„Putin vor Kriegsverbrechertribunal in Den Haag?“ Chefankläger Karim Khan im euronews-Gespräch

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Von Shona Murray
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„Sobald wir über taktische Atomwaffen sprechen, ist das nicht nur eine Grauzone, sondern die Vorstufe eines Albtraums“, sagt Karim Khan, Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof.

euronews: Wir haben eine weitere gewaltsame Eskalation des Krieges in der Ukraine erlebt, darunter Angriffe auf Zivilpersonen. Es besteht der Ruf nach internationaler Gerechtigkeit, sowohl für die auf ukrainischem Gebiet begangenen Kriegsverbrechen als auch zur Abschreckung. In Anbetracht dessen, was in Bucha zu sehen war, hat der UNO-Menschenrechtsausschuss fast 30 Städte untersucht, in denen Beweise für Hinrichtungen und Vergewaltigungen von vierjährigen Kindern und von Menschen über 80 Jahren gefunden wurden. Welche Rolle spielt der Internationale Strafgerichtshof bei der Verfolgung dieser schweren Verbrechen?

Karim Khan, Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag: Die Rolle der Strafverfolgung besteht darin, dafür zu sorgen, dass es eine Rechenschaftspflicht gibt, dass nirgendwo Straflosigkeit herrscht. Es darf nicht der Glaube wachsen, dass alles geschehen kann und es keine Folgen hat, wenn Verbrechen begangen werden. Das erfordert, vor Ort zu sein. Wir müssen ermitteln und die Wahrheit herausfinden und dann die Ausdauer haben, die Gerichtsverfahren zu nutzen, um die Fälle den unabhängigen Gerichten zur Überprüfung vorzulegen, wenn wir sagen, dass Verbrechen begangen worden sind.

euronews: Es war zu sehen, dass die Ukraine einige Menschen vor eigene Gerichte gestellt hat. Wann werden wir Generäle, Soldaten und Militärangehörige, die für diese Verbrechen verantwortlich sind, in einem Gerichtssaal sehen?

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die internationale Gerichtsbarkeit nicht als eine geschichtliche Übung gesehen werden kann, die sich mit Untersuchungen vergangener Anschuldigungen von geschichtlichem Interesse befasst.
Karim Khan
Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

Khan: Das hängt von der Beweislage ab. Ich habe schon vor meiner Wahl und zu Beginn meiner Amtszeit im Juni vergangenen Jahres gesagt, dass wir die Verantwortung haben, zu zeigen, dass internationale Gerechtigkeit nicht nur ein theoretisches Konstrukt ist. Die Opfer und diejenigen, die das Recht am dringendsten brauchen, die Schwächsten, die Kinder, die Frauen und die Männer, die Zivilpersonen, die leiden, die sich in der Ukraine, aber auch in vielen anderen Teilen der Welt frei und sicher fühlen, spüren das. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die internationale Gerichtsbarkeit nicht als eine geschichtliche Übung gesehen werden kann, die sich mit Untersuchungen vergangener Anschuldigungen von geschichtlichem Interesse befasst.

euronews: Würden Sie ein Gericht hier in Den Haag als Ergänzung zum nationalen Gerichtssystem der Ukraine erwägen? Das wird gefordert, ähnlich wie es bei Jugoslawien und Ruanda der Fall war.

Khan: Sie haben Recht: Das Ergänzungsprinzip ist grundlegend. Wir verfügen über eine gute Zusammenarbeit mit den Behörden in der Ukraine und arbeiten eng zusammen. Wir führen unsere Ermittlungen unabhängig durch, weil wir natürlich eine bestimmte Rechtsstruktur haben, die die Ukraine nicht hat. Wir haben Bestimmungen für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir sind in der Lage, nicht nur die unmittelbaren Täter anzuklagen, also die Personen, denen Vergewaltigung, Mord oder Bombardierungen vorgeworfen werden, sondern auch militärische oder politische Vorgesetzte. Das ist ein rechtliches Mittel, das uns nach dem Römischen Statut zur Verfügung steht. Wir werden davon Gebrauch machen, wenn die Beweislage dies erfordert.

Seit Nürnberg ist klar, dass übergeordnete Befehle nicht als Verteidigung gelten, und Ämter wie General, Präsident oder Ministerpräsident kein Grund für Immunität sind.
Karim Khan
Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

euronews: Sie haben von Anklängen an die Nürnberger Prozesse gesprochen. Wollen Sie damit sagen, dass sich zum Beispiel der russische Präsident Wladimir Putin vor dem Kriegsverbrechertribunal hier in Den Haag wiederfinden könnte?

Khan: Seit Nürnberg ist klar, dass übergeordnete Befehle nicht als Verteidigung gelten, und Ämter wie General, Präsident oder Ministerpräsident kein Grund für Immunität sind. Der Internationale Strafgerichtshof als ein vom Sicherheitsrat anerkanntes internationales Gericht und das vom Sicherheitsrat im Sudan, in Libyen und in anderen Fällen eingesetzt wurde, hat die Zuständigkeit, sich mit jeder Person zu befassen, die in unserem Zuständigkeitsbereich Verbrechen begangen oder verhindert oder versäumt hat, Verbrechen zu bestrafen.

euronews: Im Falle eines Friedensabkommens oder einer Verhandlungslösung zwischen der Ukraine und Russland würde Immunität bestehen.

Khan: Es gibt keine Immunität für internationale Verbrechen. Und einer der Nürnberger Grundsätze ist, dass es keine Verjährungsfrist für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt. Das heißt, bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die Grundzüge unserer Menschlichkeit verletzen, kann es kein Schlupfloch geben. Das Gesetz spielt eine Rolle, und wir werden unseren Teil dazu beitragen.

euronews: In Anbetracht der Beweise und dessen was sie persönlich gesehen haben sowie dessen, was von Russland und russischen Generälen gesagt wird, gehen viele Rechtsexperten von einer Ideologie des Völkermordes aus. Könnte dem nachgegangen werden?

Khan: Wir befinden uns an einem sehr entscheidenden Punkt, an dem die politischen Spitzen über Gewaltanwendung, den Einsatz von Bomben und Munition sprechen. Wir müssen überlegen, in welche Richtung es gehen soll. Aber sobald wir über taktische Atomwaffen sprechen, ist das nicht nur eine Grauzone, sondern die Vorstufe eines Albtraums. Wir müssen das sehr ernst nehmen. Das Gesetz wird eine Rolle spielen müssen. Das ist kein Hollywood-Film. Das ist nicht irgendein Drama, sondern etwas, das viele hautnah miterleben. Und die Menschen aus der Ukraine, die jetzt über ganz Europa verstreut sind, die ihre Wohnungen verlassen haben, die von ihren Angehörigen getrennt sind. Diejenigen, die wie meine Mitarbeiter in Kiew in Kellern sitzen und sich fragen, wann die nächste Rakete einschlagen wird. Diese Zivilpersonen haben jeden Schutz verdient.

Es geht nicht, absichtlich auf zivile Einrichtungen, Schulen und Krankenhäuser, Wohnorte von Zivilpersonen zu zielen, es sei denn, sie werden benutzt, um einen eindeutigen militärischen Vorteil zu erlangen. Und selbst dann gibt es die Regel der Verhältnismäßigkeit.
Karim Khan
Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

euronews: Wie ist das Verfahren, wenn es Beweise für Verstöße gegen die Genfer Konvention gibt? Gibt es dann ein Verfahren, mit dem diese Personen auf russischem oder ukrainischem Gebiet verhaftet werden können?

Khan: Ich werde nicht auf konkrete Vorgänge eingehen. Aber das ist bekannt, das hat man im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und im Internationalen Strafgerichtshof gesehen. Ich habe einen Haftbefehl beantragt, wenn ich nach Ermittlungen zu dem Schluss komme, dass es Gründe für die Annahme gibt, dass eine Person Verbrechen begangen hat. Die Richter entscheiden, ob die Gegebenheiten vorliegen. Und dann gehen wir in eine Phase über, in der wir die Möglichkeit der Verhaftung prüfen. Oder die Leute stellen sich freiwillig. Es gab schon Staatsoberhäupter, die sich freiwillig vor diesem Gericht gestellt haben.

euronews: Noch eine letzte Frage: Es gab einen Anschlag auf die Kertsch-Brücke auf der besetzten Krim. Ist das Ihrer Meinung nach ein militärisches Ziel, wenn man bedenkt, dass man sich mitten in einem Krieg befindet und es sich um ein besetztes Gebiet handelt?

Khan: Ich werde mich dazu nicht äußern, weil ich eigentlich gar nicht weiß, was da vorgefallen ist. Ich habe in den Nachrichten von einer Reihe von möglichen Vorgängen gelesen: Von einem Unfall über Sabotage bis hin zu einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten.

In Bezug auf das, was dieser Angriff darstellen könnte, werde ich in Ihrer Sendung keine Meinung dazu äußern, ob es sich um ein Verbrechen handeln könnte oder nicht, ob das als Ziel gerechtfertigt war oder nicht.

Eines ist klar: Es geht nicht, absichtlich auf zivile Einrichtungen, Schulen und Krankenhäuser, Wohnorte von Zivilpersonen zu zielen, es sei denn, sie werden benutzt, um einen eindeutigen militärischen Vorteil zu erlangen. Und selbst dann gibt es die Regel der Verhältnismäßigkeit. Das kann angewendet werden. Und natürlich kann man davon auf eine Vielzahl verschiedener Ziele schließen, ob es sich nun um Brücken oder Energieanlagen handelt. Aber die Verbreitung von Terror ist nicht erlaubt.

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