Wie wird die Welt nach der Coronakrise aussehen?

Wie wird die Welt nach der Coronakrise aussehen?
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Von Sergio CantoneSabine Sans
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Peter Frankopan, Professor für Globalgeschichte an der Universität Oxford, Karina Knorr-Cetina, österreichische Sozialanthropologin und Wissenschaftstheoretikerin derzeit an der Universität von Chicago sowie Jean-Paul Fitoussi, französischer Professor für Wirtschaftswissenschaften, geben Antworten.

In einer Zeit voller Ängste, Skepsis und Hoffnung fragen sich die Menschen, wie die Welt nach der Pandemie aussehen wird. Ist die Rückkehr zur Normalität nur ein Traum? Auf diese Fragen antworten drei Experten in dieser Folge von The Global Conversation.

Covid-19 hält die Welt in Atem

Die Welt wird von einem Virus in Atem gehalten. Es gibt Millionen Tote, Ängste werden geschürt, das Armutsrisiko steigt, Covid-19 hat die Weltordnung durcheinander gebracht hat. Euronews hat mir drei Experten gesprochen: Peter Frankopan, Professor für Globalgeschichte an der Universität Oxford, Karina Knorr-Cetina, österreichische Sozialanthropologin und Wissenschaftstheoretikerin derzeit an der Universität von Chicago sowie Jean-Paul Fitoussi, französischer Professor für Wirtschaftswissenschaften.

Euronews-Reporter Sergio Cantone:
Peter Frankopan, willkommen bei Euronews. Sie sind Experte für Globalgeschichte. Ist die Eigenschaft von Covid-19, sich so schnell und einfach zu verbreiten, ein Novum in der Geschichte der Pandemien?

Peter Frankopan, Professor für Globalgeschichte:

Nein, wir leben in einer Welt, in der Technologie und unsere Reisemöglichkeiten die Dinge beschleunigen. Pandemien sind ein sehr wichtiger Teil der globalen Geschichte, sie reichen viele Tausende Jahren zurück. Wenn Menschen in der Nähe von Tieren leben, gibt es die Gefahr, das für den Menschen schädliche und gefährliche Dinge aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen können. Das ist ein Teil des Preises, den wir für unsere Nahrungsversorgung zahlen. Das Ungewöhnliche an dieser Pandemie war die Schnelligkeit, mit der sie sich nach Europa ausbreitete, nachdem sie in Wuhan identifiziert wurde. Aber man muss dieses Geschwindigkeitselement differenziert betrachten. Seit dem Ausbruch sind mehr als anderthalb Jahre vergangen und das Virus hat gerade erst begonnen, durch Indien zu fegen und ein verheerendes Muster zu zeigen. Diese Dinge brauchen also Zeit, aber sie sagen viel darüber aus, wie wir kommunizieren, wie wir reisen. Aber die Geschwindigkeit ist, meiner Meinung nicht so dramatisch, wie man vielleicht denkt.

Euronews:
Ein Blick zurück in die Geschichte und ein Vergleich mit vorherigen Seuchen: Wie könnte diese Pandemie die globale politische Ordnung verändern?

Peter Frankopan:

Das hängt davon ab, was als nächstes passiert. Vor der Pandemie war jedem klar, dass das eine Zeit ist, in der China sehr schnell aufsteigt - auf vorhersehbare oder unvorhersehbare Weisen. Russland und seine Beziehungen zu seinen Nachbarn, insbesondere zur Ukraine, waren bereits äußerst problematisch. Der Klimawandel und seine Auswirkungen auf Südasien, den Nahen Osten und Westafrika sind Themen, über die sich viele Menschen Gedanken und Sorgen machen. Wir leben also ohnehin in einer Zeit des großen Wandels. In gewisser Weise hat die Pandemie als Katalysator gewirkt, um einige Dinge zu verlangsamen, denn unsere Luft ist sauberer. Die Vögel singen, weil wir nicht mehr so viel unterwegs sind. Aber die längerfristigen Auswirkungen werden die Armen in der Welt zu spüren bekommen. Dort ist der Druck am größten. Reiche Länder können sich maximal verschulden und Investoren davon überzeugen, dass man sie bezahlt. Aber aufstrebende Märkte und unterentwickelte Länder leiden schon jetzt furchtbar, und diese Kluft wird in den kommenden Jahren noch viel größer werden.

Sterblichkeitsrate ist nicht so hoch wie bei früheren Pandemien

Euronews:
Nocheinmal der Blick in die Geschichte: Gab es schon einmal solche wirtschaftlichen bzw. finanziellen Auswirkungen durch eine Pandemie?

Peter Frankopan:
Der Unterschied bei dieser Pandemie ist, dass, obwohl Millionen Menschen betroffen sind, die Sterblichkeitsrate nicht so hoch ist. Sie scheint sehr dramatisch zu sein, weil wir die Fernsehbilder sehen. Aber nehmen wir die Spanische Grippe vor 100 Jahren als Beispiel: Wenn sie heute so viele Menschen getötet hätte wie damals, dann hätten wir es mit mehr als 250 Millionen Toten zu tun und nicht mit drei Millionen. Jeder dieser Todesfälle ist eine persönliche Tragödie für die jeweilige Familie und wäre vermeidbar gewesen, wenn bessere Maßnahmen ergriffen worden wären. Aber diese Pandemie wird die Arbeitsverhältnisse nicht auf die gleiche Weise verändern, weil es keine großen demografischen Auswirkungen gibt. Es geht darum, wie Regierungen ihre Schulden verwalten und wie wir diese Beziehung zwischen Politik und Bürgern bzw. Steuerzahlern neu gestalten. Das ist eine wirklich wichtige Diskussion, die bereits im Gange ist. Und sie wird sich in den nächsten Jahren beschleunigen.

Euronews:

Werden die Staaten in der Post-Covid-Welt weniger voneinander abhängig sein?

Peter Frankopan:

Ich bin sehr besorgt darüber, dass die Entflechtung auch eine dunkle Seite hat. Das ist ein größeres Problem, als die Menschen denken. Es gibt auf jeden Fall die geopolitischen Puzzlestücke auf hoher Ebene, die man nicht vergessen darf. Aber ich hoffe, dass wir zur Normalität zurückkehren, denn wenn wir das nicht tun, bedeutet das unterm Strich Inflation und höhere Preise. Und das wird sich kurzfristig verheerend auswirken.

Euronews:

Ist der russische Impfstoff Sputnik V ein Werkzeug der Machtpolitik oder eine Waffe gegen Covid, unseren gemeinsamen Feind?

Peter Frankopan:

Wenn man sieht, dass die Russen ihren Impfstoff anbieten, denkt man, das ist ein Werkzeug. Und als erstes fragt man sich, was ist unser Gegenstück? Wo sind die Impfstoffe und unsere medizinische Unterstützung für andere Teile der Welt? Warum nutzen wir unsere Impfstoffe nicht auf die gleiche diplomatische Art und Weise? Russland und Moskau werden sicherlich versuchen, das als Druckmittel einzusetzen. Russland hat global eine viel schwächere Position, als viele Leute denken. Aber es muss seine diplomatischen Möglichkeiten sehr vorsichtig einsetzen. Ich glaube, wir in Europa haben nur sehr eingeschränkte Ideen. Wir haben sogar darüber diskutiert, den Versand von Impfstoffen aus Europa in andere Teile der Welt zu beschränken. Und typischerweise verhindern wir in unserer Pharmaindustrie, dass geistiges Eigentum genutzt wird, um den Preis von Medikamenten zu senken, die in Entwicklungsländern Leben retten würden. Und in Europa erwartet man, dass jeder die Dinge auf unsere Art macht. Aber wenn wir uns selbst den Spiegel vorhalten, gibt es eine Menge, das wir besser machen sollten.

Krisen haben auch positive Folgen

Euronews:

Müssen wir jetzt als Weltbürger aufgrund von Pandemien mehr auf Regeln des Gesundheitssystems und der medizinischen Forschung in regionalen Zusammenschlüssen sowie in Freihandelsabkommen achten?

Peter Frankopan:

Das Kuriose ist, dass Krisen oft auch positive Folgen haben. Und aus dieser Pandemie haben wir unter anderem gelernt, dass wir eine viel stärkere gemeinsame globale Antwort auf Krankheiten und Pandemien entwickeln müssen. Das Ausmaß der Forschung und die Art und Weise, wie die Zusammenarbeit zwischen universitären Forschungszentren funktionierte, war ein echtes Wunder - wenn man sich anschaut, wie schnell und wie viele Impfstoffe entwickelt wurden. Fakt ist, dass nur drei Prozent der medizinischen Gelder in die Antivirenforschung fließen. Die Art und Weise, wie wir es angehen, besser zusammenzuarbeiten, um Krankheiten auf eine strukturiertere Art und Weise zu heilen, ist bei Krankheiten wie Krebs oder Aids usw. enorm wichtig. Es gibt eine echte Hoffnung, dass man diese Kooperationen auch auf andere Bereiche übertragen kann mit Vorteilen der Zusammenarbeit. Das Problem dabei ist, dass Politiker in allen Ländern immer alles durcheinander bringen, weil sie oft unnötige Probleme verursachen oder Machtspiele miteinander spielen. Aber was die medizinische Seite der Zusammenarbeit angeht, werden wir hoffentlich in einer besseren Position sein, wenn die Pandemie vorbei ist.

Euronews:

Eine abschließende Frage. Die Zahlen dieser Pandemie sind, wie Sie bereits sagten, tragisch und schrecklich, aber im Vergleich zur Spanischen Grippe und der Pest im 14. Jahrhunderts scheinen die Auswirkungen der Coronakrise weniger schädlich für die Menschheit zu sein. Sind wir psychologisch anfälliger als unsere Vorfahren?

Peter Frankopan:

Darauf weiß ich keine Antwort. Als Historiker, der Tausende Jahren betrachtet, kann ich sagen, dass die Menschen sehr widerstandsfähig sind. Wir sind ziemlich gut darin, uns nach verheerenden Kriegen, nach Völkermorden, nach großen Tragödien wieder aufzurappeln. Wir sind ziemlich gut darin, wieder auf die Beine zu kommen und Lehren aus etwas zu ziehen. Das ist es nicht, was mir Sorgen macht. Das Problem ist, dass Regierungen, wenn sie sehr hohe Schulden machen, anfällig dafür sind, unberechenbare Entscheidungen zu treffen, wenn sie nicht in der Lage sind, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Wir alle wissen, wenn man nicht genug zu essen auf dem Tisch hat oder einem das Geld ausgeht, dann gibt es Probleme. Entwickelte Volkswirtschaften der Welt sind gerade ziemlich belastbar. Aber die Sorge ist, dass Konfrontationen zwischen Staaten eskalieren könnten, die nicht diese Unterstützungs-Kapazitäten haben. Dazu braucht es nicht viel - schlechtes Wetter mit Missernten. Da gibt es eine Menge an Unruhe in den Agrarmärkten momentan: vom Weinanbau in Frankreich mit einem sehr guten Jahr bis hin zu den Getreidepreisen. Und es braucht nicht viel, damit das aus dem Ruder läuft. Resilienz ist also nicht die entscheidende Frage. Die Frage ist, ob die Menschen ihre Differenzen hinter sich lassen oder kämpfen, oder ob sie einen Weg finden, zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen. Das ist noch offen, wir werden es abwarten müssen. Aber als Optimist und Pragmatiker denke ich, dass wir ziemlich gut darin sind, Probleme zu bewältigen.

Gesellschaften auf der ganzen Welt leiden seit Monaten unter Lockdowns, sozialer Isolation und Einsamkeit. Der Alltag hat sich radikal verändert.

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Euronews:**
Dr. Knorr Cetina, willkommen bei Euronews. Was für grundlegende Lehren hat die Welt Ihrer Meinung nach aus der Pandemie gezogen?

Karina Knorr-Cetina, Sozialanthropologin und Wissenschaftstheoretikerin:

Eine grundlegende Erkenntnis ist sicherlich, dass die Pandemie nicht nur ein biologisches oder ein epidemiologisches Problem ist, sondern dass sie enorme Störungen in unserem sozialen Leben verursacht hat - , in dem, was das Soziale für uns bedeutet, was Gesellschaft bedeutet. Viele dieser leichten Kontakte, die wir normalerweise pflegen, sind weggefallen. Es gibt im sozialen Leben normalerweise diesen kleinen Geschenke-Austausch - wenn man beispielsweise in einer Bäckerei nach Brötchen oder einem Kaffee fragt, bekommt man ein Lächeln, man bekommt eine Dienstleistung, man sage danke. Das sind völlig unverbindliche Tauschaktionen. Sie beinhalten keine Solidarität, keine Verpflichtungen, nichts von alledem. Und doch erzeugen sie eine Art sozialer Interaktion, ein Medium, in dem wir schwimmen. Und dieses Medium war weg.

Der Umgang mit älteren Menschen

Euronews:

Hat es Sie überrascht, wie man mit älteren Menschen umgegangen ist? Auf einmal hat sich die Gesellschaft um ältere Menschen gesorgt. Sie wurden nicht im Stich gelassen.

Karina Knorr-Cetina:

Das war ein sehr positiver, in den meisten Fällen auf jeden Fall ein positiver Effekt der Pandemie. Nicht alle Länder haben diese Haltung eingenommen. Es gab Staaten, in denen hieß es, die Stärksten überleben und die anderen überleben nicht. Und wenn alle Menschen anfälliger für die Krankheit sind und nicht überleben, dann muss man das eben schlucken. Aber die meisten Staaten und Gesellschaften haben sich gekümmert. Auch der Kapitalismus hat eine soziale Komponente.

Euronews:

Man hat wiederentdeckt, wie wichtig es ist, in den Gesundheitssektor zu investieren. Wird man jetzt zum Beispiel die Bedeutung von Solidarität wiederentdecken sowie Gier und extremen Individualismus ablegen?

Karina Knorr-Cetina:

Nein, ich glaube nicht, dass letzteres funktionieren wird. Aber die Frage der Solidarität, ist wirklich ein tiefgreifendes Thema. Denn in der Pandemie hat man entdeckt - und ich spreche vor allem über die USA, weil ich hier seit einem Jahr festsitze, - dass man dazu neigt, keine Masken tragen zu wollen. Und es ist ja keine einschneidende Maßnahme, die Leute aufzufordern, eine Maske zu tragen. Aber man hat einen Krieg der Masken begonnen. Und man stellte plötzlich fest, dass es kein 'Wir' gibt, wir sind nicht solidarisch, wir sind keine vereinte Nation. Wir sind komplett gespalten entlang unerwarteter Linien. Ich sage nicht, dass diese Spaltung vorher nicht da war, aber sie fiel nicht auf.

Euronews:

Unter diesem Gesichtspunkt: Wird die Praxis der sozialen Distanzierung auch nach der Pandemie bestehen bleiben?

Karina Knorr-Cetina:
Nicht vollständig, nein. Auf dieser Ebene werden wir uns meiner Meinung nach vollständig erholen. Aber auf einer politischen, einer kollektiven Ebene - einer Vorstellung von uns als einer vereinten Gesellschaft, das wird ein Problem für eine längere Zeit werden. Und ich sehe keine Anzeichen dafür, dass das zum Beispiel in den USA besser wird.

Euronews:

Smart Working und virtuelle Führungsgipfel. Die digitale Welt ist schneller in unser Leben gekommen als erwartet. Stehen wir wirklich vor einer langanhaltenden und bedeutenden Veränderung unserer Lebensgewohnheiten? Oder werden wir einfach wieder zur Normalität übergehen, wenn das vorbei ist?

Karina Knorr-Cetina:
Viele Unternehmen in den USA planen und haben bereits damit begonnen, ein wenig, halbwegs zur Normalität zurückzukehren. Aber sie wollen auch ihre Immobilien loswerden, weil sie sehen, dass die Leute genauso gut von zu Hause arbeiten können und es auch tun sollten. An den Universitäten, an denen ich arbeite, werden wir versuchen, zur Normalität zurückzukehren. Denn man weiß, dass Studenten nicht nur zum Lernen an einer amerikanischen Campus-Universität studieren, sondern auch wegen der sozialen Netzwerke, die sie dort bilden. Sie wollen diesen sozialen Kontakt, sie wollen in diesem Alter nicht die ganze Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Man wird also wahrscheinlich komplett zu alten Normalität zurückkehren müssen.

Persönliche Kontakte nicht unterschätzen

Euronews:

Es gibt Marktinteressen, aber auch eine Art Beziehungsinteresse zwischen Mitarbeitern und den Unternehmen.

Karina Knorr-Cetina:

Das Online-Leben muss geplant, es muss initiiert werden. Es ist eine Prozedur, die man durchführen muss. Es passiert nicht informell, einfach so und leicht. Leute sollten den Vorteil von dem, was in persönlichen Situationen passieren kann, nutzen.

Wirtschaftliche Auswirkungen: Die Pandemie hat die Schwachstellen der globalen Wirtschaftsordnung aufgezeigt, die Staaten mussten Hilfsprogramme auflegen.

Euronews:

Professeur Fitoussi, willkommen bei Euronews. Eine Ihrer Theorien erklärt sich mit einer Laternen-Metapher: Teile der Gesellschaft werden durch eine Laterne beleuchtet, aber es gibt auch unbeleuchtete Bereiche, dunkle Zonen. Hat die Coronakrise die dunklen Zonen erhellt?

Jean-Paul Fitoussi, Wirtschaftswissenschaftler:

Sie hat Licht auf die Tatsache geworfen, dass es den europäischen Gesundheitssystemen nicht so gut geht, wie alle dachten. In Bezug auf Frankreich war es eine große Überraschung, dass das französische Gesundheitssystem bei weitem nicht das beste der Welt ist, wie man einst dachte. Das liegt daran, dass wir nicht genug in das Krankenhaussystem investiert haben. Wir haben das System so weit es geht reguliert, um die Ausgaben zu reduzieren. Aber in Wirklichkeit haben wir das System kaputt gespart und die Ärzte durch Verwaltungsangestellte ersetzt.

Schutz in Zeiten der Globalisierung

Euronews:

Und was ist die Rolle des Staats dabei?

Jean-Paul Fitoussi:

Die Hauptaufgabe eines Staates ist es, seine Bevölkerung zu schützen. Die Covid-19-Krise hat uns das auf dramatische Weise in Erinnerung gerufen. Jeder Staat hat begonnen, seine Bevölkerung zu schützen. Es gibt keinen einzigen Staat, der das nicht getan hat, obwohl es vorher als Verstoß gegen die Mainstream-Mentalität galt, Arbeitslose bzw. bedrohte Arbeitsplätze oder Unternehmen, die kurz vor dem Bankrott standen, zu schützen. Wir haben wiederentdeckt, dass wir in einem globalen System, wenn wir unsere Grenzen weit offen lassen, und das ist es, was Globalisierung bedeutet, unsere Leute mehr schützen müssen. Sonst werden wir durch eine große Krise oder eine Revolution dazu gezwungen.

Euronews:

Professor Fitoussi, wird das Konjunkturprogramm ausreichen, das von der EU als Antwort auf die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise verabschiedet wurde, um das Projekt eines sozialen Europas zu gestalten?

Jean-Paul Fitoussi:

Es gibt zwei Punkte im Konjunkturprogramm: Erstens existiert es, und es gibt der Idee der Euro-Bonds eine gewisse Substanz sowie die Möglichkeit, dass Europa in Finanzsachen solidarisch agiert.

Euronews:

Also ein großer Schritt vorwärts?

Jean-Paul Fitoussi:
Das ist etwas extrem Positives. Trotzdem wird das Konjunkturprogramm nicht umgesetzt, weil es endlose Debatten gibt. Wenn wir uns die USA anschauen, dann sehen wir, dass sie 7 Billionen Dollar ausgeben, während die EU nur 750 Milliarden Euro ausgeben werden. Und die EU hat mehr Einwohner als die USA. Das heißt, wir spielen nicht in der ersten Liga. Die USA werden sich mit einer solchen Anstrengung recht schnell erholen, sie werden einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Europa haben, und dieser Vorteil wird sicher noch größer werden.

Euronews:

Hat Covid-19 einen Führungsmangel in der EU aufgedeckt?

Jean-Paul Fitoussi:
Die Menschen werden verhöhnt. Ihnen wird gesagt: 'Ihr seid keine echten Bürger, da ihr die Politik eures Landes nicht beeinflussen könnt, aber wir behandeln euch trotzdem als Bürger'. Ihnen wird jegliche Souveränität genommen, und die Souveränität, die ihnen genommen wird, wird auf europäischer Ebene nicht genutzt. Das ist das Problem mit Europa, es gibt ein Souveränitätsvakuum, es gibt keine europäische, keine nationale Souveränität mehr. Was machen die Menschen unter diesen Umständen? Sie suchen einen Heilsbringer und der Retter ist der Populist. Denn er verspricht, dass alles möglich ist, auch wenn es unmöglich ist. Die Leute denken: Was haben wir zu verlieren? Die Politik ändert sich nicht, wir sind immer noch arbeitslos, wir werden immer ärmer, die Mittelschicht verschwindet. Was haben wir zu verlieren? Lasst uns den Populisten eine Chance geben.

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