Bulgariens Aderlass: Tausende Ärzte und Pfleger wandern aus

Bulgariens Aderlass: Tausende Ärzte und Pfleger wandern aus
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Von Hans von der BrelieSabine Sans. Damian Vodenitcharov
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Besonders in ländlichen Gegenden macht sich der Ärztemangel bemerkbar: Unreported-Europe-Reporter Hans von der Brelie auf Spurensuche.

Bulgariens Ärzte und Pfleger verlassen scharenweise das Land: Unter anderem auf der Suche nach einer besseren Bezahlung wandern sie nach Westeuropa aus. Ein lebensbedrohlicher Aderlass für Bulgarien - denn dort fehlt es an Fachkräften. Das ist das Thema in dieser Folge von Unreported Europe.

Bereit für den Notfall: vor der Rettungsleitzentrale in der bulgarischen Hauptstadt Sofia reihen sich brandneue Krankenwagen. Die Europäische Union hat viel Geld in Bulgariens Medizin-Infrastruktur gesteckt. Doch das Problem sind nicht die Maschinen - es sind die fehlenden Menschen.

Dank EU-Hilfe: Bulgarien modernisiert medizinische Notfalldienste

In der EU-Förderperiode 2014 bis 2020 kann Bulgarien insgesamt 7,6 Milliarden Euro abrufen. Im Rahmen des EFRE-Programms läuft noch bis 2021 ein Projekt zur Modernisierung der medizinischen Notverfallversorgung. Mit 83,8 Millionen Euro fördert die EU die Instandsetzung beziehungsweise Neuausrüstung der insgesamt 237 Notfallversorgungseinrichtungen. Unter anderem wurden 400 neue Krankenwagen angeschafft: Fahrzeuge, die mit moderner Kommunikations- und Notfall-Medizintechnik ausgestattet sind. Das Projekt zielt nicht nur auf eine Verbesserung der Qualität und der Zugänglichkeit der Gesundheitsfürsorge - besonders für Patienten in abgelegenen Landesgebieten ab. Es soll auch zu mehr Kosteneffizienz beitragen, sowie die Arbeitsumgebung für das medizinische Personal verbessern.

Bulgarische Ärzte wandern aus

Drei von vier angehenden Ärzten in Bulgarien wollen auswandern. Deutschland, Österreich, Skandinavien stehen ganz oben auf der Wunschliste. Das hat eine Umfrage unter Medizinstudenten ergeben.

Kristina Mancheva und Rudi Josif Yener von Fergutz haben sich fürs Bleiben entschieden. Seit Jahren arbeiten die beiden Hand in Hand und versuchen, den Notfalldienst in der Hauptstadt am Laufen zu halten.

Bereits als Kind begeisterte sich Kristina Mancheva für ihren Beruf: Mit Schläuchen aus Papas Garage intubierte sie ihre Puppen und verpasste ihnen Spritzen. Rudi Josif Yener von Fergutz begleitete bereits das Olympische Feuer. Er kennt sich aus mit sportlichen Wettkämpfen, weiß wie man sicher und gleichmäßig beschleunigt, also wurde er Krankenwagenfahrer.

Mangel an medizinischen Fachkräften

Die Notfallärztin würde sich wünschen, dass das medizinische Personal Bulgariens im Land bleiben würde. Rudi Josif Yener von Fergutz dagegen schätzt die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, die es jedem einzelnen europäischen Bürger ermöglicht, in der EU zu leben und zu arbeiten, wo immer er oder sie möchte.

Kristina Mancheva arbeitet seit sechs Jahren im Rettungsdienst. Davor war sie 20 Jahre in einem Krankenhaus tätig. Mit 12 Jahren erlitt sie eine Vergiftung, Ärzte im Krankenhaus retteten sie: Damals reifte in ihr der Entschluss, Ärztin zu werden. Rudi Josif Yener von Fergutz arbeitet seit vier Jahren im Notdienst. Davor fuhr er Lastwagen, arbeitete in einer Mehlfabrik. Ihm gefällt seine Arbeit als Krankenwagenfahrer und Rettungssanitäter. Er erinnert sich noch an den Moment, als er nach der Arbeit im Supermarkt einkaufte und ihn jemand urplötzlich umarmte und ihm dafür dankte, dass er sein Leben bei einem Notfall-Einsatz gerettet hatte.

Kristina Mancheva sagt: "Das Hauptproblem ist der Mangel an medizinischen Fachkräften, in allen Bereichen, aber insbesondere im Bereich der Notfallmedizin. Wir brauchen wirklich mehr Leute. Wir haben weniger als die Hälfte des benötigten Personals."

Ein Notruf unterbricht das Interview. Jetzt zählt jede Minute. Kurze Zeit später hastiges Treppensteigen in einer Plattenbausiedlung: Es geht möglicherweise um Leben und Tod. In der Wohnung klagt eine ältere Frau: "Hier, in meiner Brust, das fühlt sich komisch an. Das drückt so schrecklich. Genau hier. Ich bekomme keine Luft." Routiniert untersucht die Notärztin die Patientin. Vielleicht ein Herzanfall? Das Team zaubert ein mobiles Messgerät aus dem Notfallkoffer. Aber das Ergebnis gibt Entwarnung:

"Ok, Schätzchen. Um Ihr Herz brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Nur, dass Sie es wissen: So ein Herz hätte ich auch gerne. Alles im grünen Bereich", beruhigt Kristina Mancheva die betagte Frau.

Bulgarien überaltert und die Bevölkerung schrumpft

Bulgarien altert rasch, das Land braucht Mediziner, doch die Jugend wandert aus. Die Vereinten Nationen schätzen, dass Bulgarien bis 2050 weitere 23 Prozent seiner Bevölkerung verlieren könnte.

Allein Deutschland "importierte" rund 50.000 ausländische Ärzte - die anderswo nun bitter fehlen. Dazu kommen schätzungsweise 100.000 bis 300.000 Krankenschwestern und Sanitäter, die hauptsächlich aus Osteuropa abgeworben wurden.

Kristina Mancheva meint: "Wir haben wirklich gute Ärzte in Bulgarien, doch die fehlenden Kollegen machen sich schmerzhaft bemerkbar. Mein Appell: Kommt wieder nach Hause, kommt zurück nach Bulgarien."

Krankes bulgarisches Gesundheitssystem

Euronews-Reporter Hans von der Brelie macht sich auf Spurensuche: "Das bulgarische Gesundheitssystem ist alles andere als gesund. Warum? Das versuchen wir in Vidin herauszufinden."

Trostlosigkeit und Leere. Nirgendwo sonst in Bulgarien ist das Durchschnittsalter so hoch wie hier im äußersten Nordwesten des Landes. Apotheken wohin man blickt.

Der Reporter hat eine Verabredung mit Tsvetelina Miloslavova. Nach einer erfolgreichen Krebstherapie kämpft die Frau nun mit Folgeproblemen: Sie leidet an Lymphödemen. Eigentlich bräuchte sie täglich medizinische Massagen. Doch hier in Vidin gibt es kaum Physiotherapeuten. Die sind alle ausgewandert.

Tsvetelina Miloslavova erkrankte 2002. Ihr Krebs wurde zwar geheilt, aber 2003 bekam sie infolge der schweren Krebsbehandlung Elephantiasis. Im Kampf für Patientenrechte und eine anständige Behandlung in einem maroden Gesundheitssystem beschloss sie, eine Vereinigung zur Unterstützung anderer Patienten mit dieser Indikation zu gründen.

"Jeden Tag brauche ich drei Stunden, um die Verbände zu wechseln: eineinhalb Stunden morgens, abends dann nochmal", erzählt Tsvetelina Miloslavova. "In Bulgarien gibt es kaum noch Krankenschwestern, da ist niemand, der sich um mich kümmern kann. Und wenn ich doch einmal einen Physiotherapeuten auftreibe, dann sagt der mir, dass es im ganzen Land nur noch eine Handvoll Therapeuten gibt."

Medizinische Dienstleistungen - Fehlanzeige

Dantshko Kirashki ist leitender Arzt der privaten Omega-Klinik in Vidin. Davor arbeitete er jahrzehntelang im örtlichen Krankenhaus: dort streicht der Staat Stellen. Es gibt keine Urologie. Und am Tag vor unserem Besuch wurde auch die Neurologie geschlossen. Was für Folgen hat die medizinische Unterversorgung für die Patienten?

"Grauenhaft, es ist einfach nur schrecklich. Die Spezialisten laufen uns weg", klagt Dantsho Kirashki, Direktor der Omega-Klinik. "Ganze medizinische Fachabteilungen fehlen hier in Vidin. Wer einen Facharzt braucht, der muss 60 oder 100 Kilometer ins nächste oder übernächste Krankenhaus fahren. Bevor meine Kollegen ihre Koffer packten, hatten wir 300 Ärzte in Vidin, heute sind es nur noch 120."

Der Staat kann die Mediziner nicht halten

In Sofia trifft der Reporter Rumyana Todorova. Sie hat es eilig, ist nur kurz zu Besuch in Bulgarien, will Freunden und Familie Hallo sagen. Die junge Frau muss dann wieder zurück nach Bayern, Tote obduzieren. Seit fünf Jahren lebt Rumyana Todorova in Deutschland. Sie ist eine der knapp 2000 bulgarischen Ärzte, die in Deutschland arbeiten. Warum?

"Wir Ärzte bekommen in Bulgarien nicht genug Anerkennung", meint die junge Frau. "Ich habe mich gefragt, ob ich wirklich mit dieser gesellschaftlichen Herablassung leben will. Um Arzt zu werden, muss man schuften, sich anstrengen. Dafür braucht es Liebe zum Beruf und Motivation. Ich habe Angst, beides zu verlieren, hier in diesem kranken Gesundheitssystem in Bulgarien. Dort bekommt man kein angemessenes Gehalt und es fehlt damit auch an gesellschaftlicher Anerkennung."

Noch gibt es Hoffnung für Bulgariens Gesundheitswesen. Beweis: das gut ausgestattete Universitätskrankenhaus in Sofia.

Velina Gergeltcheva leitet die Neurologie. Ihr Rezept für Bulgarien: höhere Gehälter, moderne Medizintechnik und Karrierechancen für Nachwuchsärzte. Die Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger verteidigt sie.

"Ich bin der Auffassung, dass Jungärzte die Wahl haben sollten. In der Spezialisierungsphase ist es gut, wenn man Wissen und Erfahrung auch im Ausland sammelt, warum nicht? Ich selber habe zwei Jahre in Deutschland gearbeitet, in München, bevor ich wieder nach Bulgarien zurückgekommen bin."

Im vergangenen Herbst demonstrierten in Bulgarien Pfleger und Ärzte, auch Alexander Farfarov. Zentrale Forderung: 460 Euro monatlicher Mindestlohn für Krankenschwestern, 600 Euro für Ärzte. Die Regierung versprach, 100 Millionen Euro in das marode Gesundheitssystem zu stecken und schrittweise die Gehälter anzuheben. Der 25-jährige Nachwuchs-Nervenarzt Farfarov will in Bulgarien bleiben. Aber er will auch das ganze System ändern: Die Einführung privater Krankenversicherungen könnte helfen, glaubt er. Die staatlichen Gesundheitsausgaben von etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes hält er im Vergleich zu anderen EU-Staaten für zu gering:

"Das größte Problem des bulgarischen Gesundheitssystems ist die Abwanderung der medizinischen Fachkräfte mit dem Ergebnis, dass insbesondere die ländlichen Gebiete völlig unterversorgt sind. Die Provinz muss attraktiver werden für junge Menschen, sodass sie sich dort ein Leben aufbauen. Es geht nicht nur um das Gesundheitswesen, sondern auch um das gesamte soziale Umfeld."

Der Ärztenotstand im europäischen Kontext

Ärzte, die in der Notfallversorgung arbeiten, erhielten 2019 durchschnittlich etwa 900 bulgarische Lewa monatlich. Ab diesem Jahr 2020 erhalten sie etwa 1200 bis 1300 Lewa netto. Auch einige andere Berufsgruppen im Bildungssektor, im Gesundheitswesen und im öffentlichen Sektor erhielten deutliche Gehaltserhöhungen, um öffentliche Proteste und Spannungen zu beruhigen. Die Zahlen im größeren Zusammenhang: Das mittlere Gehalt in der Hauptstadt Sofia beträgt etwa 1300 Lewa netto pro Monat, während auf nationaler bulgarischer Ebene das mittlere Gehalt etwa 930 Lewa netto pro Monat beträgt.

Im Dezember 2019 beschloss die bulgarische Regierung die Einkommensentwicklung von Krankenschwestern und -pflegern an die der Ärzte zu koppeln. Wenn Ärzten im öffentlichen Sektor ein bestimmter Prozentsatz Gehaltserhöhung gewährt wird, bekommen auch Krankenschwestern und -pfleger mehr.

Laut einem Bericht der Europäischen Kommission gibt Bulgarien die Hälfte des europäischen Durchschnitts für die Gesundheitsversorgung aus.

Nach Gewerkschaftsangaben haben in den vergangenen zehn Jahren etwa 30.000 Krankenschwestern Bulgarien verlassen: In Westeuropa können sie bis zu zehnmal so viel verdienen wie zu Hause.

Mit Stand 2018 verringert sich Bulgariens Gesamtbevölkerung weiter auf rund 7 Millionen Einwohner. Damit hat das Land innerhalb von 30 Jahren rund zwanzig Prozent seiner Einwohnerzahl eingebüßt. Und die demografische Krise hält an: Laut der aktuellen EUROPOP-Bevölkerungsprognose wird sich Bulgariens Gesamtbevölkerung bis 2050 um weitere 20 Prozent verringern. Aktuell gibt es kaum Gründe, die die Prognose verändern könnten: Die Fertilitätsrate von Bulgarien liegt unter dem bereits niedrigen EU-Durchschnitt. Die gesellschaftliche Altersstruktur in Bulgarien ist ungünstig, da der Rentensockel schneller als der Jugendsockel wächst. Und auch der Migrationssaldo von Bulgarien ist seit Jahren negativ.

Die Ausbildung von Ärzten ist teuer. Während "Zielländer" - meist in Westeuropa - beim "Import" von qualifiziertem Personal aus Osteuropa Einsparungen erzielen können, kumulieren "Entsendeländer" - wie Bulgarien - hohe Verluste.

Schätzungsweise 700.000 Bulgaren haben sich in einem anderen EU-Land niedergelassen. Mit ähnlichen Problemen haben unter anderem Rumänien, Kroatien, Griechenland und Ungarn zu kämpfen.

Die Perspektive der "importierenden" Länder: Noch schlimmer ist die Situation, wenn man das gesamte Gesundheitspersonal einschließlich der Krankenschwestern und Sanitäter betrachtet: Heute fehlen in deutschen Kliniken beispielsweise 80.000 Krankenschwestern. Bis 2025 benötigt Deutschland rund 200.000 Krankenschwestern und -pfleger mehr, um mit der Alterung der Bevölkerung Schritt zu halten.

Die Weltgesundheitsorganisation hat einen Verhaltenskodex veröffentlicht, der reiche Länder auffordert, keine Ärzte mehr aus medizinisch unterversorgten Billiglohnländern abzuwerben. Hört sich vernünftig an. Doch niemand hält sich daran. Auch in Westeuropa nicht.

Journalist • Hans von der Brelie

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