Billiglohnland Bulgarien: Bekleidungsindustrie am Abgrund

Billiglohnland Bulgarien: Bekleidungsindustrie am Abgrund
Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Die Billiglöhne reichen nicht zum Leben, zwingen viele Menschen zum Auswandern. DIe Insiders-Reportage beleuchtet die Krise der Textilindustrie in dem osteuropäischen Land.

Schlechte Arbeitsbedingungen in der Textilbranche sind bekannt. Aber nicht nur in Asien sind die Arbeitsbedingungen und die Löhne der Arbeiter miserabel. Auch in EU-Ländern wie Bulgarien oder Rumänien werden Arbeitskräfte zu Löhnen beschäftigt, von denen sie nur eher schlecht als recht leben können. Euronews-Reporter Hans von der Brelie hat das Billiglohnland Bulgarien besucht. Im ärmsten Land der EU wird der niedrigste Mindestlohn aller Mitgliedsstaaten gezahlt. In Goze Deltschew bezahlt Textilunternehmer Bertram Rollmann zwar mehr als das und engagiert sich in der dualen Berufsausbildung. Trotzdem laufen ihm die Arbeiter in Scharen davon. Tausende Bulgaren verlassen ihre Heimat - anderswo in Europa verdienen sie mehr. Hat die bulgarische Textilindustrie noch eine Zukunft?

1800 Näher auf dem Weg zur Arbeit. Zu ihnen gehören Kostadin und Angel, Elena und Elka. Sie sind Teil dieser immer noch riesigen Arbeiterschaft, die in Osteuropa für wenig Geld teure Luxuskleider näht.

Die Bekleidungsindustrie steht permanent unter Druck, denn billige Arbeiter gibt es auch in Afrika, Asien und der Türkei. Haben die osteuropäischen Produktionsstätten überhaupt noch eine Chance in diesem gnadenlosen Konkurrenzkampf?

Euronews-Reporter Hans von der Brelie: "5 Uhr 30 am Morgen, wir sind in Bulgarien, vor einer der größten Bekleidungsfabriken Europas. Hier arbeiten die Arbeiterinnen - in Bangladesch wird gestreikt, denn dort sind die Löhne extrem niedrig. Doch auch hier verdienen die Leute kaum etwas. Schauen wir uns den Arbeitsalltag mal an."

Zeitdruck und Niedriglohn

Rumänien und Bulgarien bieten Luxusmarken den Vorteil, dass edle Anzüge mit einem europäischen Herkunftsnachweis vermarktet werden können.

PIRIN-TEX produziert für Hugo Boss. Die Arbeiter sind schnell: fünf Sekunden brauchen sie für eine Hosennaht. Die bulgarischen Näherinnen produzieren in dieser Fabrik pro Jahr eine Million Kleidungsstücke.

Zeitdruck und Niedriglohn: die Belegschaft ist unzufrieden. Laut Gewerkschaft erfüllen nur elf der 1800 Arbeiter die Norm. Mariyana Georgieva überwacht den Kontrollraum - und schickt von hier aus die Vorgaben auf die 1700 Bildschirme, einer neben jedem Arbeitsplatz:

"Mit diesem Tablet-System überwachen wir den gesamten Produktionsprozess. Ein Super-System, das beste, das wir je hatten. Alles was die Arbeiter tun, die Zeit, die eine Näherin für eine bestimmte Aufgabe benötigt, die genaue Vorgehensweise - mit diesen Tablets können wir alles ganz genau kontrollieren", sagt die Vorarbeiterin.

Arbeiter beschweren sich

Goze Deltschew ist das Herz der bulgarischen Bekleidungsindustrie. Die Kleinstadt liegt im Süden Bulgariens und ist benannt nach einem historischen Balkan-Rebellen mit linksgerichteten Ansichten. Wir treffen uns mit PIRIN-TEX-Arbeitern in ihrem Gewerkschaftsbüro. Ihnen macht das niedrige Lohnniveau zu schaffen. Kostadin Draginov ist der örtliche Gewerkschaftsboss:

"Im Durchschnitt schaffen es die Arbeiter, rund sechzig Prozent der zugewiesenen Aufgaben zu erledigen. Je nach Betriebszugehörigkeitsdauer gibt es dafür 320 bis 350 Euro im Monat."

Textilarbeiterin Elena Marvakova sagt: "Haben die bulgarischen Politiker die Gesetze für Menschen oder für Roboter gemacht? Wir arbeiten pausenlos. Mit diesem Akkordlohnsystem hat es unser Arbeitgeber geschafft, fast so etwas wie Zwangsarbeit zu legalisieren."

Ihr Kollege Angel Stankov erzählt: "Meine Eltern leben im Ausland. Sie haben Bulgarien vor etwa zwanzig Jahren verlassen. Doch selbst in meinem Alter bin ich immer noch von ihrer Hilfe abhängig. Von meinem Lohn kann ich nur die Hälfte der Dinge bezahlen, die ich zum täglichen Leben brauche."

Und Elka Karaylieva, auch sie Textilarbeiterin, meint: "Unsere Kollegen in Westeuropa würden lachen, wenn sie hören würden, was wir verdienen. Die würden das nicht glauben. Na ja, vielleicht ist lachen besser als heulen. Trotzdem: Sind wir Europäer zweiter Klasse? Nähen wir schlecht? Brauchen wir weniger zu essen als unsere Kollegen im Westen?"

Gewerkschaftsboss Draginov sagt: "Ganz Bulgarien ist ein einziges Paradox. Wir wollen weg von den Niedriglöhnen, wir laufen weg von den schlechten Lebensbedingungen, wir flüchten ins Ausland, nach Großbritannien, Frankreich, sonstwohin. Doch niemand will bei UNS arbeiten. Und wenn ein ausländischer Investor nach Bulgarien kommt, dann findet er nicht genug Leute. Es fehlt hier ganz massiv an Arbeitskräften."

Arbeitskräfte wandern ab

Weniger als 20.000 Menschen leben in Goze Delchew. Zusammen mit den umliegenden Dörfern kommt der Landkreis auf etwa 40.000 Einwohner. Davon leben heute 2500 im Ausland, als Erntehelfer in Deutschland, Bauarbeiter in den Niederlanden, Altenpfleger in Österreich und als Näher in England.

Galina hat ihre Heimatstadt Goze Deltschew erst vor Kurzem eingetauscht gegen die britische Hauptstadt an der Themse. Dort näht sie Billig-T-Shirts statt wie früher Designer-Anzüge. Ihre Familie hat sie in Bulgarien zurückgelassen.

Euronews-Reporter Hans von der Brelie interviewt die Näherin per Telefon: "Guten Abend, Galina. Direkte Frage: Warum haben Sie Bulgarien verlassen?"

Galina Georgieva: "Ich habe mich wie eine Maschine gefühlt. Man kommt von der Arbeit, man isst was, schläft drei, vier Stunden. Ich fühlte mich total kaputt, als ob ich einen Felsbrocken mit mir 'rumschleppen würde."

Euronews-Reporter: "Wieviel haben Sie in Bulgarien verdient? Und wieviel bekommen Sie heute in Großbritannien?"

Galina Georgieva: "Der Stress in Bulgarien war grässlich. Ich habe zwischen 260 und 280 Euro bekommen. Hier in London bekomme ich umgerechnet 1800 Euro pro Monat. Als ich krank war, hat mir mein Arbeitgeber in Bulgarien nicht geglaubt. Ich habe mir Medikamente gekauft, um weiterarbeiten zu können. Hier in Großbritannien bin ich seit drei Monaten, ich fühle mich besser. In Bulgarien gab es nur den totalen Stress."

Sozial-Audits für bessere Arbeitsbedingungen

Als einer der Hauptkunden von PIRIN-TEX schickt Hugo Boss regelmäßig Kontrolleure nach Goze Deltschew. Sozial-Audit nennt sich das. Laut PIRIN-TEX-Management sind die Ergebnisse gut. Und in der Tat: PIRIN-TEX hat einen guten Ruf in Bulgarien, anderswo sind die Arbeitsbedingungen weit schlechter.

Viden Kinevirski kennt jede Maschine, jede Schraube. Er ist einer der 25 Ingenieure, die beim Aufbau der Fabrik halfen als der deutsche Unternehmer Bertram Rollmann nach Osten zog. 1993 war das:

"In den frühen Neunziger Jahren lag die Fabrik noch in Griechenland. Der Unternehmer, Herr Rollmann, war auf der Suche nach einem alternativen Standort. Die Kosten gingen damals hoch, in Griechenland, während sie bei uns in Bulgarien niedrig waren. In der Bekleidungsindustrie ist das immer so: Die Produktionsstätten ziehen weg aus den Ländern mit hohen in die Länder mit niedrigen Kosten", erzählt der Ingenieur.

Erträge in der Bekleidungsindustrie sind zu niedrig

Früher wurden in den Fabrikhallen Funkgeräte für die Sowjetunion produziert. Als Rollmann investierte, wurde er als Held gefeiert. Bulgariens Wirtschaft lag am Boden - die Kleiderfabrik versprach Hoffnung. In wenigen Jahren kletterte die Zahl der Arbeiter auf 3500.

Rollmann ist Textilunternehmer in der dritten Generation. 1922 gründete Rollmanns Großvater in Deutschland eine Heimschneiderei. 1965 öffnete die erste Familien-Fabrik. 1980 kam Griechenland hinzu - dann, 1993, der Schritt nach Bulgarien:

"Die Unternehmen der Bekleidungsindustrie haben zu geringe Erträge, um ihre Leute entsprechend bezahlen zu können. Mit dem Ergebnis, dass sich seit drei Jahren ein Abwanderungsprozess eingestellt hat, der verheerende Spuren hinterlässt. Wir haben in den vergangenen drei Jahren jährlich im Durchschnitt 600 Leute verloren, mit Ziel vorallem nach England, Deutschland, ein paar sind nach Schweden oder Spanien gegangen. Es ist so, dass für die reinen Produzenten heute ein Anteil von fünf bis sieben Prozent des Retailpreises hängenbleibt. Das ist eigentlich zu wenig. Dass ist so wenig, dass die Menschen, die in der Produktion arbeiten, ob das nun in Bulgarien, Rumänien, Serbien, Nordmazedonien oder Albanien ist, sich keine Exisitenz damit aufbauen können. Einerseits verlangen die internationalen Marken, dass wir internationale, europäische Standards bieten im sozialen Bereich, auf der anderen Seite wollen sie dafür aber nicht das Nötige bezahlen", sagt Unternehmer Bertram Rollmann, Eigentümer von PIRIN-TEX.

Bulgariens Bevölkerung schrumpft

Seit den Neunzigern wanderten eineinhalb Millionen Bulgaren aus. Die Bevölkerungszahl des Landes schrumpfte massiv. Nur noch rund sieben Millionen Menschen leben heute in Bulgarien - und der Exodus geht weiter.

Gewerkschaftschef Kostadin hat uns eingeladen, die kleine Einzimmer-Privatschneiderei seiner Frau Zorka zu besuchen. Als Zorka genug hatte von Arbeitsstress und Niedriglohn, kündigte sie bei PIRIN-TEX. Als selbstständige Näherin bestimmt sie jetzt ihren Arbeitsrhytmus.

"Dieses neue Produktionsquotensystem bei PIRIN-TEX bringt uns nur Nachteile", meint Kostadin. "Wir verdienen keinen Cent mehr. Dauernd wird die Norm erhöht. Wir schaffen es nicht, die Stunden-Norm zu erfüllen. Dadurch werden die Kollegen depressiv, sie sind nicht motiviert, alle überlegen nur noch, wie sie den Absprung schaffen", sagt der Gewerkschaftler.

 Und seine Frau Zorka Guleva ergänzt: "Meiner Meinung nach wurde dieses Akkordlohnsystem eingeführt, um die Arbeiter zu kontrollieren. Die Produktivität kann damit nicht gesteigert werden. Es geht nicht um eine Kontrolle der Arbeitsabläufe, sondern darum, die Arbeiter im Griff zu haben und darum, ihnen weniger zahlen zu müssen. Ergebnis: die Produktivität sinkt."

Die Menschen kommen nicht über die Runden

Ohne Extra-Einkommen aus Obst und Gemüseanbau kommen die Menschen nicht über die Runden. Früher hatten viele hier ein zweites Standbein, überall gab es Tabakkulturen. Doch damit ist es vorbei. Und weil niemand vom PIRIN-TEX-Lohn allein leben kann, ziehen die Leute weg in den Westen. Gewerkschaftler Kostadin Draginov rechnet vor:

"Es ist Winter und wir brauchen ein warmes Haus. Das kostet mich pro Heizsaison umgerechnet 600 Euro. Im Klartext: Ich muss zwei Monatsgehälter beiseite legen, damit ich nicht friere. Dann ist da noch die Stromrechnung, etwa 50 Euro. Für Nahrungsmittel bleibt da nicht viel übrig. Wenn man seinen Kindern ein Studium finanzieren will, oder was sparen möchte für den Notfall oder Urlaub - nun, das geht einfach nicht, nur mit dem Gehalt der Kleiderfabrik. Die Obstbäume hier finanzieren die Erziehung meiner Kinder, die sind gewissermaßen meine Lebensversicherung."

286 Euro Mindestlohn pro Monat

Bulgarien ist der EU-Staat mit dem niedrigsten Mindesteinkommen. Im Januar gab es eine zehnprozentige Anhebung auf jetzt 286 Euro pro Monat. Weit weniger als die 440 Euro im benachbarten Rumänien und Lichtjahre entfernt von den 1500 Euro in Frankreich.

Der Zwanzigjährige Ivan hat gerade seinen ersten Arbeitsvertrag unterschrieben. Bislang hielt er sich mit Computerreparaturen im Freundeskreis über Wasser. Jetzt ist er Hausmeister der städtischen Sportanlage:

"Es ist schwierig, einen gut bezahlten Job in Bulgarien zu finden. Ich habe einen Berufsschulabschluss mit Schwerpunkt Computertechnik. Doch keiner meiner 25 Klassenkameraden hat in seinem Spezialgebiet etwas gefunden. Normal bezahlte Arbeit kann man bei uns mit der Lupe suchen. Na ja, wenigstens ist der Hausmeisterjob hier etwas Interessantes."

Bei den Handballfinalspielen gehen hier schon mal einige Sitzschalen zu Bruch. Ivan tauscht sie dann aus. Seine Arbeit - die er im Rahmen eines EU-Programmes gegen Jugendarbeitslosigkeit bekommen hat - wird mit dem Mindestlohn entgolten:

"Bulgarien ist das ärmste EU-Land. Pro Stunde verdient man hier umgerechnet etwa einen Euro, das sind zehn Euro pro Tag. In Deutschland oder Frankreich gibt es zehn Euro pro Stunde. Was wir hier an einem ganzen Tag Arbeit verdienen, das bekommt man in Westeuropa für eine Stunde. In Bulgarien kann man als junger Erwachsener nicht von Zuhause wegziehen, um sich ein eigenes Leben aufzubauen. Wenn die Eltern auch nur den Mindeslohn verdienen, klappt das nicht", sagt Ivan Dushkov.

Nach Feierabend zeigt mir Ivan seine Heimatstadt Goze Deltschew. Ivan hört gerne Metallica, Shakira, bulgarischen Balkanpop und: Er würde gerne reisen. Doch dafür fehlt das Geld.

Glücksspiel soll Wunschträume erfüllen

Wie die meisten Bulgaren ist Ivan verrückt nach Glücksspielen. Doch da er so wenig verdient, erlaubt er sich den Prickel mit den Rubbel-Losen nur an Neujahr und zum Geburtstag. Heute macht er eine Ausnahme. Aber er hat kein Glück. Der Euronews-Reporter fragt nach seinem Wunschtraum:

"Wenn ich jetzt gewänne, würde ich mir ein Auto kaufen und auf Weltreise gehen. In den arabischen Ländern würde ich mir gerne die archäologischen Schätze ansehen", so Ivan Dushkov.

Bulgarien und die EU

Wir haben uns mit dem Bürgermeister verabredet, Vladimir Moscow. Seit dem Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union hat die Kleinstadt rund 50 Millionen Euro EU-Hilfe bekommen, damit wurden Straßen, Schulen und das Krankenhaus renoviert. Um die Abwanderung medizinischer Fachkräfte zu stoppen, hat sich Bürgermeister Moscow etwas ganz besonderes ausgedacht. Die Stadt finanziert weitestgehend die Ausbildung, im Gegenzug verpflichten sich die Programmteilnehmer dazu, nach Abschluss mehrere Jahre am Krankenhaus der Stadt zu bleiben.

Derzeit bereitet die Stadtverwaltung eine Revolution der Müllentsorgung vor. Die EU hat vier Millionen zur Verfügung gestellt, um mit einer Kompostier- und Sortieranlage das Müllvolumen der Stadt zu halbieren, denn Deponieraum ist knapp. Bald soll es losgehen mit den Bauarbeiten für das Recyclingprojekt neben der Müllkippe. Als Projektleiter wurde ein junger Mann eingestellt, der den Weg aus dem Westen zurückgefunden hat in seine Heimatstadt. Dimitar Palkov, 26, ist hochqualifiert, von 2011 bis 2015 studierte er Umwelttechnik in Dänemark.

Als Berufseinsteiger verdient er wenig, trotz seiner Top-Qualifikation. Warum ist er trotzdem zurückgekommen? "Ich liebe Bulgarien und die Gegend hier", meint der junge Mann und fügt hinzu: "Viele bulgarischen Universtitätsabsolventen haben überzogene Ansprüche." Man solle erst einmal bescheiden in den Beruf einsteigen, sich ins Zeug legen, etwas aufbauen - und dann klappe es mit der Karriere und späteren Gehaltssteigerungen schon. Auch in Bulgarien könne man sich mit Wissen, Willen und Engagement eine berufliche Zukunft aufbauen, Erfolg haben.

Klopfen wir noch einmal beim Bürgermeister an. Als Mitglied der sozialistischen Partei steht Vladimir Moscow in Opposition zur rechtsgerichteten Regierung in Sofia. Doch einige seiner Forderungen, Klagen und Vorschläge könnten auch aus der Feder eines GERB-Politikers stammen, auf lokaler Ebene verwischen sich eben die ideologischen Gegensätze. So hätte Bürgermeister Moscow gerne mehr EU-Gelder zur Förderung kleiner und mittelständischer Betriebe, die Warteliste für Subventionen auf seinem Schreibtisch ist lang, die Mittel sind knapp. Mittelstandsförderung als Migrationsbremse quasi.

Bei Grundsatzfragen tritt dann aber doch der klassiche Links-Rechts-Gegensatz deutlich zu Tage. Vladimir Moskov ist ein Anhänger nachfrageorientierter Lösungsansätze. Euronews-Reporter Hans von der Brelie: "Bulgarien ist einer der ärmsten Mitgliedstaaten der EU - was muss geschehen, damit sich das ändert?"

Bürgermeister Vladimir Moskov: "Es gibt da wirklich ein Problem. In den jüngsten EU-Mitgliedstaaten sind die Einkommen einfach zu niedrig. Man sollte alles tun, um in diesen Regionen und Ländern die Kaufkraft zu stimulieren. Wir brauchen eine Einkommens- und Kaufkraftrevolution. So eine Lohnrevolution könnte die Migrationsbewegungen innerhalb der Europäischen Union abschwächen. Wir brauchen ein Umsteuern, damit die Menschen in Bulgarien bleiben und sich denselben Lebensstandard wie in Westeuropa erarbeiten können."

Drohende Altersarmut

Wer sein Leben lang wenig verdient, dem droht Altersarmut. Die heute 80-jährige Atlaza Shtereva begann schon als Teenager zu arbeiten. Als 15-jährige forstete sie Wälder auf. Nach der Heirat zog sie in die Sowjetunion, arbeitete als Köchin. Sie kehrte zurück nach Goze Deltschew und schuftete jahrelang in einer Reißverschlussfabrik. Beim Einkaufen kommt nur das Nötigste ins Körbchen, Sonneblumenöl und Billignudeln. Atlaza ist Expertin für Sonderangebote - und hat immer ein waches Auge auf das Wechselgeld.

"Kirchen-Oma" wird sie genannt. Weil sie gut im Nachzählen ist, hilft sie bei der Buchführung der Kirchengemeinde. Atlazas Neffe lebt in Spanien, die Nichte in Frankreich. Doch ihre Kinder sind noch in Bulgarien. Die Rentnerin erzählt:

"Wenn ich meine Rente ausgezahlt bekomme, etwa 150 Euro im Monat, dann gehen davon sofort 50 Euro weg für die ganzen Rechnungen: Strom, Wasser, Medikamente. Das heißt, dass mir bis zum Monatsende 100 Euro zum Leben bleiben. In den Schaufenstern sehe ich ständig Dinge, die ich mir nicht leisten kann. Glücklicherweise helfen mir meine Kinder, ohne deren Unterstützung wäre ich schon längst tot. Ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Dank meiner Kinder habe ich wenigstens Brennholz, es ist warm und ich erkälte mich nicht. Die Kinder kaufen das Holz und bringen es mir nach Hause."

Atlaza ist überzeugte Demokratin. Auch bei den Europawahlen im Mai wird sie zur Wahl gehen. "Noch nie habe ich eine Wahl versäumt", lacht die alte Dame mit den wasserblauen Augen. Doch es gibt auch Momente in ihrem Leben, da ist ihr nicht zum Lachen zumute: "Mit meiner Mini-Rente kann ich mir weder Wurst noch Fleisch leisten. Neulich war ich mit zwei Freundinnen unterwegs, die beide noch arbeiten. Deren Familien haben ein stabiles Einkommen und die können sich Fleisch und Schinken leisten. Ich nicht."

Wird die Textilindustrie in Osteuropa überleben?

Hat die Textilindustrie in Osteuropa noch eine Überlebenschance? Wären EU-Schutzzölle, wie sie im linken und rechten Spektrum propagiert werden, vielleicht ein Ausweg? "Auf keinen Fall", sagt Fabrikbesitzer Rollmann. "Protektionismus hätte nur Korruption und höhere Preise zur Folge", meint er. Im europäischen Textilverband Euratex, in dessen Vorstand Rollmann einige Jahre lang saß, wurde die intern durchaus heftig geführte Debatte bereits vor einiger Zeit zu den Akten gelegt. "Einerseits hatten wir Produzenten aus Ländern wie Frankreich und Belgien, die Schutzzölle befürworteten, anderseits Produzenten aus Ländern wie Deutschland und einigen Mitgliedstaaten in Nordeuropa, die Schutzzölle ablehnten - und Produzenten aus Italien, die sich untereinander nicht einig waren", plaudert Rollmann aus dem Nähkästchen. Schließlich habe man sich aber auf eine gemeinsame Position einigen können und vertrete seitdem als Interessenverband der europäischen Textilproduzenten die Position, dass offene EU-Grenzen für die global verzweigte Bekleidungsbranche mehr Vorteile als Nachteile hätten. Und auch heute, beim Wiederaufflammen der alten Schutzzolldebatte, verteidigt Rollmann diesen Standpunkt.

Seine Prognose im Hinblick auf die Textilindustrie Osteuropas ist düster. Bulgarische und rumänische Produzenten blickten Richtung Albanien, Bosnien, Kosovo, Nordmazedonien und Serbien, einige hätten bereits mit Produktionsverlagerungen begonnen.

Wird Textilfabrikant Rollmann in Bulgarien bleiben?

"Ja wir werden hier bleiben - so eine Anlage mit im Augenblick 1800 Mitarbeitern gibt man nicht einfach auf. Das Know-how, das wir hier aufgebaut haben, ist uns sehr wertvoll. Es kann natürlich sein, dass wir irgendwann gezwungen sein werden, irgendwo eine Filiale in einem anderen Land zu eröffnen, das kann Afrika sein, das kann Zentralasien sein, um eine Alternative und ein zweites Standbein zu bekommen für die mittlere und auch längere Zukunft", so Betram Rollmann.

Während Rollmann Tuchfühlung aufnimmt mit Senegal und Usbekistan treffen sich die Arbeiter erneut zu einem Krisengespräch in der Gewerkschaftszentrale von Goze Delchew. Wie soll sie aussehen, die Wende zum Besseren? Heute, kurz vor den Europawahlen, was schlagen die Arbeiter vor?

Wende zum Besseren: Vorschläge der Arbeiter

"Wenn sich wirklich etwas ändern soll, dann bräuchten wir einen festen Stundenlohn und einen Branchentarifvertrag. Anderswo gibt es doch auch feste Stundenlöhne. Eine Kollegin arbeitet in Frankreich, dort gibt es 9.50 Euro die Stunde, das ist enorm. Wenn man unseren Akkordlohn auf die Stunde umlegt, stellt man fest: Das sind nur ein paar lächerliche Cent", sagt Mariya Kanatova.

Und Angel Stankov fodert: "Was könnte die Europäische Union für uns tun? Nun, die EU sollte einen Minimal-Stundenlohn festlegen, der nirgendwo auf dem Gebiet der Europäischen Union unterschritten werden dürfte."

Elena Marvakova: "Wir akzeptieren kein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Wir wollen vollwertige EU-Mitglieder sein, ohne fadenscheinige Ausreden. Wir wollen einen europaweiten Mindeslohn. Die Preise sind ja auch überall dieselben in Europa."

Karamfila Boicheva: "Was sich ändern muss? Unsere Kinder sollen zurückkommen nach Bulgarien. Ich habe einen Sohn, der ist 21 Jahre und schon seit zwei Jahren in Deutschland. Ich will, dass mein Kind hier in Bulgarien eine anständig bezahlte Arbeit findet, sich hier eine Existenz aufbauen kann, nicht dort im Westen. Das ist es, was ich will."

Rollmann und seine Arbeiter - als Reporter bekommt man das Gefühl, es mit Bewohnern unterschiedlicher Planeten zu tun zu haben. Die Streiks und Arbeitsniederlegungen der vergangenen Jahre haben Wunden geschlagen, die schwer zu überbrücken sind, scheint es. Schade, vielleicht sollten sich alle einmal zu einem Umtrunk treffen, Zahlen auf den Tisch legen, einander aufmerksam zuhören und mit wechselseitiger Kompromissbereitschaft einen Deal aushandeln, der Bestand hat, dem Unternehmen eine Zukunft in Bulgarien gewährt und den Arbeitern ein auskömmliches Einkommen...

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