Hoffnung, Angst, Misstrauen: Wie läuft die Impfkampagne in Russland?

Im Warenhaus GUM am Roten Platz gibt es auch ein Corona-Impfzentrum
Im Warenhaus GUM am Roten Platz gibt es auch ein Corona-Impfzentrum Copyright Marika Dimitriadi
Von Marika Dimitriadi
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In Russland stagniert die Impfkampagne. Gerade mal 2% der Bevölkerung sind geimpft. Woran liegt das? Ein Bericht aus Moskau.

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Russland exportiert seinen Impfstoff "Sputnik V" in zahlreiche Länder weltweit. Nur im eigenen Land scheint die Impfkampagne zu stagnieren. Dabei sind die Impfungen kostenfrei und leicht zu bekommen. Nicht nur in Polikliniken und Krankenhäusern, sondern auch in Shoppingzentren wurden Impfstellen eingerichtet. Doch warum haben sich bislang weniger als 2 Prozent der Russen vollständig impfen lassen? Unsere Reporterin Marika Dimitriadi berichtet aus Moskau.

Ich wache mitten in der Nacht auf. Es ist 2 Uhr morgen und ich fühle, dass ich Fieber habe. Ein Blick auf das Thermometer bestätigt: 38,4°C. Vor 14 Stunden habe ich meine zweite Impfdosis "Sputnik V" bekommen. Neugierig hatte ich am Abend in den sozialen Netzwerken gelesen, wie sich die andere Leute nach zwei Impfungen gefühlt haben. Die meisten berichteten von geringen Nebenwirkungen nach der zweiten Impfung. Nun, bei mir sieht es anders aus. 

Am Morgen ist mein Fieber laut Thermometer so gut wie weg, aber das Gefühl, krank zu sein, bleibt den gesamten Tag. Mir ist kalt, meine Muskeln tun weh, ich habe Kopfschmerzen und keinen Appetit. Am Abend gegen 20 Uhr (34 Stunden nach der zweiten Impfung) verschwinden meine Symptome auf einmal. Nebenwirkungen habe ich auch nach der ersten Impfung gehabt, allerdings nicht so schlimm wie beim zweiten Mal.

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Unsere Reporterin Marika Dimitriadi mit ihrem ImpfzertifikatMarika Dimitriadi

Nach der Impfung habe ich einen Informationsbogen mitbekommen, der mich über mögliche Nebenwirkungen der Impfung aufklärt:

"Schmerzen an der Einstichstelle, Hyperämie, Schwellungen, Schüttelfrost, erhöhte Körpertemperatur, leichter Husten, verstopfte Nase, Muskelschmerzen, allgemeines Unwohlsein, Kopfschmerzen. Diese Symptome sollten drei bis vier Tage nach der Impfung verschwinden."

In Messengerdiensten wie Telegram finden sich Tausende zusammen, die sich über das Vakzin und seine Nebenwirkungen austauschen. Diese Chatgruppen sind eine wichtige Quelle für Impfskeptiker. Teilnehmer sprechen über ihre Ängste, teilen Ratschläge oder Links zum Thema. Diejenigen, die schon geimpft sind, teilen ihre Erfahrung über mögliche Nebenwirkungen. 

Warum also fühlen manche Menschen nach einer Impfung mit Sputnik V nichts und andere müssen mindestens einen Tag im Bett bleiben? Offenbar hängt es mit dem Alter zusammen. Bei jüngeren scheinen die Nebenwirkungen heftiger auszufallen als bei älteren Menschen. Das ist vielleicht eine sehr überraschende Tatsache, aber ältere Menschen haben oft weniger Nebenwirkungen.

"Ich habe alle notwendigen Tabletten wie Aspirin vorbereitet, nur für den Fall, aber ich habe sie nicht genommen. Ich fühlte mich, als hätte ich "einen schweren Kopf" und das war's. Vielleicht war ich nur gestresst. Am Morgen fühlte ich mich absolut gut, keine Schmerzen, kein Fieber", sagt die 76-jährige Nadeschda Tarasenko. Sie hat bereits beide Impfungen bekommen.

"Das lässt sich damit erklären, dass das Immunsystem eines jungen Menschen auf ein fremdes Protein zu reagieren scheint: Sobald es im Körper ist, wird es vom Immunsystem bekämpft. Im Alter gibt es keine solche Reserve, also gibt es offensichtlich keine derartige Hyperreaktion", sagte die leitende freiberufliche Geriaterin des Gesundheitsministeriums, Direktorin des russischen gerontologischen Forschungs- und Klinikzentrums Olga Tkaschewa.

Wie bekommt man eine Impfung?

Ich bin russische Staatsangehörige und 27 Jahre alt. Inzwischen kann jede:r russische Staatsbürger:in über 18 Jahren eine Impfung bekommen. Ich wohne im Großraum Moskau und habe die Hotline des Gouverneurs angerufen. Dort konnte ich mir einen Tag für meine Impfung aussuchen (ich hätte auch noch am selben Tag geimpft werden können) und begab mich zur Poliklinik.

Polikliniken sind öffentlich betriebene Kliniken, in der Menschen eine medizinische Grundversorgung erhalten und Therapeuten, Neuropathologen, Endokrinologen, Gynäkologen, Dermatologen und andere Spezialisten aufsuchen können. Die Konsultationen sind kostenlos, sie werden vom Staat übernommen. Polikliniken gibt es in den meisten russischen Städten und Gemeinden.

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Werbetafel für Corona-Impfung in Moskau "Glauben Sie mir, ich weiß, wie schlimm Covid-19 sein kann. Lassen Sie sich impfen!"Marika Dimitriadi

In Moskau ist es auch möglich, einen Termin für eine Impfung über die offizielle Website "Öffentliche Dienste", Apps und per Telefon zu bekommen.

Als ich zum Impfen ankam, war der Saal der Poliklinik voll mit Menschen. Die meisten von ihnen waren 60-70 Jahre alt. Vor der Impfung wird jede:r kurz untersucht - medizinischen Pflegepersonal prüft den Sauerstoffgehalt im Blut, die Herzfrequenz, den Blutdruck, fragt, ob man irgendwelche Allergien oder Krankheiten hat. Nach der Impfung wird empfohlen, für 30 Minuten vor Ort zu bleiben, falls es zu allergischen Reaktionen kommen sollte.

Wie die meisten Impfstoffe besteht auch Sputnik V aus zwei Komponenten, so dass eine zweite Impfung drei Wochen nach der ersten erforderlich ist. Mitte März sagte Alexander Gintsburg, Leiter des Gamaleya-Zentrums, in dem "Sputnik V" entwickelt wurde, dass der Abstand zwischen der ersten und der zweiten Impfung auf zwei Monate ausgedehnt werden könne, ohne einen negativen Einfluss auf die Wirksamkeit des Impfstoffs. Er erklärte außerdem, dass in Russland in dieser Zeit etwa 10 Millionen Dosen des Impfstoffs produziert worden seien.

Warum lassen sich die Russen nicht impfen?

Trotz der Tatsache, dass jede:r russische Bürger:in eine Impfung bekommen kann, stagniert die Impfkampagne. Anfang März erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, dass gerade mal zwei Millionen Russen vollständig geimpft seien (was weniger als 2 % der gesamten Bevölkerung entspricht) und ungefähr die gleiche Anzahl von Menschen die erste Dosis erhalten hat.

Im Februar führte das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum, eine unabhängige, nichtstaatliche Umfrage- und soziologische Forschungsorganisation in Russland, eine Umfrage durch. Demnach sind nur 30 Prozent der Bevölkerung bereit, sich mit Sputnik V impfen zu lassen. Allerdings hängen die Ergebnisse vom Alter der Befragten ab. Zum Beispiel würden sich in der Gruppe der 18-24-Jährigen nur 19 Prozent impfen lassen. Bei den über 55-Jährigen sind es sogar 40 Prozent.

Warum weigern sich die Russen, sich impfen zu lassen? 37 Prozent antworteten, dass sie Angst vor Nebenwirkungen haben (im Dezember hatten 29 Prozent die gleichen Befürchtungen). 30 Prozent sagen, dass sie auf endgültige Forschungsergebnisse warten. 16 Prozent denken, dass eine Impfung gegen das Coronavirus nichts bringt.

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Auch im Moskauer Warenhaus GUM kann man sich gegen Covid-19 impfen lassenMarika Dimitriadi

In dieser Situation greifen die Behörden zu verschiedenen "Tricks", um mehr Menschen in die Impfaktion einzubeziehen. Ende Dezember versprach der Moskauer Bürgermeister Serguei Sobyanin, die Sozialkarten von Moskauer Bürger:innen freizugeben, die sich die beide Impfungen geben lassen. Diese Karten gewähren bestimmten Personengruppen, wie z.B. Student:innen, Rentner:innen und Menschen mit Behinderungen verschiedene Vergünstigungen, wie z.B. freie oder billigere Fahrkarten in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Herbst hatten die Moskauer Behörden all diese Karten blockiert. 

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Außer speisen kann man sich in diesem Restaurant auch impfen lassenMarika Dimitriadi

Inzwischen kann man sich in Moskau nicht nur in einer Poliklinik oder einem Krankenhaus impfen lassen, sondern auch in einem Theatersaal oder in einer Imbissbude. Diese mobilen Impfzentren sind jeden Tag geöffnet und man muss keinen Termin vereinbaren. Sie können die Impfung nach dem Prinzip "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" erhalten. In Moskau gibt es 17 mobile Zentren in Theatern, Lebensmittel- und in Einkaufszentren. Übrigens: zu Beginn der Kampagne bekamen alle Menschen, die sich im Warenhaus GUM, das sich auf dem Roten Platz befindet, impfen ließen, ein Eis geschenkt. 

Können sich auch Ausländer:innen in Russland impfen lassen?

Ende Januar sagte die Leiterin des Aufsichtsbehörde für Konsumentenschutz und Gesundheitsschutz (Rospotrebnadsor) Anna Popowa, dass man vorerst nicht plane, Ausländer:innen und Migrant:innen zu impfen; Vorrang hätten russische Staatsbürger.

Mitte März versuchte ich mein Glück bei der Hotline des für die Region Moskau zuständigen Gouverneurs und bei mehreren Polikliniken in der Hauptstadt. Ich sagte, dass ich eine englische Bekannte hätte, die in Russland lebt und sich gern impfen lassen würde. In einer Moskauer Poliklinik erhielt ich die Auskunft, dass meine Bekannte einen russischen Pass haben müsse, um sich impfen zu lassen.  

Zwei andere Polikliniken und im Büro des Gouverneurs hieß es, dass die Impfung mit einer (russischen) Krankenversicherungskarte möglich sei. Ein solches Dokument kann man beantragen, wenn man eine Aufenthaltsgenehmigung für Russland hat.

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Sputnik V - zweite ImpfdosisMarika Dimitriadi

In St. Petersburg wurde Ende Februar offiziell bekannt gegeben, dass Ausländer:innen nicht geimpft werden können. Andrei Sarana, stellvertretender Leiter des St. Petersburger Gesundheitskomitees, erklärte, dass sich nur diejenigen impfen lassen können, die in der Poliklinik einen russischen Pass vorzeigen. Im selben Interview fügte Sarana jedoch hinzu, dass sich in Moskau nur Diplomat:innen verschiedener Botschaften impfen lassen könnten, was definitiv nicht stimmt.

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Zuvor berichteten Journalisten mehrerer ausländischer Medien, darunter die New York Times, CNN und El Mundo, wie sie sich impfen ließen.

Der Spanier Xavier Colás ist Korrespondent von El Mundo in Moskau. Im Januar bekam er - ohne Termin - eine Impfung mit Sputnik V in einem Einkaufszentrum.

"Ich hatte meinen Reisepass und meine Versicherungskarte dabei. Am ersten Tag [der Impfkampagne in diesem kommerziellen Zentrum] war die Begeisterung so groß, dass ich nicht nach meiner Versicherung gefragt wurde".

Der Spanier sagt, er habe keine Angst gehabt. "Ich habe überlegt, was schief gehen könnte, und ich sah wirklich keinen Grund, Angst zu haben. Ich denke auch, dass die Umstände derzeit besonders sind, das heißt, selbst wenn wir ein bisschen Schwindelgefühl haben, müssen wir es überwinden, denn auf der anderen Seite ist die COVID eine große Bedrohung für die Gesundheit, unsere Lebensweise und Wirtschaft".

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Impfungen sind vielerorts in mobilen Impfzentren möglich, wie hier in Mytischi, im Großraum MoskauMarika Dimitriadi

Valerian Jagouri, 42, ist griechischer Staatsbürger. Er lebt seit zehn Jahren in Russland. Am 1. Februar bekam er seine erste Impfung in einem Einkaufszentrum in Moskau.

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"Ich war auf dem Weg zu einem Geschäft, um Baumaterialien zu kaufen, und im dritten Stock sah ich Mädchen, die Menschen ansprachen, sich impfen zu lassen. Ich dachte, warum nicht, ich kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich zeigte meine Aufenthaltsgenehmigung vor, aber niemand fragte mich nach meiner Krankenversicherungskarte. Ich hatte sie nicht einmal bei mir".

Der Arzt fragte Valerian, ob er irgendwelche Allergien oder chronischen Krankheiten habe, aber sein Blutdruck und seine Herzfrequenz wurden nicht überprüft.

Kurz nach der Impfung hatte Valerian etwas Fieber und fühlte sich im allgemeinen unwohl. Rund ein Tag verging, bevor alles wieder beim Alten war.

"Es war ein Wunder, dass ich mich so lange nicht angesteckt habe. Ich sprach mit Leuten und erfuhr ein oder zwei Tage später, dass sie positiv getestet worden waren". Ein Antikörpertest ergab, dass Valerian noch nie COVID-19 gehabt hatte, und er beschloss, sich impfen zu lassen, da er zu dem Schluss kam, dass die Folgen des Coronavirus in jedem Fall schlimmer sein würden als die der Impfung.

Wie funktioniert Sputnik V?

Sputnik V basiert auf einer humanen Adenovirus. Laut Informationen auf der offiziellen Website des Impfstoffs ist "Sputnik V einer der drei Impfstoffe weltweit mit einer Wirksamkeit von über 90 %. Die Wirksamkeit des Impfstoffs von 91,6 Prozent wird bestätigt, basierend auf der Analyse der Daten von 19.866 Freiwilligen, die sowohl die erste als auch die zweite Dosis des Sputnik V-Impfstoffs oder eines Placebos bei der letzten Kontrolle mit 78 bestätigten von COVID-19-Fällen erhielten".

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Sputnik V ist ein Zwei-Vektoren-Impfstoff. "Vektoren" sind Transportmittel, die genetisches Material eines anderen Virus in eine menschliche Zelle einschleusen können. "Das Gen aus dem Adenovirus, das die Infektion auslöst, wird entfernt, während ein Gen mit dem Code eines Proteins aus einem anderen Viruselement eingefügt wird. Dieses Element ist für den Körper ungefährlich, hilft aber dem Immunsystem zu reagieren und Antikörper zu produzieren, die uns vor der Infektion schützen", heißt es auf der Website.

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