Die Gesellschaft in Europa wird liberaler, so eine neue Studie

Gay Pride in Belgrad, Serbien, 2015
Gay Pride in Belgrad, Serbien, 2015 Copyright Darko Vojinovic/AP
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Von Anca Ulea
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Skandinavien weiter vorn in Sachen Akzeptanz, und trotz nach wie vor großer regionaler Unterschiede, geht der Trend in Richtung liberalere Gesellschaft.

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Das europäische Projekt soll Länder mit unterschiedlichen Kulturen auf der Grundlage gemeinsamer Werte vereinen: Menschenrechte, Freiheit und Demokratie. Aber wie ähnlich sind die kulturellen Werte in den verschiedenen europäischen Ländern?

Jüngsten Daten des World Values Survey (WVS) zufolge, einer weltweiten Studie, die die Werte und Überzeugungen der Menschen untersucht, wird Europa gesellschaftlich insgesamt liberaler, doch gibt es große geografische Unterschiede.

"Das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung ist ein wichtiger Indikator", sagt Dr. Christian Welzel, der Vizepräsident der WVS. "Aber auch viele andere Dinge spielen eine Rolle, wie Korruption, die Qualität der demokratischen Institutionen und religiösen Traditionen."

Protestantische Länder sind tendenziell liberaler als katholische, diese wiederum liberaler als orthodoxe Kulturen, die wiederum etwas liberaler als muslimische sind, so Welzel gegenüber Euronews Culture.

"Wir haben auch eine klimatische Korrelation gefunden, die ich den Kaltwasser-Index nenne", sagt er. Je kälter und niederschlagsreicher eine Region ist, desto mehr positive gesellschaftliche Ergebnisse gibt es, wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Toleranz gegenüber Vielfalt, Offenheit, ein geringeres Maß an Korruption, besser funktionierende demokratische Institutionen und eine geringere Anfälligkeit für Populismus und Rechtsextremismus."

Die WVS wurde in den 1980er Jahren in Europa ins Leben gerufen, um zu ermitteln, wie die Bevölkerung über bestimmte soziale Themen denkt, von Migration über Gender bis hin zu Korruption und darüber hinaus. Die siebte Welle der Studie wurde von 2017 bis 2022 durchgeführt.

Wie schneiden die europäischen Länder bei einigen der umstrittensten Themen ab, die heute in den Medien behandelt werden?

Abtreibung

Seit der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr das Urteil Roe v. Wade aufgehoben hat, steht die Abtreibung auch in westlichen Ländern unter Beschuss. Im Anschluss an dieses Urteil stimmte dagegen das Europäische Parlament für eine Entschließung, in der gefordert wird, dass Abtreibung in der EU zu einem Grundrecht wird.

Es ist vielleicht keine Überraschung, dass die skandinavischen Länder und Finnland die liberalsten auf dem Kontinent sind, wenn es um dieses Thema geht. In Dänemark erklärten fast 82 Prozent der Befragten, dass ein Schwangerschaftsabbruch akzeptabel sei, mehr als in jedem anderen Land.

Das Schlusslicht in der EU bildet Rumänien, wo nur 14 Prozent der Befragten der Abtreibung zustimmen.

In Polen, wo fast alle Abtreibungen im Jahr 2021 verboten werden, sagte fast ein Fünftel der Befragten, dass Abtreibung akzeptabel sei. Die polnische Zustimmung zur Abtreibung ist von 12 Prozent in den späten 80er Jahren gestiegen, so dass der allgemeine Trend auch hier in Richtung Akzeptanz geht.

Scheidung

Wie ein roter Faden zieht sich durch diese Studie, dass die skandinavischen Länder plus Finnland im Allgemeinen gesellschaftlich liberaler sind - das gilt auch für die Scheidung.

Die Unterschiede zwischen den Ländern sind in dieser Frage allerdings nicht so drastisch, der Durchschnitt für den gesamten Kontinent liegt bei über 50 Prozent.

Allerdings sind einige Länder auf dem europäischen Kontinent in Bezug auf Scheidungen konservativer geworden. In Albanien, einem der Länder mit der größten religiösen Vielfalt in Europa, sank die Zustimmung zur Scheidung von 40 Prozent in den 1990er Jahren auf 17 Prozent in der letzten Welle der Umfrage.

Auch in Rumänien ist die Ablehnung der Scheidung gestiegen: Nur etwa ein Viertel der Befragten in dem mehrheitlich christlich-orthodoxen Land gab an, mit der Scheidung einverstanden zu sein.

Homosexualität

Erneut ist Skandinavien, diesmal mit den Niederlanden, Spitzenreiter in Sachen Toleranz gegenüber der LGBTQ+-Gemeinschaft, was laut Welzel für die Forscher in diesem Fall nicht vermutet hatten.

"Das wahrscheinlich Überraschendste ist, dass Skandinavien - vor allem in Fragen der sexuellen Selbstbestimmung - bereits in den frühen 1980er Jahren der Spitzenreiter der tolerantesten Gesellschaften war, wenn es um gleichgeschlechtliche Ehen und Homosexualität ging", sagte Welzel. "Eine Erwartung, die wir hatten, war, dass dies irgendwann an eine Grenze stoßen muss. Aber dann haben wir gesehen, dass Skandinavien noch egalitärer und toleranter geworden ist."

Island belegte mit 87 Prozent der Befragten, die Homosexualität akzeptierten, den ersten Platz. Die Balkanländer gehörten erneut zu den Ländern, die Homosexualität am wenigsten akzeptieren, wobei Rumänien das Schlusslicht unter den EU-Mitgliedstaaten bildete. Nur 7 Prozent der rumänischen Befragten gaben an, sie würden Homosexualität akzeptieren.

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In Russland, das einige der strengsten Anti-Homosexuellen-Gesetze der Welt hat, gaben etwa 9 Prozent der Befragten an, Homosexualität zu akzeptieren.

Gelegenheitssex

Im Rahmen des jüngsten World Values Survey wurde zum ersten Mal nach der Akzeptanz von Gelegenheitssex gefragt, undwzar auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 1 bedeutet, dass er nie zu rechtfertigen ist, und 10, dass er immer zu rechtfertigen ist.

Die Ergebnisse waren überraschend: Das Vereinigte Königreich lag in der Rangliste unter den Top 3, noch vor Ländern wie Schweden und Deutschland, die als die sexuell liberalsten Länder der Welt gelten.

Das Schlusslicht bildete Bulgarien, wo nur knapp 4 Prozent der Befragten Gelegenheitssex für vertretbar hielten.

Die Briten haben in dieser jüngsten Umfrage so fortschrittlich geantwortet wie seit den 1980er Jahren nicht mehr. Das mag paradox erscheinen, wenn man die politische Rhetorik bedenkt, die im Land nach dem Brexit aufblüht. Das Vereinigte Königreich geriet zunehmend in die Schlagzeilen, weil es beispielsweise eine einwanderer- und transfeindliche Politik verfolgte.

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Laut Welzel spiegeln die Ergebnisse die Realität wider, dass populistische Parteien nur für eine lautstarke Minderheit sprechen.

"Die Sache ist die, dass die Wahlerfolge, die wir mit dem Populismus sehen, ein Phänomen sind, das bestimmte Segmente der Wählerschaft, die eigentlich kleiner geworden sind, übermäßig mobilisiert hat", sagte er. "Das erweckt den falschen Eindruck, dass die Öffentlichkeit insgesamt in ihrer Ausrichtung konservativer und reaktionärer geworden ist, was überhaupt nicht der Fall ist.

Im Gegenteil, die Gesellschaft wird fast überall auf der Welt toleranter”, so Welzel. Als Forscher sehe er die Zukunft viel optimistischer als viele Menschen in seinem Umfeld.

"Ich bin Forscher auf dem Gebiet der sozialen Indikatoren und beobachte daher ständig, wie sich die Indikatoren entwickeln, z. B. die Lebenserwartung in der Welt, die Kriminalitätsrate, das Pro-Kopf-Einkommen, die Anzahl der Schuljahre - ich kann einfach nicht anders, als eine viel positivere Welt zu sehen, als sie uns in den Medien präsentiert wird. Natürlich sind wir noch nicht am Ziel, aber ich denke, diese Art von Nachrichten sind wichtig, weil sie uns zeigen, dass die Hoffnung auf Fortschritt und Verbesserungen nicht verloren ist und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen."

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