"Wenn 'Jude' als Schimpfwort gebraucht wird, ist die Gefahr groß"

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Copyright Hans von der Brelie
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Frankfurts Bürgermeister Uwe Becker organisierte die Solidaritätsaktion "Frankfurt zeigt Gesicht".

"Frankfurt zeigt Gesicht" - und zwar mit Kippa auf dem Kopf. Die Idee hat sich Uwe Becker ausgedacht, Bürgermeister und Religionsbeauftragter der Stadt Frankfurt am Main. Beckers Aufruf richtete sich an alle Frankfurter, egal welcher Glaubensrichtung, egal ob gläubig oder nicht. Einen ganzen Tag lang, vom Frühstück bis zum Abendessen, sollte jeder der wollte mit einer jüdischen Kopfbedeckung durch die Stadt laufen, öffentliche Verkehrsmittel benutzen, arbeiten, alltägliche Dinge erledigen, also eine "Alltags-Demo" sozusagen. Zweck und Ziel der ganzen Sache: Solidarität mit jüdischen Mitbürgern, Protest gegen die sich seit einiger Zeit deutschlandweit häufenden antisemitischen Zwischenfälle.

Euronews-Reporter Hans von der Brelie:

"Warum haben Sie diese Initiative ergriffen?"

Uwe Becker, Bürgermeister und Religionsbeauftragter der Stadt Frankfurt am Main:

"Mir geht es darum, dass sich Frankfurt solidarisch zeigt mit jüdischem Leben und einsteht gegen Antisemitismus in der Stadt."

Euronews:

"Ist denn Antisemitismus immer noch ein Problem, heutzutage? Oder muss man sagen: erneut?"

Uwe Becker:

"Ich glaube schon. Auch in Frankfurt am Main ist Antisemitismus - bei aller Internationalität und Toleranz - am Wachsen, wie auch in vielen anderen Teilen unseres Landes. Um so wichtiger ist es, dagegen vorzugehen und ein Zeichen zu setzen."

Euronews-Reporter Hans von der Brelie traf Bürgermeister Uwe Becker Mitte Mai, am Tag der Staatsgründung Israels, im Frankfurter Rathaus zum Interview. Vor dem Römer, wie die Frankfurter ihr Rathaus nennen, flattern bunt und groß die Flaggen Deutschlands und Israels nebeneinander im Wind. In Beckers Amtszimmer liegen neben der Bibel zweisprachige Ausgaben von Tora und Koran. Auch Becker, ein gläubiger Christ, trägt heute Kippa. An der Wand hängt ein Schwarz-Weiß-Foto: Eisenbahngleise. Auf ihnen liegt eine Rose.

Euronews:

"Herr Becker, Sie stehen ja auch in der Kritik, weil Sie für diesen Solidaritätstag mit jüdischen Mitbürgern gezielt den Tag der Staatsgründung Israels gewählt haben. Dieser Tag ist ein politisch besetztes Datum. Sehen Sie ein Risiko, dass nun alles miteinander vermischt wird, Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, einerseits tagespolitische Fragen, die mit Israel zusammenhängen - und andererseits die Solidaritätsaktion mit den deutschen Bürgern jüdischen Glaubens, die hier leben?"

Uwe Becker:

"Ich glaube, die Dinge gehören zusammen. Zwar ist nicht automatisch jeder Jude in Frankfurt in Verbindung zu bringen mit der Politik Israels, aber man kann Israel und jüdisches Leben nicht trennen und deswegen ist das Datum, der 14. Mai, genau das richtige Datum. Es ist das Datum der Gründung des Staates Israel und das passt dazu, Solidarität in seiner ganzen Breite zum Ausdruck zu bringen."

Zeichen gegen Antisemitismus

Euronews:

"Frankfurt gilt doch als weltoffen und tolerant. Wo liegt denn konkret das Problem? Hat Ihre Stadt heute ein Problem mit Antisemitismus und wie sieht dieser Antisemitismus genau aus?"

Uwe Becker:

"Auch in Frankfurt stellen wir fest, dass der Begriff Jude auf den Schulhöfen als Schimpfwort gebraucht wird. Wir stellen Schmierereien fest. Wir stellen fest, dass eine Partei (die AfD, Anmerkung der Redaktion) offen fordert, dass die Erinnerungskultur des Landes verändert werden muss. Jeder kann ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Es geht darum, dass in den Köpfen klar wird, dass etwas getan werden kann - und dass man sich auf den Weg macht für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus. Mit einer Kippa wird das nach außen deutlich und ich glaube, das verändert auch das Denken in den Köpfen der Menschen."

Euronews:

"Heute ist Kippatag. Und wann organisieren Sie einen Palästinensertuchtag?"

Uwe Becker:

"Nun, man kann die Dinge nicht in einen Topf werfen. Hier geht es darum, dass in Deutschland wachsender Antisemitismus zu sehen ist und dagegen gilt es aufzustehen. Jede und jeder kann etwas dagegen tun. Auch wenn das heute nur ein einzelner Tag ist, so geht doch meine Hoffnung über diesen Tag hinaus. Ich gehe davon aus, dass die Leute darüber sprechen, auch im Anschluss. Wenn man mit seinen Freunden, mit seinen Bekannten und im Familienkreis darüber redet, dann entsteht ein Bewusstsein dafür, dass man etwas tun kann für jüdisches Leben in der Stadt."

Euronews:

"Es gibt - wieder - Angriffe gegen Juden in Deutschland. Das ist ein Skandal. - Es gibt auch Angriffe gegen Muslime. Das ist ebenfalls ein Skandal. Je nachdem, mit wem man redet, bekommt man gelegentlich zu hören, hier werde mit zweierlei Maß gewogen, öffentlich werde viel für jüdische Opfer getan, weniger für muslimische Opfer. Ist an dieser Kritik, die man gelegentlich aus der extrem linken Ecke aber auch von muslimischer Seite hört, etwas dran?"

Uwe Becker:

"Es geht generell darum, dass man dagegen einsteht, wenn Menschen aufgrund ihrer Religion, wegen ihres Glaubens, physisch oder verbal angegriffen werden. Das gilt, wenn es gegen Muslime geht genauso, wie wenn es gegen Juden oder Jüdinnen geht. Dagegen gilt es, als Gesellschaft aufzustehen, das gemeinsame Miteinander in den Vordergrund zu stellen. Immer wenn Parteien, Gruppierungen oder auch Einzelpersonen versuchen, Angst und Hass zu schüren, die Gesellschaft auseinanderzutreiben, sollte man bewusst das Miteinander, das Beieinander suchen. Als Stadt, als Gesellschaft lassen wir uns nicht spalten."

Euronews:

"Hat Frankfurt am Main hier eine besondere Rolle zu spielen?"

Uwe Becker:

"Frankfurt ist eine Stadt mit einer besonderen jüdischen Tradition. Es ist, wenn sie so wollen, die jüdischste Stadt Deutschlands. Wenn man sich das einmal historisch ansieht, dann stellt man fest, dass jüdisches Leben hier in Frankfurt bis weit ins elfte Jahrhundert zurückreicht. Es war also immer schon Teil der Entwicklung und der Geschichte der Stadt. Durch die Jahrhunderte existieren unzählige Beispiele hierfür: Die Gründung der Universität Frankfurt wäre damals ohne große jüdische Familien nicht möglich gewesen. Vieles, was Frankfurt am Main heute ausmacht, Stadt der Wissenschaft, Stadt der Kultur, Stadt der Wirtschaft, ist auch mit dem Tätigwerden so vieler jüdischer Familien verknüpft, wie es das in kaum einer anderen Stadt in Deutschland gibt. Daraus resultierend gibt es auch ein bürgerliches Engagement für Menschen jüdischen Glaubens, wenn sie hier in dieser Stadt Antisemitismus erfahren oder erleiden müssen."

Als Gesellschaft ein Signal setzen

Euronews:

"Kann denn so ein einzelner Kippatag, wie er mittlerweile genannt wird in der Stadt, die von Ihnen genannten Probleme lösen? Ist das nicht eher Symbolpolitik?"

Uwe Becker:

"Nein, ein Kippatag allein löst kein Problem und ein Kippatag allein schafft auch den Antisemitismus nicht ab. Aber er stellt eine Möglichkeit dar, als Gesellschaft aufzustehen, zusammen das Signal zu setzen: Wir lassen uns nicht auseinandertreiben, wir stehen für jedes Leben ein, wir stehen gegen Antisemitismus ein."

Euronews:

"Geht das nicht etwas konkreter, bitte? Was tun? Wo beginnen?"

Uwe Becker:

"Ich glaube, was zu tun ist, ist sehr vielschichtig. Wir hatten die Diskussion auf der Bundesebene und die Einrichtung des Amtes eines Antisemitismusbeauftragten hat ja jetzt stattgefunden. Auch auf Stadt- und Länderebene werden nun Antisemitismusbeauftragte ernannt. - Man muss davon ausgehen, dass in den Schulen an die jungen Menschen herangegangen werden muss. Man muss vermitteln, was es heisst, als Gesellschaft zusammenzustehen, sich nicht auseinandertreiben zu lassen, die Lehren aus der Geschichte des Holocausts zu ziehen. Auch Menschen aus anderen Kulturkreisen muss vermittelt werden, was es heißt, Teil dieser deutschen Gesellschaft zu sein. Das reicht über die Vermittlung von Jugendklubs bis hin zu Fragen, wie sich die Gesellschaft in Vereinen, in Kirchen und in politischen Parteien mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzt. Unsere Gesellschaft muss sich stärker mit diesen Fragen und Problemen auseinandersetzen, als sie es in den vergangenen Jahren getan hat."

Euronews:

"Gibt es so etwas wie einen 'neuen' Antisemitismus? Wie erklären Sie sich die zwei, drei Hauptursachen für antisemitische Zwischenfälle ausgerechnet hier, in Deutschland?"

Uwe Becker:

"Diese 'neue Qualität' des Antisemitismus hier in Deutschland erklärt sich dadurch, dass es offenbar wieder ein Gewöhnen der Gesellschaft an die ersten Anzeichen von Antisemitismus gibt. Die Gefahr ist immer groß, wenn der Begriff Jude auf Schulhöfen als Schimpfwort gebraucht wird, wenn Schmierereien stattfinden, wenn (einzelne politische) Parteien darüber reden, die Erinnerungskultur zu ändern. Dann gewöhnt man sich Schritt für Schritt an Dinge, die man nicht zulassen sollte. Man traut sich heute wieder von rechter Seite, von linker Seite Dinge anzusprechen zum Thema Antisemitismus, wie seit Jahren und Jahrzehnten nicht mehr. Der Antisemitismus ist ja nicht 1945 verschwunden. Er speist sich heute vom rechtsextremen Rand, vom linksextremen Rand und auch durch diesen Antisemitismus, der auch kulturell nach Deutschland importiert wurde. Die Antwort auf die Ursachen des Antisemitismus in Deutschland heute muss vielschichtig ausfallen."

Euronews:

"Können Sie hier noch etwas genauer werden?"

Uwe Becker:

"Der Antisemitismus speist sich aus dem rechtsradikalen Antisemitismus, der wie immer in den schwarzen Springerstiefeln daherkommt. Er speist sich aus dem linksintellektuell geprägten Antisemitismus, der den Umweg über die Israelkritik nimmt und dann über den Antizionismus beim Antisemitismus ankommt. Und er speist sich mehr und mehr natürlich auch - aber darauf würde ich es nicht alleine reduzieren - aus dem Antisemitismus jener Kulturkreise, in denen der Jude per se und insbesondere der israelische Jude als das Feindbild schlechthin angesehen werden. Mit der Zunahme der Zahl der Menschen (die nach Deutschland einwandern), dringt das von außen in unsere Gesellschaft ein."

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