"Judenhass wird in Deutschland heute wieder offener ausgelebt"

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Von Hans von der Brelie
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Daniel Alter plädiert für ein klares Konzept der Integration.

Daniel Alter ist Rabbiner, vor seinem Umzug von Berlin nach Frankfurt am Main war er mehrere Jahre lang Antisemitismus-Beauftragter der jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt. Alter hat sich mit allen Facetten des Antisemitismus auseinandergesetzt, Wurzeln und Ausformungen des Phänomens analysiert. Euronews-Reporter Hans von der Brelie traf Daniel Alter in dessen Frankfurter Wohnung, über dem Türbogen, der vom Flur in die gute Stube führt, hängt der Haussegen. Alter trägt Kippa. Das hat ihm in seinem Leben schon öfters handfeste Probleme eingebracht. 2012 wurde er in Berlin im Beisein seiner kleinen Tochter zusammengeschlagen. Thema des ausführlichen Hintergrundgesprächs mit dem Rabbiner: Gibt es einen "neuen" Antisemitismus in Deutschland? Wie damit umgehen?

Euronews:

"Als Reaktion auf mehrere antisemitische Zwischenfälle haben Berlin, Frankfurt am Main und noch einige andere Städte in Deutschland zum öffentlichen Tragen der Kippa aufgerufen. Macht so ein Kippa-Tag Sinn?"

Daniel Alter:

"Prinzipiell ist das eine gute Idee. Es ist ein Zeichen, das gesetzt wird, ein Zeichen, das der jüdischen Community ein Gefühl der gesellschaftlichen Solidarität vermittelt. Aber es darf nicht allein bei Zeichen bleiben, denn Zeichen allein verändern nichts."

Euronews:

"Gibt es so etwas wie einen "neuen" Antisemitismus in Deutschland? Und wenn ja, was kann man dagegen tun?"

Daniel Alter:

"Lassen sie mich mit einem Beispiel anfangen. Es gab eine jüdische Lehrerin an einer Schule in Berlin, die das Niveau des Judenhasses an ihrer Schule als unerträglich wahrgenommen hat. Dort wurde zum Beispiel das Wort Jude täglich auf dem Schulhof als Schimpfhof benutzt, was übrigens nicht nur an dieser einen Berliner Schule der Fall ist, sondern an sehr vielen deutschen Schulen. Als sie daraufhin mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit gegangen ist, war die Reaktion vieler ihrer Kollegen und auch der Schulleitung nicht unbedingt, sich mit den Schülern auseinanderzusetzen und an dieser Problematik zu arbeiten, sondern eher: Wieso bist du damit an die Öffentlichkeit gegangen? Statt sich mit denen, die den Judenhass praktizieren auseinanderzusetzen, heißt es: Deckel drauf. Und das ist gefährlich. Wenn so etwas in meiner Schule, meinem Betrieb, meinem Haus vorkommt, dann ist es meine Verwantwortung, damit konstruktiv umzugehen und dafür zu sorgen, dass diese Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit keinen Platz bekommt. Überall dort, wo eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Platz bekommt, da bekommen auch andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Platz."

Didaktik gegen Judenhass

Euronews:

"Können Sie das präzisieren?"

Daniel Alter:

"Ein schönes Schlagwort ist ja "diversity". Wir wollen alle in einer vielfältigen Gesellschaft leben. Dann sind wir aber auch in der Pflicht, all jenen, die diese Diversität behindern, indem sie Juden oder Sinti und Roma oder Homosexuelle oder Frauen oder welche Gruppe auch immer diskriminieren, ein deutliches Stopp-Schild vor die Nase zu halten. Konkret denke ich mir, dass die Arbeit an den Schulen von großer Wichtigkeit ist. Die Expertenkommission 2012 hat ganz eindeutig empfohlen, dass der Umgang mit Judenhass ein Teil der Lehrerausbildung werden sollte. Doch das ist bislang nur in sehr wenigen Bundesländern umgesetzt worden, wenn überhaupt. 2016 hatte das noch kein einziges Bundesland umgesetzt.

Euronews:

"Warum ist die Lehrerausbildung von so herausragender Wichtigkeit?"

Daniel Alter:

"Die Lehrer müssen die Fertigkeit an die Hand bekommen, mit Situationen mit israelbezogenem Judenhass, wie auch mit Situationen mit traditionellem Judenhass angemessen umzugehen und diese Konfliktsituationen aufzulösen. Dazu gehört auch, dass man im Hinblick auf die Shoa, den Holocaust, neue didaktische Methoden entwickelt, um dies zu vermitteln, weil - ganz klar - die migrantischen Communities einen ganz anderen Zugang dazu haben, da muss man pädagogisch anders damit umgehen. Auf einer anderen Ebene möchte ich hinzufügen, dass die Schulbücher in Deutschland den arabisch-israelischen Konflikt auf eine hochproblematische Art und Weise darstellen, wodurch Voruteilen und Hass Vorschub geleistet wird. Wir müssen in einer breiten Mehrheit unserer Gesellschaft das Bewusstsein schaffen, dass der Kampf gegen Judenhass, der Einsatz gegen Antisemitismus kein Kampf für Israel ist. Das ist ein Kampf für den Schutz und den Erhalt einer demokratischen Zivilgesellschaft.

Euronews:

"Gibt es so etwas wie einen 'neuen' Antisemitismus in Deutschland?"

Daniel Alter:

"Ich glaube nicht, dass man die Problematik des Judenhasses in Deutschland als neu bezeichnen kann. Wir haben hier Probleme, die teilweise schon sehr lange gewachsen sind. Es gab schon 2012 eine kleine Anfrage und einen Bericht der dem Bundestag vorgelegt wurde und der hat gezeigt, dass bis zu 25 Prozent aller Befragten zumindest latent antisemitische Motive in sich tragen."

Judenhass hat viele Quellen

Euronews:

"Was sind denn die Gründe für den Antisemitismus heute in Deutschland?"

Daniel Alter:

"Mit dem Wort 'Gründe' tue ich mich immer etwas schwer, weil jede Form von Rassismus oder gruppenbezogener Menschenverachtung niemals einen rationalen Grund hat. Deshalb würde ich eher von 'Rechtfertigung' sprechen oder von 'Quellen', aus denen Antisemitismus gespeist wird. Das kann man ganz klar analysieren. Wir haben zum einen die traditionelle Problematik mit dem rechtslastigen bis rechtsradikalen Segment der Bevölkerung. Es gibt im linken und linksextremen politischen Spektrum seit einigen Jahren einen sehr stark verbreiteten Judenhass, der sich als israelbezogener Antisemitismus äußert. Wir haben bedauerlicherweise auch in der Mitte der Gesellschaft, in der deutschen Kerngesellschaft, weitverbreitete antisemitische Voruteile - nicht: 'Ich hasse alle Juden', sondern: 'Na ja, ich habe ja auch Juden als Freunde, aber das, was die da immer mit den Finanzen machen, das ist schon problematisch...' - Und das nächste Problemfeld, auf dem wir mit Antisemitismus, mit Judenhass konfrontiert werden, kommt aus der islamischen Community in Deutschland, in der Judenhass vermutlich noch weiter verbreitet ist als in der Mehrheitsgesellschaft."

Euronews:

"Existiert zusätzlich zu dem 'klassischen Antisemitismus'in Deutschland mittlerweile auch ein von Migranten aus dem türkischen und arabischen Raum 'importierter Antisemitismus'?"

Daniel Alter:

"Mir persönlich ist da eine kleine Vorbemerkung wichtig. Wenn wir uns mit dem antisemitischen Judenhass der islamischen Community beschäftigen, dürfen wir darüber den hausgemachten Judenhass nicht vergessen, denn zwischen beiden bestehen ganz deutliche Wechselwirkungen, das beflügelt sich wechselseitig. Zweiter Punkt, der mir hier sehr wichtig ist: Wir dürfen nicht in gegenseitige Schuldzuweisungen verfallen."

Euronews:

"Sie wurden angegriffen, vor einigen Jahren in Berlin. Von wem denn?"

Daniel Alter:

"Rückblickend auf den physischen Angriff auf mich: Ich bin natürlich nicht von 'den' Türken, von 'den' Arabern, von 'den Moslems' angegriffen worden, sondern von einer kleinen Gruppe von Kriminellen. Und genau so müssen wir das auch der islamisch-moslemischen Community sagen: Es gibt zwar ein gravierendes Problem, aber wir sollten nicht in kollektive Schuldzuweisungen verfallen. Wenn wir die Ursachen analysieren, dann kristallisieren sich einige Sachen ganz klar heraus: Es gibt in der islamischen Community leider seit etwa 1300 Jahren eine problematische Geschichte eines gewachsenen Judenhasses, der sich seit den Anfängen des Islams auf der islamischen Halbinsel verfestigt und verbreitet hat, wie zum Beispiel die diskriminierende Kennzeichnung an der Kleidung. Der gelbe Stern unter der Nazi-Herrschaft hatte einen islamischen Vorläufer, das war ein gelber Punkt, den Juden an ihrer Kleidung tragen mussten. Auch Judenhut und ähnliches. Es gibt da eine ganz problematische, jahrhundertealte Geschichte, in deren Lauf sich Vorurteile verfestigt haben."

Euronews:

"Wie zum Beispiel?"

Daniel Alter:

"Wenn man sich die türkische Community ansieht, dann gibt es da zwei Probleme. Zum einen ist es so, dass in der türkischen Gesellschaft Verschwörungstheorien sehr weit verbreitet sind, zum Beispiel im Zusammenhang mit den Unruhen im Gezi-Park in Istanbul, dass die angeblich auf das internationale Judentum zurückzuführen seien. Ein anderes starkes und schlagendes Beispiel ist, was da so an Film- und Fernsehproduktionen kommt: Die Serien "Das Tal der Wölfe" kann man da nennen und „Sahras blaue Augen“. Einige Folgen sind moderne Varianten der Ritualmordlegende, die über Jahrhunderte hinweg zu Diskriminierung und Verfolgung von Juden geführt hat. Auch über arabische Fernsehkanäle kommt israelbezogener Judenhass immer wieder nach Deutschland. Satellitenkanäle wie Al-Manar, der Propagandasender der Hisbollah, sind ein sehr gro´ßes Problem. Hier wird teilweise aus islamisch-koranischen Motiven der Judenhass am Leben gehalten und in einen Kontext mit dem arabisch-israelischen Konflikt gebracht. Wenn man das in den Medien einmal sucht, dann findet man: Juden sind die Söhne von Affen und Schweinen, das ist ein klassisches islamisches Motiv. Gerade in einigen Stadtteilen in Berlin sieht man das gut. Al-Manar ist von Eutelsat abgeschaltet oder verbannt worden - aber sie können ganz deutlich sehen, in Stadtvierteln mit grossem migrantischen Bevölkerungsanteil sind dann ganz einfach zwei Satellitenschüsseln auf dem Dach. Auch mit Al-Arabiya und anderen Sendern kommen viele problematische Dinge mit."

Euronews:

"Wieso haben Sie aus den deutschen Großstädten gerade Berlin herausgegriffen?"

Daniel Alter:

"In Berlin haben wir eine ganze Reihe von palästinensischen Familien. Das sind zum Teil hochtraumatisierte Familien, die bereits seit dem ersten Libanonkrieg in Berlin leben und deren Kinder - das weiß ich von Sozialarbeitern, die diese Familien betreuen - permanent von Al-Arabiya oder schlimmer noch von Al-Manar berieselt werden, und so eine brutale und einseitige Darstellung des Nahostkonfliktes sozusagen schon von Kindesbeinen an eingetrichtert bekommen, in der 'der Jude' der Feind ist, der den armen Palästinensern das Land gestohlen hat. Die lernen, dass sie keine jüdischen Freunde haben sollen. Der Nahostkonflikt wird meines Erachtens sehr stark instrumentalisiert, um den Judenhass am Leben zu erhalten, und so bildet sich dann ein ganz explosives Gemisch. Im Hinblick auf diese palästinensischen Familien kommt noch hinzu, dass die seit Jahrzehnten in Berlin im Status der Duldung leben. In Neukölln haben - das kann man im Verfassungsschutzbericht auch konkret nachlesen - Hamas und Hisbollah ein Bein am Boden und versuchen, ihren Einfluss immer weiter auszudehnen, so auch die Muslimbruderschaft. Hamas und Hisbollah sind ganz klar islamfaschistische Organisationen, die in ihrer Charta den Genozid am jüdischen Volk verankert haben.

Judenhass wird wieder offener gezeigt

Euronews:

"Sie sind ein Mann mit langer Lebenserfahrung. Rückblickend auf die vergangenen Jahrzehnte und dann im Vergleich auf die heutige Zeit sehend, lässt sich eine Tendenz erkennen? Nimmt der Judenhass zu?"

Daniel Alter:

"Ich denke, man kann eine Tendenz ganz eindeutig beobachten in Deutschland: Judenhass wird heute wieder offener und aggressiver ausgelebt. Ich bin seit vielen Jahren in jüdischen Organisationen tätig und von Judenhass erfüllte Zuschriften in unseren Briefkästen gehören seit Jahrzehnten zu unserem täglich Brot. In den 80er- und bis in die 90er-Jahre kam derartige Hasspost von Leuten mit nicht unbedingt bildungsnahem Niveau, das waren meist ganz plumpe Beschimpfungen voller Schreibfehler. Was jetzt erschreckend ist, dass heutzutage Zuschriften von Menschen mit offensichtlich höherem Bildungsstand eintreffen. Zuschriften, die von Hass triefen, aber die eben auch von intelligenten Menschen geschickt formuliert werden, so, dass kein Straftatbestand erfüllt wird. Da wird Judenhass ganz klar ausgelebt, so nach dem Motto: 'Na ja, ihr Juden müsst euch ja nicht wundern, wenn wir euch alle hassen, denn man muss ja nur hingucken, was ihr da mit den armen Palästinensern macht.' Das erfüllt vermutlich keinen Straftatbestand und diese Leute unterschreiben dann heute ihre Briefe auch mit Namen und Adresse. Da sind Lehrer, Ärzte, Universitätsdozenten mit darunter, das hat schon erschreckenden Charakter. Das hat in den vergangenen Jahren einen aggressiveren und offeneren und weniger verhohlenen Charakter bekommen. Das (der alte und der neue Antisemitismus) schaukelt sich gegenseitig hoch und das ist tatsächlich aggressiver geworden in den letzten Jahren."

Euronews:

"Es kam ja auch zu Zwischenfällen bei Pro-Palästina-Demonstrationen."

Daniel Alter:

"Wir sind jetzt im 21. Jahrhundert und in Berlin ziehen Gruppen durch die Straßen und skandieren: 'Hamas, Hamas, Juden ins Gas.' Oder: 'Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein.' Solche Sachen. So etwas wird heute wieder auf deutschen Straßen skandiert. Da wird nicht nur zur Vernichtung von Israel aufgerufen, was ja an und für sich schon schlimm genug ist. Da werden auch ganz klassische, von Judenhass erfüllte Parolen herausgeholt."

Euronews:

"Gibt es einen Umschlag, ein Umkippen von der verbalen Ebene, von Beleidigungen, Zuschriften, antisemitischen Sprüchen, hin zu körperlichen Angriffen? Oder handelt es sich hierbei um Einzelfälle?"

Daniel Alter:

"Ich bin mir sicher, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt. Es gab ja in jüngster Vergangenheit eine ganze Reihe von problematischen Fällen, allein in den letzten eineinhalb Jahren, zum Beispiel Schüler, die Berliner öffentliche Schulen verlassen, weil sie das anti-judaistische, von Judenhass erfüllte Mobbing nicht mehr aushalten. Ich habe hier aus eigener Praxis als Beauftragter der jüdischen Gemeinde in Berlin zur Bekämpfung des Antisemitismus ein Beispiel aus der Zeit, als der israelisch-palästinensische Konflikt in Nahost wieder hochkochte und eine neue Eskalationsstufe erreicht hatte. Eine jüdische Erzieherin an einem öffentlichen Kindergarten hat sich damals an mich gewandt, die ist von der islamischen Erzieherin, ihrer Kollegin, in Gegenwart aller Kinder angesprochen worden: 'Euch Juden sollte man alle vergasen.' Bezeichnenderweise war die Reaktion der Kita-Leiterin darauf nur: 'Na ja, sie müssen mit der Kollegin ja nicht mehr in einem Raum arbeiten.' Ich glaube, dass zwischen dem Judenhass in der migrantischen Community und dem in der Kerngesellschaft, zwischen dem 'das-wird-man-ja-wohl-jetzt-mal-sagen-dürfen' einerseits und dem immer offener und aggressiver zutage tretenden Judenhass in den migrantischen Communities andererseits, durchaus Wechselwirkungen bestehen. Hier schaukelt sich was hoch."

Anfeindungen sind Alltag

Euronews:

"Sie selbst wurden tätlich angegriffen. Was genau ist damals geschehen?"

Daniel Alter:

"Das war 2012. Ich war mit meiner damals siebenjährigen Tochter nachmittags auf dem Heimweg und hatte über meiner traditionellen, jüdischen Kopfbedeckung noch eine weitere Kappe getragen, eine Baseballkappe, wurde aber trotzdem von einer Gruppe von fünf oder sechs Jugendlichen mit islamischem Migrationshintergrund als Jude identifiziert. Einer hat mich angequatscht: 'Bist Du Jude?' Was sollte ich darauf schon sagen? 'Ja', habe ich ihm geantwortet. Hat der wahrscheinlich eh schon gewusst. Es war mir in diesem ersten Moment auch relativ egal, weil ich es gewöhnt bin, so angesprochen zu werden. Wenn ich an diesen Hotspots, wo sich Jugendliche mit islamisch-migrantischem Hintergrund versammeln, vorbeigehe und als Jude identifiert werde, dann werde ich zumindest verbal angegangen, das ist gewisserweise normal, das gehört zu meinem Alltag. Damit rechne ich eigentlich auch. Deshalb habe ich damals im ersten Moment gedacht, in zwei Minuten ist das vorbei. War aber nicht in zwei Minuten vorbei. Es hat sich schnell herausgestellt, dass es kritisch werden könnte. Der Typ ist immer aggressiver geworden, zunächst verbal. Der hat meine Frau und meine Mutter und auch meine siebenjährige Tochter mit Vergewaltigung bedroht, hat sich umgedreht und ist auf uns zugekommen. Ich war schon fast am Hauseingang, der stand dann direkt vor mir und hat mich angegriffen. Das war einer dieser Martial-Arts-trainierten jungen Leute. Der hat mir mit dem ersten Schlag das Jochbein gebrochen. Ich habe dann noch ein paar Abschürfungen durch den Sturz bekommen, bin wieder aufgestanden, habe versucht, mich zu wehren. Physische Auseinandersetzungen gibt es in meinem Leben normalerweise nicht. Das war das erste Mal seit der Schule, dass ich in eine physische Auseinandersetzung verwickelt worden bin. Ich habe nicht gesehen, dass da noch einer hinter mir stand, der mir mit irgendwas auf den Kopf gehauen hat. Ich bin dann umgefallen."

Euronews:

"Wie sollte man reagieren, wenn man angegriffen wird?"

Daniel Alter:

"Der Selbstschutz hat erste Priorität. Martyrertod ist sinnlos und kein jüdischer Wert. Wenn man mich als Rabbiner fragen würde, dann würde ich sagen, die Kippa nicht mehr unbedingt offen tragen. Es gibt hier in Frankfurt Gegenden, da fühle ich mich sicher. Aber in Berlin kann man auch auf dem Ku'damm oder in der Kantstraße angemacht werden, also in Gegenden, in denen man das nicht unbedingt erwartet. Ich würde eher dazu tendieren, zu sagen: Vorsicht, schau erst einmal, in welcher Gegend du dich bewegst. In so einem Berliner Stadtviertel wie beispielsweise Neukölln würde ich ganz konkret davon abraten, die Kippa offen zu tragen, es sei denn, man hat einen Bodyguard oder einen Rettungssanitäter mit dabei, dann kann man das ruhig tun. Jeder sollte auf seine körperliche, physische und psychische Unversehrtheit wirklich achten, sich nicht unnötig in Gefahr bringen."

Euronews:

"Und wenn man trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch Opfer eines antisemitischen Übergriffs geworden ist, was tun?"

Daniel Alter:

"Man sollte sich verdeutlichen, dass das etwas völlig Irrationales ist, Antisemitismus und Rassismus. Man sollte versuchen, das weitestgehend öffentlich zu machen. Auf keinen Fall sollte man das mit sich herumschleppen. Unbedingt an die Öffentlichkeit gehen. - Für den Berliner Raum gibt es die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus RIAS, die ein niederschwelliges Angebot bietet zur Erfassung von antisemitischen Vorfällen. Wenn eine Straftat begangen wurde, dann sollte man unbedingt Anzeige erstatten aber auch mit RIAS Kontakt aufnehmen. Konkret bietet auch die Amadeu Antonio Stiftung Opferhilfe an. Was ich für wichtig halte, man sollte nicht alleine damit umgehen. Auch die jüdische Gemeinden helfen, dort gibt es Antisemitismus-Beauftragte, niemand ist alleine."

Euronews:

"Gibt es so etwas wie einen "importierten Antisemitismus"? Da gab es unlängst diesen Fall in Berlin, ein syrischer Flüchtling schlug mit einem Gürtel auf einen Mann mit Kippa auf dem Kopf ein und rief dabei 'Jude, Jude'. Bringen Flüchtlinge aus Nahost antisemitisches Denken mit nach Deutschland?"

Daniel Alter:

"Auch hier ist differenziertes Hinschauen und differenziertes Denken wichtig. Wir dürfen nicht in Muster der kollektiven Schuldzuweisung fallen. Es ist wichtig und richtig, dass ein wohlhabendes Land wie Deutschland Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, aufnimmt. Das ist richtig. Aber wir müssen auch ganz genau hinsehen, wer da genau kommt. Da kommen Menschen aus Gesellschaften, in denen der Hass auf Juden, in denen der Hass auf Israel teilweise staatstragenden Charakter hat. Es muss uns bewusst sein, dass da ein großes antisemitisches Potential existiert, auch Vorurteile gegenüber Homosexuellen und anderen Gruppen. Das ist ja schon seit Jahrzehnten so, dass im arabischen Raum der Staat Israel und das Judentum als Quelle allen Übels dargestellt wird - und das hat zu einer allgemeinen antisemitischen Grundhaltung bei sehr vielen Menschen aus dieser Region geführt. Damit muss man auch klar umgehen, ohne in Panik zu verfallen und ohne Wagenburgen zu bauen."

Euronews:

"Was tun?"

Daniel Alter:

"Wir brauchen ein klares Konzept von Integration. Wir müssen vermitteln, dass wir hier in Deutschland in einer vielfältigen Gesellschaft leben. Eine Tatsache, die auch jedem einzelnen Flüchtling zugute kommt. Letzten Endes ist es doch so, dass diese Menschen, die hierher fliehen, gezielt in eine demokratische Gesellschaft fliehen. Die gehen ja nicht in eine Diktatur, die suchen den Schutz und die Freiheit einer Demokratie - und ich denke, das ist ein Punkt, an den wir anknüpfen können. Es gibt Dinge, die nicht verhandelbar sind und das ist im Interesse eines jeden einzelnen Menschen, der hier in diesem Land lebt."

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