Leute vor der Wahl 2021: "Weniger Klein-Klein-Deutsch, mehr Europa"

Asiem El Difraoui
Asiem El Difraoui Copyright Dominique Willnauer Photography, Berlin
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Von Verena Schad
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In der Portraitreihe Leute vor der Wahl 2021 erzählen Wähler:innen im Vorfeld der Bundestagswahl am 26. September was ihnen wichtig ist und was sie von der neuen Regierung erwarten.

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In der Portraitreihe Leute vor der Wahl 2021 erzählen Wähler:innen im Vorfeld der Bundestagswahl am 26. September was ihnen wichtig ist und was sie von der neuen Regierung erwarten.

Dr. Asiem El Difraoui ist ein ägyptisch-deutscher Politikwissenschaftler, Volkswirt, Dokumentarfilmer und Buchautor. Der 56-Jährige beschäftigt sich mit der arabischen Welt und gilt als Fachmann für dschihadistische Internet-Propaganda.

Gerade nach den Geschehnissen in Afghanistan ist für Europa das wichtigste Thema, sagt er. Er plädiert angesichts des desaströsen Scheiterns der westlichen Staaten in Afghanistan für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Der Mitgründer der Candid Foundation, eine Denkfabrik in Berlin, die sich wissenschaftlich mit Entwicklungen in der islamischen Welt beschäftigt, sowie Mitherausgeber des Magazins Zenit, findet, dass die großen Themen unserer Zeit zu oft auf einer zu reduzierten, deutschen Ebene diskutiert werden.

Ich möchte einen Kanzler oder eine Kanzlerin haben, die ein eindeutiges europäisches Bekenntnis ablegt und wirklich Europa vorantreibt.
Dr. Asiem El Difraoui, Politologe

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Asiem El Difraoui

Politologe und Autor
56 Jahre alt, Paris und Berlin

Was ist für Sie das wichtigste Thema bei der Bundestagswahl?

"Für mich als überzeugter Pro-Europäer und gerade nach den Geschehnissen in Afghanistan ist das wichtigste Thema Europa. Wie schaffen wir es, ein geeinteres und stärkeres Europa zu schaffen? Das bedingt eine gemeinsame Außenpolitik, aber auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik und ein solidarisches Europa, das auch gemeinsam die weiterhin bestehende Covid-Krise meistern kann."

Was hat sich für Sie durch die Coronakrise geändert?

"Auf der einen Seite hat sich Europa schlecht verkauft, weil zum Beispiel Europa am Anfang während des ersten Lockdowns alle Evakuierungsflüge organisiert und auch bezahlt hat, die Deutschen, die Franzosen, die Italiener wurden zurückgebracht, das war später nicht mehr so."

"Wir haben ein großes Rettungspaket auf den Weg gebracht, wo Deutschland ganz vorne dabei war. Aber mir geht es bei der Coronakrise nicht nur allein um Deutschland, im Grunde haben alle europäischen Länder dieselben Schwierigkeiten gehabt. Und jetzt muss es darum gehen, die ganz großen Herausforderungen, vor denen Europa steht, gemeinsam anzugehen: die globale Unsicherheit, die großen Rivalen wie China, Russland, USA, die zunehmend ohne Rücksicht auf Europa handeln."

Ich sehe bei all unseren Kanzlerkandidaten leider keine große geopolitische Vision und auch keine wirklich starke Vision für Europa.

Was wünschen Sie sich für die neue Ära in Deutschland nach Angela Merkel?

"Ich wünsche mir ein dynamsiches Land, aber auch ein soziales Land, was nicht ständig am Jammern ist, Deutschland hat Probleme, aber wir sind die reichsten Deutschen, die reichsten Europäer, die jemals auf dieser Welt gelebt haben. Natürlich gibt es soziale Ungerechtigkeiten. Ich hätte gerne eine mutige Version, eine moderne Version und nicht ein Auf-sich-selbst-zurückziehen. Deutsche innenpolitische Probleme, soziale Spannungen, Benachteiligungen müssen gemeistertet werden auch Herausforderungen in Sachen Integration. Aber das muss mit einem offenen und dynamischen Deutschland geschehen."

"Ich möchte einen Kanzler oder eine Kanzlerin haben, die ein eindeutiges europäisches Bekenntnis ablegt und wirklich Europa vorantreibt, zunächst über intensive deutsch-französische Partnerschaft aber auch mit einer Vision. Ich sehe bei all unseren Kanzlerkandidaten leider keine große geopolitische Vision und auch keine wirklich starke Vision für Europa."

Welche Eigenschaften finden Sie für die nächste Kanzlerin oder den nächsten Kanzler wichtig?

"Mut. Mutig Dinge auszusprechen. Mutig auch schwierige Sachen anzugehen, eine wirkliche Vision zu haben und vorauszuschauen. Frau Merkel hat ja in den letzten Jahren hauptsächlich Krisen gemanagt. Und jetzt wäre es an der Zeit mal weider ein Projekt Deutschland zu entwickeln. Wirklich zu hinterfragen, wo wollen wir hin. Wie soll unsere offene Gesllschaft aussehen? Wo wollen wir international stehen.

Nicht so Klein-Klein-Deutsch - wir müssen uns unserer Verantwortung in der Welt stellen und ihr ständig bewusst sein.

Ich habe das Gefühl, es werden ganz kleinteilig Sachen verhandelt. Der Klimawandel, der in Deutschland so wichtig ist, wird auch in der Hauptsache auf so einer deutschen, reduzierten Eben besprochen und es gibt keine große Zukunftsvision.

Ein deutscher Kanzler sollte wirklich ein Motor sein, um zum Beispiel gegen den Klimawandel global vorgehen. Das bedarf internationaler Solidarität, nicht so Klein-Klein-Deutsch - wir müssen uns unserer Verantwortung in der Welt stellen und ihr ständig bewusst sein."

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