Von hier an improvisieren? "Putins ursprünglicher Plan für die Ukraine ist gescheitert"

Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Videokonferenz mit jungen Kulturschaffenden, 25 März 2022.
Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Videokonferenz mit jungen Kulturschaffenden, 25 März 2022. Copyright Mikhail Klimentyev/Sputnik via AP
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Von Mihhail Salenkov
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Militärexpert:innen sind sich einig: Der eigentliche Plan für die russische "Sonderoperation" in der Ukraine ist gescheitert. Doch was ist eigentlich das Ziel?

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Ein Monat ist vergangen seit russische Truppen in die Ukraine eingefallen sind. Seither beharrt der Kreml auf der Version, wonach die am 24. Februar angekündigte "Sonderoperation" planmäßig verlaufe. 

"Die spezielle Militäroperation der russischen Streitkräfte in der Ukraine verläuft streng nach Zeitplan, nach Plan, alle Aufgaben werden gelöst", sagte der russische Präsident Putin Anfang März. Zwei Wochen später auf einer Regierungssitzung wiederholte diese Worte und fügte hinzu, die Operation verlaufe "erfolgreich".

Militärexperten gehen allerdings davon aus, dass der Kreml die Militäroperation in der Ukraine ursprünglich schneller abschließen wollte, aber in den Außenbezirken von Kiew feststeckt und zudem unerwartete Verluste hinnehmen muss. Der Historiker Dr. Nikolay Mitrokhin, der den Krieg eng mitverfolgt und tägliche Berichte veröffentlicht, glaubt, dass Moskau bei seinem Plan für die ukrainische Operation jetzt improvisieren muss. 

Ergebnisse des ersten Monats des Krieges

Russlands Vorhaben, die Ukraine mit Panzerkolonnen zu "durchschneiden" sei gescheitert, so Mitrokhin. Die einzige relativ effektive Entwicklung des Angriffs der russischen Armee fand seiner Beobachtung zufolge im Süden des Landes statt.

"Der Plan, die Ostfront, die östliche Gruppierung der ukrainischen Streitkräfte, abzuschneiden, scheiterte, weil die ukrainischen Truppen in Charkiw zahlreicher waren als erwartet. Der Versuch, Kiew zu stürmen, scheiterte zunächst, weil die Truppe frühzeitig entdeckt und fast vollständig zerstört wurde. Der Plan, die Luftlandedivision Pskow in der Nähe von Kiew einzunehmen, musste abgesagt werden. Im Großen und Ganzen war es nicht möglich, schnell tief in das Land einzudringen, es in Enklaven zu zerlegen und die Regierungsgewalt durch die Einnahme der Hauptstadt zu lähmen", analysiert Mitrokhin.

Verluste

Nach verschiedenen Schätzungen hat Russland im ersten Kriegsmonat zwischen 500 (offizielle Angaben des Verteidigungsministeriums) und 17.000 Soldaten verloren. Zahlen unabhängig zu prüfen, ist nicht möglich.

Am 25. März meldete der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte, dass Russland bei den Kämpfen rund 16.100 seiner Soldaten verloren habe. Gleichzeitig wies der Generalstab darauf hin, dass die Zahlen ungenau sein könnten, da "die Berechnung durch die hohe Intensität der Kampfhandlungen erschwert wird". Nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte verlor die russische Armee außerdem 561 Panzer, 1.625 gepanzerte Kampffahrzeuge, 115 Flugzeuge, 125 Hubschrauber und 1.089 Fahrzeuge.

Das russische Verteidigungsministerium berichtet nur über zerstörte Ziele auf ukrainischem Gebiet. Das Ministerium meldet keine Verluste nach dem zweiten März und äußert sich nicht zu den Zahlen des ukrainischen Militärs.

Vor einigen Tagen veröffentlichte die Zeitung "Komsomolskaja Prawda" Angaben über mehr als 9.000 Tote auf russischer Seite. Ich denke, das ist in etwa die Zahl, die derzeit auf den Listen des russischen Verteidigungsministeriums steht", sagt Nikolai Mitrokhin.

Gleichzeitig liegen auf den ukrainischen Feldern und in den Wäldern zahlreiche Leichen toter russischer Soldaten sowie der Russischen Nationalgarde (Rosgwardija) und der Wagner-Gruppe. "Ich bin eher geneigt, die Version der ukrainischen Seite zu unterstützen, die die Verluste der russischen Armee und der Rosgvardia auf etwa 12.00 Menschen plus 4500 tote Wagner-Söldner, die im Donbas kämpfen, schätzt. Ich glaube, dass diese Zahlen der Wahrheit näher kommen", sagt Mitrokhin.

Warum ist Belarus nicht in den Krieg eingestiegen?

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko sagte Mitte März, die Truppen seines Landes seien nicht an der russischen Sonderoperation in der Ukraine beteiligt. Russland brauche die Hilfe von Belarus schlicht nicht.

"Sie haben dort genug eigene Soldaten. Gibt es irgendetwas, was wir Russland in Bezug auf Waffen hinzufügen können? Nein. Wir kaufen alles aus der Russischen Föderation. Sie haben alles, und sogar noch mehr", sagte der belarussische Präsident.

Es ist eine direkte militärische Mittäterschaft.

Nikolai Mitrokhin zufolge ist Minsk dennoch sehr aktiv in seiner Unterstützung Moskaus: Panzerkolonnen werden vom belarussischem Territorium aus beschossen, Militärfahrzeuge wurden zu Beginn der Invasion in die Ukraine gefahren, Verwundete werden nach Belarus gebracht.

"Das ist eine sehr aktive Beteiligung - und von der internationalen Gemeinschaft anerkannt, die Belarus als Mitaggressor einstufte", so Mitrokhin.

"Das belarussische Militär stellt die Infrastruktur zur Verfügung: Sie sitzen hinter Radaranlagen, tanken russische Flugzeuge auf ihren Flugplätzen auf und so weiter und so fort. Es ist eine direkte militärische Mittäterschaft".

Laut Mitrokhin ist die belarussische Armee de facto an der Bodenoperation beteiligt, indem sie Truppen an die Grenze bringt: So wird die ukrainische Armee gezwungen, Truppen entlang der Nordgrenze im Westen des Landes zu halten, die sonst in Kampfhandlungen im Zentrum, Osten und Nordosten des Landes hätten eingesetzt werden können. 

"Deswegen kann man nicht von einer Nichtbeteiligung der belarussischen Armee an diesem Krieg sprechen; sie hat einfach nur die Staatsgrenze der Ukraine nicht überschritten", ist der Historiker überzeugt.

Bernat Armangue/AP
Ein Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin hängt an einem Schießstand in Lwiw (Lemberg), Ukraine, 17. März 2022.Bernat Armangue/AP

Was steckt hinter den Erklärungen zur "Entnazifizierung" und zum "Schutz des Donbas"

Der russische Präsident Wladimir Putin sagte am 18. März auf einer Konzertveranstaltung im Olympiastadion Luschniki, dass der Hauptzweck der militärischen Sonderoperation in der Ukraine darin bestehe, den Völkermord an der Bevölkerung des Donbas zu stoppen.

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Bei der Ankündigung der Operation am 24. Februar betonte Putin, dass Russland "die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine anstrebe".

Der russische Außenminister Sergei Lawrow fügte später hinzu, dass die russische und die ukrainische Delegation auch über den neutralen militärischen Status der Ukraine und die Beseitigung von Bedrohungen für die Sicherheit Russlands diskutierten.

"Putin hat in seinen Äußerungen deutlich gemacht, dass es um die Zerstörung der Ukraine als Staat und der ukrainischen Staatlichkeit als Ganzes geht", so Mitrokhin.

Dem Experten zufolge ist es die ukrainische Staatlichkeit und die Idee des Aufbaus eines ukrainischen Nationalstaats, die Putin im Sinn hat, wenn er über den Nationalsozialismus in der Ukraine spricht.

"Da russische Soldaten, die ukrainische Städte besetzen, zuallererst damit beginnen, Staatsflaggen herunterzureißen und ukrainische Staatssymbole zu zerstören, ist es ganz offensichtlich, dass sie einen vollständigen Machtwechsel in diesen Regionen anstreben. Putin hat unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass in jeder Region oder sogar in jedem Bezirk Referenden über den Beitritt zu Russland abgehalten werden".

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Wie diese Abstimmung ablaufen, wisse man nur zu gut, so Mitrokhin. "Die Referenden waren für externe Beobachter nicht zugänglich und von den russischen Behörden vollständig kontrolliert - und auch das Ergebnis kannte man schon im Voraus." 

Ziel sei es, zumindest im östlichen Teil der Ukraine ein Regime zu schaffen, das die Integration dieses Landesteils in Russland gewährleistet", so Nikolay Mitrokhin.

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Nikolay Mitrokhin ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Osteuropastudien der Universität Bremen.

Mikhail Klimentyev/Sputnik
Lukaschenko und Putin bei einem Treffen am 11. März in Moskau.Mikhail Klimentyev/Sputnik
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