"Wir leben in einem Kontext, der zu Gewalt aufstachelt"

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Von Sophie Claudet
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Die französische Politikwissenschaftlerin Nonne Mayer spricht mit euronews über die verschiedenen Ursachen des Antisemitismus.

Sophie Claudet im Gespräch mit der Politikwissenschaftlerinn Nonna Mayer. Die Französin ist eine emeritierte Forschungsdirektorin am Zentrum für Europastudien und vergleichende Politikwissenschaft des CNRS (Centre national de la recherche scientifique).

Sophie Claudet: Nonna Mayer, danke, dass Sie bei uns sind. Warum beobachten wir heute in Frankreich und Deutschland eine Zunahme von Gewalttaten gegenüber der jüdischen Minderheit?

Nonna Mayer: Erstens ist das nicht neu. Die Zunahme antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten in ganz Europa begann tatsächlich im Jahr 2000 mit der zweiten Intifada. Davor gab es kaum antisemitische Vorfälle. Es gibt also Auswirkungen des Nahostkonflikts mit Spitzenwerten von mehr als 1000 Vorfällen und Bedrohungen, die in Frankreich nach den israelischen Militäroperationen "Protective Edge" oder "Cast Lead" verzeichnet wurden. Ab 2017 nimmt die Gewalt zu - in einem Kontext von Spannungen im Hinblick auf die Herkunft, im Zusammenhang mit dem Aufkommen radikaler populistischer Rechter, extremer Rechte, und vor allem sozialer Netzwerke, die immer wichtiger werden und Debatten entfachen. All dies begünstigt eine Zunahme der Gewalt, die sich nicht nur auf antisemitische Handlungen bezieht: Wir sehen dies bei Homosexuellen, bei Roma, aber auch bei muslimischen Frauen mit Kopftuch. Wir befinden uns in einem Kontext, der zu Gewalt aufstachelt.

Sophie Claudet: Man spricht in Deutschland auch von einem Zusammenhang zwischen den ankommenden Flüchtlingen aus Ländern, die sich mit Israel im Krieg befinden, und der Zunahme von antisemitischen Vorfällen. Finden Sie dafür Belege in Ihren Forschungen?

Nonna Mayer: Es gibt einige vereinzelte Vorfälle, aber es gibt keinen Anstieg. Wir haben eine Umfrage in fünf europäischen Ländern durchgeführt. Tatsächlich gibt es in den jüdischen Gemeinden Angst vor antisemitischem Potenzial unter Flüchtlingen aus israelfeindlichen Ländern. Aber wenn man den Fall Deutschland betrachtet, sieht man, dass 92 Prozent dieser Zunahme von Gewalttaten im Jahr 2017 mit Personen aus dem rechtsextremen Milieu zusammenhängen. Es ist also etwas komplizierter. Sagen wir, es gibt Angst, aber im Moment ist nichts bewiesen.

Sophie Claudet: Wie sieht es im übrigen Westeuropa aus, zum Beispiel in Großbritannien, in Belgien, um nur einige europäische Nachbarländer zu nennen?

Nonna Mayer: Seit dem Jahr 2000, dem Jahr der zweiten Intifada, hat es überall eine Zunahme antisemitischer Angriffe gegeben, wobei die Höhepunkte der Gewalt den israelischen Operationen in den besetzten Gebieten entsprechen.

Sophie Claudet: Also wird die Intifada nach Europa getragen?

Nonna Mayer: Ja. Es gibt auch den dschihadistischen Terrorismus mit al-Qaida und jetzt dem sogenannten Islamischen Staat. Aber es gibt auch etwas, von dem wir noch nicht gesprochen haben, nämlich den Antisemitismus im täglichen Leben - Spucken, Beleidigungen im Alltag- der nicht unbedingt bei der Polizei angezeigt wird, aber der am meisten wehtut, der das Leben der Juden vergiftet.

Sophie Claudet: Lassen Sie uns noch kurz über Osteuropa sprechen, wo Antisemitismus anders auftritt und andere historische Gründe hat.

Nonna Mayer: Weil der Kommunismus diese Gesinnung gewissermaßen auf dem Niveau der 1930er-Jahre eingefroren hat. Es gibt also nicht diesen Bewusstseinswandel, diese Erinnerungsarbeit, die in den westlichen Demokratien geleistet wurde. Es gibt außerdem auch in diesen Ländern eine Zunahme von Rechtsextremismus, und der Jude ist der ideale Sündenbock: Ich denke da an George Soros in Ungarn oder die Geschichts-Neuschreibung bzw. Berichtigung in Polen.

Sophie Claudet: Sind Juden heute die am meisten bedrohte Minderheit in Europa?

Nonna Mayer:  Betrachtet man die geringe Anzahl der Juden in Europa - Frankreich hat die größte jüdische Gemeinde, die 500.000 Menschen dort bilden aber nur 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung - im Verhältnis dazu ist es die Minderheit, von der die meisten Anzeigen bei der Polizei eingehen. Und nicht alles wird angezeigt.

Sophie Claudet: Sind sie die am meisten stigmatisierte Minderheit in Europa?

Nonna Mayer: Nein. Roma sind die mit Abstand am meisten stigmatisierte Minderheit in Europa.

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