Euroviews. Türkei-EU: Ist Annäherung möglich und um welchen Preis?

Türkei-EU: Ist Annäherung möglich und um welchen Preis?
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Von Marc Pierini
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Marc Pierini, der ehemalige Botschafter der EU in der Türkei, analysiert die Situation vor neuen Gesprächen zwischen Brüssel und Ankara.

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Die europäischen Regierungen erleben derzeit einen scheinbar positiven Schritt der türkischen Führung gegenüber der EU. Auf den ersten Blick ist dies sinnvoll: Die türkische Wirtschaft befindet sich in einer sehr schwierigen Lage (und hängt immer noch von den europäischen Märkten und Finanzströmen ab). Die Lira fällt weiter. Kürzlich haben die USA schmerzhafte Sanktionen gegen die Türkei verhängt (und es könnten noch weitere folgen), Russland geht in Syrien seinen eigenen Weg (der wahrscheinlich nicht der Weg der Türkei ist).

Infolgedessen gibt das türkische Außenministerium Erklärungen ab. Die "EU Reform Action Group" traf sich am 29. August, sie versprach Reformen der Justiz und mehr. Der türkische Präsident wird bald nach Berlin reisen, während der Wirtschafts- und Finanzminister gerade Paris besucht hat.

Aber Worte und Besuche sind keine Politik, und das aufblühende Gefühl der Türkei gegenüber Europa ist aus zwei wichtigen Gründen (abgesehen von der offenkundigen Anti-US-Motivation) nicht sehr glaubwürdig.

Erstens hat Präsident Erdoğan seine Wahlstrategie seit Jahren auf scharfe Kritik an Europa gestützt. Im Jahr 2017 beschimpfte er sogar EU-Politiker, unter anderem mit Bemerkungen zu "Nazis" und "Gaskammern", was in der europäischen Politik ein totales Anathema ist. Kein Politiker in Berlin, Paris, Den Haag oder Wien wird leicht davon zu überzeugen sein, dass es sich um harmlose Wahlkampf-Rhethorik handelte. Sie werden als Teil einer sorgfältig gestalteten nationalistischen Strategie gesehen, und sie haben nachhaltige Auswirkungen.

Zweitens ist eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei grundsätzlich denkbar, wird aber nicht stattfinden. Präsident Erdoğans Machtsystem (die neue Verfassung, die Justiz unter seiner Kontrolle, 50.000 Menschen im Gefängnis, 150.000 mutmaßliche Gülenisten, die von ihren Arbeitsplätzen entlassen wurden, die Abwesenheit von Pressefreiheit, die Politik der Geiselnahme von Ausländern) ist ein Weg ohne zurück. Jeder Schritt in Richtung Unabhängigkeit der Justiz zum Beispiel wäre entweder "fake" oder er würde, wenn er real wäre, Erdoğans Macht behindern. Hinzu kommt, dass die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der EU die türkische Führung von "EU-Auflagen" entlastet (sprich: EU-Governance-Standards) und damit trotz der türkischen Kritik an der Suspendierung der Verhandlungen einen Sieg für den türkischen Präsidenten darstellt.

Wenn man sich die europäische Seite anschaut, hat sich im Laufe des vergangenen Jahres ein bemerkenswerter Schwenk vollzogen. Jetzt hat nicht nur Frankreich den EU-Beitritt der Türkei ausgeschlossen, sondern die österreichische, die niederländische und die deutsche Regierung haben "keinen Beitritt" zu einer der Säulen ihrer Koalitionsverträge gemacht. Hinzu kommt die Einstimmigkeitsregel der EU für alle Fragen der Erweiterung, und es wird offensichtlich, dass der Beitritt nicht stattfinden wird - nicht einmal die vorbereitenden Arbeiten auf dem Weg zum Beitritt, wie der Europäische Rat im Juni erklärt hat.

Die europäischen Regierungen betrachten die Türkei aus verschiedenen Gründen als strategischen Partner und wollen starke Beziehungen mit dem Land unterhalten, insbesondere in den Bereichen Handel, Wirtschaft, Militär, Terrorismusbekämpfung und humanitäre Hilfe. Selbst wenn eine politische Allianz, die einst in den Beitrittsbestrebungen der Türkei verkörpert war, aufgrund der Tatsache, dass Ankara den autokratischen Weg einschlägt, nicht mehr in Frage kommt, ist eine substantielle strategische Partnerschaft möglich. Die Bereiche der Zusammenarbeit, die gerade von der EU-Reform-Aktionsgruppe skizziert wurden, betreffen in erster Linie die Zollunion und Visa, und das ist an sich positiv. Die Türkei muss jedoch zu einem verbesserten Regierungssystem zurückkehren, wenn sie Fortschritte in diesen begrenzten Bereichen sehen will.

Ob nun Fortschritte erzielt werden oder nicht, bleibt abzuwarten. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Atmosphäre der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei aus Gründen, die hauptsächlich mit der Innenpolitik der Türkei zu tun haben, angespannt bleibt. Das politische Schicksal von Präsident Erdoğan ist nun vom Willen der nationalistischen Partei MHP abhängig, die keine proeuropäische Partei ist und das derzeitige ultra-präsidentielle System unterstützt. Dies bedeutet, dass die türkische Politik das System der Ein-Mann-Herrschaft aufrechterhalten und das Land nicht zu europäischen demokratischen Standards führen wird.

Die wichtigste Herausforderung für die Türkei ist nicht die Form ihrer Beziehungen zur EU, sondern die Tatsache, dass die Märkte, Fonds und Investitionen der EU entscheidend davon profitieren müssen. Dies erfordert wiederum die Herrschaft des Gesetzes, nicht die Herrschaft des Willkürlichen. Entscheidungen müssen in Ankara getroffen werden.

Marc Pierini war von 2006 bis 2011 EU-Botschafter in der Türkei, er arbeitet jetzt für Carnegie Europe.

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