Nicht so recht Weihnachtsstimmung 2022: Welche Krise belastet die Menschen am meisten?

Weihnachten 2022 von vielen Krisen überschattet
Weihnachten 2022 von vielen Krisen überschattet Copyright Don Campbell/AP
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Von Kirsten RipperEuronews mit AP
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Die Freude auf Weihnachten wird überschattet vom Krieg in der Ukraine, von der Inflation und von der Sorge ums Klima. Und wie analysieren Soziologen die verschiedenen Krisen?

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"Zeitenwende" ist das Wort des Jahres in Deutschland, ist deshalb auch vor Weihnachten vieles anders?

Am Wochenende sind die Weihnachtsmärkte in vielen Städten in Europa voller Familien, aber angesichts gestiegener Preise für gebrannte Mandeln, Glühwein und Kinderkarussell ist vor allem unter der Woche an den meisten Ständen nicht viel los. Beim Einkaufen der Zutaten zum Backen der Weihnachtsplätzchen schockt nicht nur der Butter-Preis.

So recht komme keine Weihnachtsstimmung auf, meint der Physiotherapeut. "Viele meiner Patientinnen und Patienten wollen in diesem Jahr gar keinen Weihnachtsbaum kaufen." 

🎄"Welche Krise belastet Sie vor Weihnachten am meisten?" haben wir die Nutzerinnen und Nutzer der Euronews Telegram-App gefragt. Es waren mehrfach Nennungen möglich. Dabei lagen Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Inflation deutlich vor der Sorge um das Klima.

Eine Userin freut sich, dass wir nicht mehr nach Corona fragen.

Euronews
Screenshot der Telegram-AppEuronews

User Hans U. beschreibt die Probleme auf dem Land, die auch die Weihnachtszeit überschatten: "Ich kaufe noch weniger lokal, weil erstens immer weniger Geschäfte vor Ort überleben und dadurch weitere Fahrten nötig wären, die ich aus Gründen des Aufwands (Zeit/Fahrerei/Parkplatzsuche) nicht auf mich nehme. Zweitens weil die, die noch da sind, relativ teure Preise nehmen müssen. Also bestelle ich beispielsweise viele Elektro-Produkte und besonders Heizmaterial wie Pellets etc. online. Die Händler vor Ort haben das Nachsehen, weil wir viel mehr aufs Geld schauen müssen." 

"Wir erleben einen finanziellen und sozialen Abstieg"

Und er erklärt weiter: "Finanziell-sozialer Abstieg in der Corona- und Energie-Krise: Die gestiegenen Energie- und Treibstoffpreise bewirken ganz konkret bei uns eine drastische Reallohnkürzung. Mangels ÖPNV können wir darüberhinaus hier im ländlichen Raum die Vorteile eines 19- (oder 49) Euro-Tickets NULL in Anspruch nehmen. Das einzige, was wir tun können, ist an Konsum, Essengehen, Urlaub, Qualität der Lebensmittel und Luxusgütern zu sparen. D.h. wir erleben einen finanziellen und sozialen Abstieg, da die Teilnahme am Konsum beinahe die einzigen gesellschaftsschichten-übergreifenden Werte sind , die übrig geblieben sind. Wir schauen mit Sorge auf die weitere Entwicklung und sehen auch in Sachen Demokratie und Medien-Berichterstattung Rückschritte. Meine Frau und ich sind im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte der Meinung, dass wir gesellschaftlich schon viel weiter waren als jetzt und sehen auch Rückschritte in Sachen Allgemeinbildung, aufgeklärtem Denken, Diskussionskultur und sozialem Zusammenhalt. In diesem Sinne, Frohe Weihnachtszeit"

"Angst vor den Rechten in Deutschland"

Schon vor Razzia und Festnahmen der Reichsbürger schreibt uns Jutta Margit: "Mir macht es Angst, dass die Rechten in Deutschland erstarken und nicht wirklich etwas dagegen unternommen wird. Das ist gefährlich. Offenbar lernt man doch nicht aus der Geschichte."

User Silver Surfer schickt uns einen etwas makabren Scherz: 

"Im unendlichen Kosmos treffen sich Planet A und Planet B

A: "hey Planet B wie geht es Dir?

B: "überhaupt nicht gut. Bin sehr krank.

A: "worunter leidest Du denn?"

B: "ich habe Homo sapiens."

A: "das geht vorbei... viel schneller als Du glaubst."

😂😂☠️😂😂

"Zeit sich beschleunigender und kumulierender Krisen"

Der Soziologe Joris Steg, Autor von "Was heißt eigentlich Krise?", sieht in den vergangenen Jahren bis heute eine "wahre Krisenkaskade". Gegenüber euronews sagt Steg, der an der Uni Wuppertal tätig ist:  "Wir leben in einer Zeit der Krisen, in einer Zeit sich beschleunigender und kumulierender Krisen. Verschiedene Krisen finden gleichzeitig statt, bedingen einander oder verstärken sich in den Wirkungen gegenseitig. Mindestens seit 2007, als in den USA die Subprime- und Immobilienkrise ausgebrochen ist, erleben wir eine wahre Krisenkaskade."

Wir erinnern uns an die Krisen der vergangenen Jahre, die Joris Steg einordnet: "Die Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise ging nahtlos in die Staatsschulden- bzw. Eurokrise über. Ab 2015 beherrschte die so genannte Flüchtlings-"Krise" die politisch-mediale und öffentliche Debatte. Mit dem globalen Erstarken des Nationalismus, Rechtspopulismus und Autoritarismus, gekennzeichnet etwa durch den Aufstieg der AfD, der Wahl von Donald Trump und dem Brexit wurde vielfach eine Krise der liberalen Demokratie ausgerufen." 

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Permanent im Krisenmodus?

Die folgenden Krisen beschäftigen uns bis heute: die Klimakrise, die Corona-Pandemie und dann der Krieg in der Ukraine. Und Joris Steg erklärt weiter: "Die vom Westen verhängten Sanktionen gegen das Putin-Regime und die von Russland getroffenen Gegenmaßnahmen haben speziell in Deutschland und anderen EU-Staaten zu hohen Inflationsraten und einer dramatischen Energiekrise mit sprunghaft steigenden Strom- und Gaspreisen geführt. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie permanent im Krisenmodus und im Ausnahmezustand leben, dass der Krisenzustand die "neue Normalität" ist. Das geht mit einem hohen Betroffenheits- und Unsicherheitsgefühl einher."

Der Wirtschaftssoziologe Tobias Wolbring von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sieht ebenfalls die Menschen von der Inflation am meisten betroffen. Er sagt: "Auch wenn es nicht die Krise ist, welche die bisherigen Erfahrungen am meisten sprengt, sind die meisten Menschen von der Preisentwicklung unmittelbar am stärksten betroffen. Inwieweit hier Einschränkungen im Alltag spürbar sind, hängt sehr stark von der sozio-ökonomischen Position, den finanziellen Reserven und der Einkommenssituation ab."

Krise als neue Normalität?

Wolbring nennt das Coronavirus als Beispiel für die Reaktion auf eine Krise: "Da der Mensch sich an Umstände anpasst und gewöhnt, haben die Pandemie und auch der russische Angriffskrieg nicht mehr die Aufmerksamkeit in der Bevölkerung, die ihnen schon einmal zuteil wurde. Besonders deutlich wird dies an der Pandemie. Lässt man diese weg, ist es vermutlich der russische Angriffskrieg, der für viele die bisherigen Erfahrungen am meisten sprengt bzw. tiefe, historisch bedingte Ängste weckt."

Dennoch hält Soziologe Steg den Begriff der "Krise als neue Normalität" für Unsinn. Denn Krisen zeichnen sich dem Soziologen zufolge gerade durch nicht-gewollte Abweichnungen vom Sollzustand, von der Normalität aus. Wäre Krise gleich Normalität, bräuchte es den Begriff der Krise gar nicht mehr. Wenn alles Krise ist und wenn immer Krise ist, ist nichts Krise.

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