Integrationsdebatte nach Özil: "Diskriminierung ist keine Erfindung von Zuwanderern"

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Eine aktuelle Studie zum Zugehörigkeitsgefühl türkeistämmiger Bürger zeigt: Seit 2010 steigt die Zahl derer, die sich eher der Türkei als Deutschland verbunden fühlen. Darüber sprachen wir mit dem Leiter vom Zentrum für Türkeistudien.

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Nach dem Rücktritt von Mesut Özil aus der Nationalmannschaft ist erneut die Integrations-Debatte in Deutschland entbrannt. Einer jüngsten Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien zufolge empfinden gerade junge, objektiv besser integrierte Menschen eine wachsende Verbindung mit der Türkei. Der Integrationsforscher und Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan sprach mit euronews über das sogenannte "Integrations-Paradoxon".

Haci-Halil Uslucan, Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung: "Die Grundidee dahinter ist, dass entgegen der Erwartung, dass die nachfolgende Generation sich eigentlich immer mehr zugehörig zu Deutschland fühlen müsste, das empirisch nicht immer eintritt.

Die Erklärung ist, dass junge Zuwanderer oder junge Menschen mit Zuwanderungshintergrund, die in Deutschland geboren sind, andere Kriterien der Zugehörigkeit haben, als ihre Eltern.

Ihre Eltern messen das Leben in Deutschland noch stärker vor dem Hintergrund des Herkunftslandes und sagen: Eigentlich geht es uns in Deutschland ganz gut. Es ist viel besser als in der Heimat.

Junge Menschen, die hier geboren sind, haben aber nicht dieselben Kriterien. Der Mehmet sagt, was dem Sebastian zusteht, steht mir auch zu. Das heißt, er hat die Gleichheitsgrundsätze verinnerlicht, auch die Gleichbehandlungsgrundsätze. Wenn er dann aber auf Ungleichbehandlung stößt, dann rebelliert er viel stärker, fühlt sich als nicht dazugehörig, fühlt sich sozusagen eher ausgegrenzt als die Elterngeneration.

Obwohl er objektiv besser integriert ist, fühlt er sich subjektiv nicht so gut integriert. Und die Eltern, obwohl sie objektiv nicht so gut integriert sind, fühlen sich subjektiv besser integriert. Das ist das Paradoxon."

Bekenne Dich zu der einen oder der anderen Nation

Mit dem Abgang des Ex-Weltmeisters Mesut Özil nach dem Skandal um die Fotos mit dem türkischen Präsidenten Erdogan können sich viele Deutsch-Türken aus eigener Erfahrung identifizieren. Dies sei aus wissenschaftlicher Sicht geradezu ein Paradebeispiel für Integrationshürden und die heimatliche Zerrissenheit von Menschen mit Zuwanderungshintergrund.

Haci-Halil Uslucan: "Bekenne Dich entweder zu der einen oder zu der anderen Nation oder Herkunft. Dabei ist das sowohl im Alltag als auch theoretisch völlig etwas Normales, dass Menschen zwei Bezüge haben, Mehrfachzugehörigkeiten, Mehrfachidentitäten. Und man merkt sozusagen an der Causa Özil, wie stark in Richtung einer 'Vereindeutigung' gearbeitet wird.

Özil hat sich beispielsweise als Türkischstämmiger für Deutschland entschieden, hat nicht für die türkische, sondern die deutsche Nationalmannschaft gespielt seit 2009. Er ist damals von der türkischen Seite ausgepfiffen worden, als Landesverräter betrachtet worden, weil er nicht die eigene vermeintliche Ethnie vertreten hat, sondern eine andere. Und jetzt macht er die Erfahrung: Du gehörst auch nicht dazu.

Ich glaube, die Folge ist, dass auf beiden Seiten eher nationalistische, rechte Tendenzen, die jetzt die Deutungshoheit übernommen haben, sagen, auf deutscher wie auf türkischer Seite: Siehst Du, So etwas wie Assimilation, Anbiedern, bringt nichts, Du wirst ohnehin nicht angenommen. So die türkische Sicht. Und die deutsche Sicht: Er ist kein richtiger Deutscher gewesen, insofern ist es doch ganz gut, wenn er nicht mitspielt.

Diskriminierung ist keine Schimäre

Im Zentrum für Türkeistudien stellen wir seit 1999 jedes Jahr auch die Frage: Haben Sie das Gefühl, im letzten Jahr ungleich behandelt worden zu sein (also eine Diskriminierungserfahrung)? Und wir haben stets Werte zwischen 50, 60,70 Prozent. Wir haben Phasen erlebt, wo das deutlich höher war, beispielsweise im Kontext der Sarrazindebatte. Bis zu 80 Prozent der Befragten sagten: Ja, im letzten Jahr habe ich die Erfahrung der Ungleichbehandlung gemacht.

Was es im Einzelnen, also wie die Situation im Einzelnen war, ist natürlich eine perzipierte Diskriminierung. Wir waren nicht dabei, die kann manchmal überschätzt sein im Sinne von: Die Person ist vielleicht grob zu allen. Aber wenn man selber einen Zuwanderungshintergrund hat, denkt man: Sie ist ausländerfeindlich motiviert und deshalb grob zu mir. Und dann überschätzt man.

Aber es gibt auch Situationen, wo Migranten ihre tatsächliche Diskriminierung unterschätzen, beispielsweise bei Bewerbungen auf dem Ausbildungsmarkt. Sie schreiben Bewerbungen, sie werden nicht angenommen, sie denken möglicherweise: Mist, ich bin schlecht gewesen, also nicht gut genug für den Job. Vielleicht haben sie aber gar keine Chance gehabt aufgrund ihres Namens.

Das heißt, in solchen Kontexten wird die Diskriminierung nicht gesehen. Deshalb ist das Messen, das objektive Messen der Diskriminierung äußerst schwer.

Wir haben das in einigen Studien gemacht mit anonymisierten Bewerbungen, wo man alles konstant gelassen hat: Notenschnitt, phänotypisches Aussehen, smarte Jungs, dasselbe Alter, die sich für denselben Beruf bewerben.

Und da kann man in diesem experimentellen Setting schon sehen, dass Sie mit einem türkischen Namen schlechtere Chancen haben, objektiv feststellbar. An solchen Kriterien merkt man: Diskriminierung ist keine Schimäre, keine Erfindung von Zuwanderern, die irgendwie dünnhäutig sind und überall eine Diskriminierung wähnen, wo doch eigentlich alles vermeintlich normal läuft.

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Das wäre, glaube ich, eine Fehldeutung und geht auch an der Erfahrung der Menschen vorbei."

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