleiche gilt für Malaria."

"Es ist ein Zeichen für eine absolute Verschlechterung des Gesundheitssystems. Wir hatten 400.000 Malariafälle im Jahr 2017, 200.000 im Jahr 2016 und 120.000 im Vorjahr. In den 80er Jahren gab es nur 1.200 Fälle."

"In Venezuela wird die Kampagne zur Malariabehandlung und -prävention zu 100% von der Regierung verwaltet. Das Militär kontrolliert Malaria-Medikamente. Es gibt einen Schwarzmarkt, der eng mit der Regierung verbunden ist, weil sie es verteilen", sagt Dr. Castro.

16.000 Leben bedroht

Die Coalition of Organizations for the Right to Health and Life (Codevida), ein Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, hat die venezolanische Regierung für "die Todesfälle und schweren Schäden am Gesundheits- und Ernährungszustand der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, die täglich auftreten und zunehmen", direkt verantwortlich gemacht.

In einer Erklärung forderte der Verband die Regierung auf, ihrer Verpflichtung nachzukommen, indem sie mit internationalen Organisationen zusammenarbeitet.

Francisco Valencia, Direktor von CODEVIDA, wies in einem Interview mit Euronews auf die schlimme Situation von Transplantatempfänger im Land hin. Wenn nicht im kommenden Monat etwas getan werde, sei das Leben von 16.000 Patienten, die an Nierenversagen leiden, unmittelbar in Gefahr.

"Seit 2017 sind neun Medikamente, die verhindern, dass ein Patient ein transplantiertes Organ abstößt, vollständig vom Markt verschwunden. Bei 30 Transplantationspatienten wird das neue Organ bereits langsam abgestoßen. 20 Menschen haben es innerhalb von zwei Monaten verloren, und fünf sind gestorben. So etwas hat es noch nie gegeben", erklärte Valencia.

"Einige Menschen nehmen veraltete Medikamente. Andere nehmen sie unregelmäßig ein. Transplantat- Patienten mussten in Tierheime und Tierkliniken gehen, um ein Äquivalent zur Medizin zu nehmen", so Valencia.

Eine 'künstliche' Krise

Die venezolanische Regierung will die humanitären Krise im Land nicht anerkennen. Es "ist eine falsche Aussage", sagte die Präsidentin der verfassunggebenden Versammlung Delcy Rodriguez bei einem Treffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Jahr 2017.

Venezuelas Gesundheitsminister Luis López sagte Ende letzten Jahres, er werde keine humanitäre Hilfe aus dem Ausland akzeptieren.

Niemand werde vor dem 'Imperium' in die Knie gehen und er werde nicht zulassen, dass der 'rechte Flügel' eine angebliche humanitäre Hilfe erfindet, "während Präsident Nicolas Maduro sich um das Volk kümmert", sagte der Minister im staatlichen Sender VTV.

Diejenigen, die vor Ort arbeiten, sehen die Dinge ganz anders.

"Ich verstehe nicht, was die venezolanische Regierung meint, wenn sie sagt, dass es keine humanitäre Krise gibt. Wenn sie die Bezeichnung humanitäre Krise nicht mag, dann soll sie ein anderes Wort benutzen. Wir brauchen dringend Hilfe, um an Medikamente zu kommen", sagte Dr. Castro.

Präsident Maduros schlug nun einen "Ahnengesundheitsplans" zur Behandlung von Krankheiten mit Kräutern und Naturprodukten vor. Der Gesundheitsplan soll laut Maduro das Wissen der Vorfahren über die Heilkraft der Natur aufrechterhalten.

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