Warum mRNA-Pionierin Katalin Karikó (66) bei Ungarns Stasi war

Wissenschaftlerin Katalin Kariko, die einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der mRNA-Technologie beigetragen hat
Wissenschaftlerin Katalin Kariko, die einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der mRNA-Technologie beigetragen hat Copyright Rosta Tibor/MTVA - Médiaszolgáltatás-támogató és Vagyonkezelõ Alap
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Von Orlando Crowcroft
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Für ihre bahnbrechenden Arbeiten zu mRNA-Impfstoffen wurde Katalin Karikó geehrt. Jetzt wird publik: die Wissenschaftlerin hat zumindest auf dem Papier für Ungarns Staatssicherheit gearbeitet.

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Katalin Karikó hatte 1978 gerade ihre erste Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Szeged, Ungarn, angetreten, als der Staatssicherheitsdienst an ihre Tür klopfte.

Karikó wurde vor die Wahl gestellt: Entweder einwilligen, mit dem kommunistischen Staatssicherheitsapparat zu kooperieren, oder akzeptieren, dass ihre Karriere in der wissenschaftlichen Forschung zu Ende war, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

"Ich wusste, wie das System funktionierte, ich hatte Angst, also unterschrieb ich das Rekrutierungsdokument", sagte sie in einer Erklärung mehr als vier Jahrzehnte später, am 24. Mai 2021.

Karikó hatte guten Grund, Angst zu haben. Seit der Niederschlagung der Revolution 1956 durch sowjetische Panzer waren Hunderte hingerichtet worden. Hunderttausende Ungarn waren vor dem von Sowjets gestützten Regime von Janos Kadar aus dem Land geflohen. Neben Hinrichtungen wurden diejenigen, die sich nicht fügten, oft in die Sowjetunion deportiert.

Ich wusste, wie das System funktionierte, ich hatte Angst, also unterschrieb ich.
Katalin Kariko
Forscherin an University of Pennsylvania

Karikó wurde gewarnt, dass die Staatssicherheit bekannt machen würde, dass ihr Vater wegen seiner "sündigen" Rolle bei den Protesten von 1956, als ein ungarischer Aufstand gegen die kommunistische Regierung brutal niedergeschlagen wurde, zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, wenn sie nicht unterschreiben würde.

Ihr Vater wurde später aus seinem Job entlassen und blieb vier Jahre lang arbeitslos.

Zwischen 1978 und 1985 war Karikó als Mitarbeiterin der Geheimdienstabteilung gelistet und hatte die Aufgabe, jede:n in ihrem Institut zu identifizieren, der industrielle oder wissenschaftliche Geheimnisse stahl oder zu stehlen versuchte. Etwas, was sie zu dieser Zeit nie tat.

"Ich habe nie einen Bericht verfasst oder jemanden identifiziert, der versucht hat, Geheimnisse zu stehlen, weil es keine gab", sagte sie gegenüber Euronews in einer E-Mail.

Finstere Aussichten auf eine Forscherkarriere in Ungarn

Während ihrer Zeit in Ungarn wechselte Karikó nie ihren Posten, sie wurde auch nie befördert und nahm nie an Konferenzen oder Meetings im Ausland teil. Sie heiratete, bekam eine Tochter und verbrachte ihre Zeit zu Hause mit der Erziehung des Babys. Die wenige Zeit, die sie hatte, verbrachte sie mit der Arbeit an ihrer Promotion, die sie 1983 an der Universität Szeged abschloss.

"Meine Perspektive war finster", sagt sie.

"Ich wollte immer forschen, etwas schaffen, das Menschen heilt, aber wo immer ich war, wurde ich schikaniert und verfolgt."

1985 zog Katalin Karikó in die Vereinigten Staaten.

In den USA promovierte sie in Pennsylvania und Washington in Biochemie, bevor sie eine Professur an der University of Pennsylvania antrat. Dort lehrt sie auch 32 Jahre später noch. Seit 2013 ist sie außerdem Senior-Vizepräsidentin bei BioNTech, das die Impfstoffe COVID-19 von Pfizer und Moderna entwickelt hat.

Expertin auf dem Gebiet der Messenger-RNA

Ihr Spezialgebiet ist die mRNA, auch Messenger RNA genannt, die zur Entwicklung von Impfstoffen, aber auch zur Heilung von Wunden, zum Wiederaufbau von Knochen und zur Behandlung von Krebs eingesetzt wird. Karikós Arbeit hat ihr zahlreiche Auszeichnungen eingebracht. Als es um Kandidat:innen für den Nobelpreis 2021 ging, war ihr Name im Gespräch. Auch in Ungarn, dem Land, das sie vor 35 Jahren verlassen hat, wird sie für ihre Arbeit gelobt.

Doch genau da fingen die Probleme an.

Am 22. Mai wurde berichtet, dass Karikó zur Ehrenbürgerin von Szeged ernannt wurde, wo sie in den frühen 1970er Jahren ihr Studium begonnen hatte. Sie reiste nach Szeged, um die Auszeichnung entgegenzunehmen und sich mit ehemaligen Kommiliton:innen an ihre gemeinsame Studienzeit zu erinnern.

Wieder Probleme in der Heimat

Noch während ihre Aufenthalts in Ungarn berichtete das rechtsextreme Webportal Kuruc unter Berufung auf ein 2017 veröffentlichtes Buch über ihre Rekrutierung durch den Staatssicherheitsdienst. Karikó bestätigte diese Informationen und gab gegenüber Medien eine Erklärung ab.

Sie bestritt, während ihrer Zeit in Ungarn jemals jemanden verraten zu haben, und betonte auch, dass diese Erfahrung sie dazu gebracht hatte, ihr Land zu verlassen, um sich ihrer Arbeit zu widmen.

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Karikó war nicht bereit, im Detail über ihr Leben in Ungarn unter dem kommunistischen Regime zu sprechen.

"Ich habe nicht vor, über diese Jahre zu sprechen, in denen ich in Angst lebte, merkte, dass jemand in meiner Wohnung gewesen war, während ich auf der Arbeit war, und wusste, dass ich, egal wie hart ich arbeitete, der Gnade der anderen ausgeliefert bin. [Dass sie] mich zerstören könnten, wenn sie wollen", sagte sie Euronews.

Diese Erfahrung war auch ihr Antrieb:

"Ich habe in den letzten 36 Jahren meine Forschungen durchgeführt, um Menschen zu heilen. Nie wieder kann mich jemand davon abbringen, meine Zielen zu verfolgen", so Karikó.

Über den Grund, warum ein neonazistisches und antisemitisches Nachrichtenportal beschlossen hat, sich plötzlich gegen eine Biochemikerin wegen Ereignissen zu wenden, die mehr als dreißig Jahre zurückliegen, kann Karikó nur spekulieren.

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Es gibt Menschen, die nie etwas Sinnvolles in ihrem Leben getan haben, aber es genießen, andere zu zerstören, die etwas erreicht haben.
Katalin Karikó
Forscherin an der University of Pennsylvania, USA

"Die Beweggründe könnten politischer Natur sein oder, was wahrscheinlicher ist, ein Akt der Anti-Impf-Bewegung. Aber ehrlich gesagt, ist mir das egal", sagte sie. "Ich bin unschuldig, [ich] habe keinen Schaden angerichtet."

"Es gibt Menschen, die nie etwas Sinnvolles in ihrem Leben getan haben, aber es genießen, andere zu zerstören, die etwas erreicht haben."

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