Carlos Moedas: "Europa muss greifbar werden"

Carlos Moedas: "Europa muss greifbar werden"
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Von Jeremy Wilks
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Der EU-Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation sprach über künstliche Intelligenz, Wissenschaft nach dem Brexit und Europas fehlende Verbindung zu den Menschen.

**Unser heutiger Gast bei "The Global Conversation" ist verantwortlich für das europäische Forschungs-, Wissenschafts- und Innovationsprogramm. Das bedeutet, dass er Tausende von Projekten betreut, die sich mit Themen wie Gesundheit, Ernährung, nachhaltige Entwicklung, Energie, künstliche Intelligenz und Robotik beschäftigen.
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Euronews-Reporter Jeremy Wilks:

"Carlos Moedas, Sie sind der Europäische Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation. Danke, dass Sie bei "The Global Conversation" dabei sind. Sie legen diese Woche ein Budget von 100 Milliarden Euro vor, das zwischen 2021 und 2027 für Forschung, Wissenschaft und Innovation ausgegeben werden soll. Das ist weit mehr als die 77 Milliarden Euro, die Sie derzeit ausgeben. Wofür werden Sie die zusätzlichen Mittel ausgeben?"

_Carlos Moedas, EU-Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation:
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"Zunächst einmal vielen Dank für Ihre Einladung. Das Budget ist wirklich einzigartig, ich denke, es zeigt wirklich, dass Europa eine Vision hat und Geld in die Zukunft investieren will. Es ist das erste Mal überhaupt, es ist der größte Anstieg in absoluten Zahlen. Und wir kommen auf 100 Milliarden Euro für Wissenschaft, Forschung und Innovation. Und wenn man darüber nachdenkt, haben die Länder eigentlich keine große Wahl. Wenn Sie Arbeitsplätze, wenn Sie Wohlstand schaffen und die Menschen anständig bezahlen wollen, damit sie ein gutes Leben haben, müssen Sie mehr in Wissenschaft und Innovation investieren."

Euronews:

"Gibt es bestimmte Bereiche, in die Sie mehr investieren wollen? Viele Leute reden zum Beispiel von künstlicher Intelligenz. Ist das etwas, wofür Sie mehr Geld ausgeben werden?"

Carlos Moedas:

"Unbedingt. Meiner Meinung nach muss das Programm vielseitiger werden. Man braucht einen Teil des Geldes für die Grundlagenforschung. Für von Neugierde getriebener Wissenschaft. Bei der man den Wissenschaftlern die Freiheit gibt, zu erfinden, zu erschaffen, zwischen den Disziplinen zu wechseln, um neue Dinge zu erschaffen. Aber dann gibt es die globalen Herausforderungen. Was sind die globalen Herausforderungen? Und für mich ist natürlich die künstliche Intelligenz eines der wichtigsten Instrumente, um diese globalen Herausforderungen zu lösen."

Euronews:

"Aber glauben Sie wirklich, dass wir in Europa die Auswirkungen für das nächste Jahrzehnt überblicken? Wir planen Richtung 2030 - glauben Sie, dass wir wirklich verstehen, welche Auswirkungen diese Technologie haben wird?"

Carlos Moedas:

"Ich denke, niemand weiß das, weder hier noch in den USA oder in China. Ich glaube, wir stehen wirklich am Anfang. Meine Vision ist, dass es mehr eine politische als eine technologische Entscheidung ist."

Euronews:

"Was meinen Sie damit?"

Carlos Moedas:

"Es ist schon komisch, dass wir bei künstlicher Intelligenz immer an Technologie denken. Meiner Meinung nach müssen wir politische Entscheidungen treffen. Und eine politische Entscheidung liegt für mich auf der Hand. Ich will künstliche Intelligenz, die mir hilft, besser zu werden. Die meine Intelligenz erweitert. Ich will keine künstliche Intelligenz, die mich ersetzt. Wenn Maschinen Aufgaben ersetzen, muss der Mensch derjenige sein, der die Aufgaben verbindet. Weil Maschinen das nicht tun. Maschinen haben keinen Willen. Maschinen machen das, was ihr Erbauer will. Wir müssen uns also darauf konzentrieren, neue Berufe zu schaffen. Sie werden sich sehr von den heutigen Berufen unterscheiden. Aber das wird unerlässlich sein, damit diese Maschinen ihre Aufgaben erfüllen können. Bei einer Stadt mit autonomem Verkehr wird es also keine Fahrer geben. Aber es wird 'Verkehrslotsen' geben, weil man den Verkehr kontrollieren muss. Die Berufe werden sich also ändern."

Euronews:

"Sie sprechen über Entscheidungen. Politische Entscheidungen. Dieses Budget, das Sie diese Woche vorlegen, gilt nach dem Brexit. 100 Milliarden Euro für 27 Mitgliedstaaten. Wer profitiert vom Brexit in den Bereichen Wissenschaft und Forschung?"

Carlos Moedas:

"Oh, das ist wirklich eine schwierige Frage, denn ich denke, niemand profitiert vom Brexit. Wir gewinnen nicht, Großbritannien gewinnt nicht. Meiner Meinung nach verlieren wir alle. Wir müssen die Emotionen herausnehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen."

Euronews:

"Glauben Sie, dass europäische Forscher mit britischen Forschern und Wissenschaftlern zusammenarbeiten können?"

Carlos Moedas:

"Oh, das müssen sie."

Euronews:

"Können Sie das wirklich garantieren?"

Carlos Moedas:

"Nein, diese Garantie kann ich nicht geben. Aber ich garantiere, dass Menschen tatsächlich stärker als Politik sind. Und wenn man an die britischen Universitäten geht, oder an andere Universitäten auf dem Kontinent, sieht man, dass Forscher heute keine Grenzen haben. In diesen Teams arbeiten Leute aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien oder Lettland. Und das ist etwas, was die Politik nicht zerstören kann. Die Frage ist, wer wird dafür bezahlen? Ich würde gern dazu beitragen, um das Vereinigte Königreich und die Europäische Union in einem Wissenschaftsprogramm zusammenzubringen. Heute kann ich das niemandem, der zuhört, garantieren. Leider. Aber wir sollten alle dafür kämpfen."

Euronews:

"Lassen Sie uns darüber sprechen, wo wir heute stehen. In Europa gibt es viele kleine und mittlere Unternehmen (KMUs). Viele von ihnen nehmen an diesen Forschungsprojekten teil, die Sie betreuen. Aber in Europa gibt es keine Unternehmen wie Amazon, Google, Facebook. Wir haben keine Unternehmer wie Elon Musk. Warum nicht?"

"Wir schauen zu negativ auf Europa"

Carlos Moedas:

"Erstens glaube ich, dass wir manchmal zu negativ auf Europa schauen. Denn wir waren wirklich führend in der ersten Welle des Internets: Tim Berners-Lee, der in der Schweiz arbeitet. Nokia, Siemens, das waren alle Europäer. In der zweiten Welle der Ubers und Facebooks und Elon Musks waren wir nicht erfolgreich. Und deshalb reden wir darüber, denn das ist die Gegenwart. Meiner Meinung nach wird es in der nächsten Innovationswelle viel mehr um Technologie, um Grundlagenforschung gehen wird. Und das ist für Europa eine neue Chance, wieder die Nase vorn zu haben.

Wir müssen uns also - und deshalb sind diese 100 Milliarden Euro wichtig - auf das Wesentliche konzentrieren. Künstliche Intelligenz. Blockchain, maschinelles Lernen - das sind die Dinge, in denen wir sehr gut sind. Wenn man sich die Anzahl der Veröffentlichungen anschaut, die wirkliche Wissenschaft, die gemacht wird, findet man sie in Europa. Wir sollten uns also keine Sorgen machen und sagen: 'Oh, wir haben kein Uber und Facebook'. Wir müssen denken: 'Wer werden die Ubers der Zukunft sein?'"

Euronews:

"Eines der Dinge, die Sie vorantreiben, sind große "Moonshot"-Projekte (Moonshots sind bahnbrechende Innovationen für globale Herausforderungen, so wie seinerzeit das Apollo-Projekt der NASA.). Sie haben über das Forschungsprojekt ITER gesprochen - Stromerzeugung aus Fusionsenergie, über den Versuch, Krankheiten wie Krebs und Alzheimer zu besiegen. Was davon ist wirklich realisierbar? Können europäische Forscher einige dieser großen Probleme lösen?"

Carlos Moedas:

"Ich finde es wichtig, Europa für die Menschen greifbar zu machen. Es geht also nicht nur um Wissenschaft, es geht darum, eine missionarische Wissenschaft zu haben, in der die Menschen verstehen, was wir tun. Heute ist das ziemlich schwierig. Die Leute verstehen nicht, was wir tun. Die Wissenschaft ist so komplex, dass man sie im Alltag nicht sieht. Wir brauchen also Missionen, wir müssen den Leuten die Projekte verständlich machen. Ich nenne Ihnen einige Beispiele, wie 'Europa muss der Erste sein, der Alzheimer heilt', oder 'Krebs in eine chronische Krankheit umwandeln', oder 'das erste Flugzeug ohne Kohlenstoffemissionen haben'. Das verstehen die Leute, damit bringt man sie hinter sich. Und damit schafft man eine Verbindung. Ich glaube, Europa hat den Kontakt zu den Menschen irgendwie verloren. Und die Wissenschaft kann wirklich ein gutes Instrument sein, um Europa wieder mit den Menschen zu verbinden."

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