Unsichtbare Arbeiter: unterbezahlt, ausgebeutet und gefährdet auf Europas Bauernhöfen
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Unsichtbare Arbeiter: unterbezahlt, ausgebeutet und gefährdet auf Europas Bauernhöfen

Von Anelise BorgesNatalie Huet, Sabine Sans
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Euronews beleuchtet die harte Realität, der einige Saisonarbeiter in ganz Europa ausgesetzt sind.

Die Europäische Kommission hat am 16. Juli Leitlinien vorgelegt, um den Schutz von Saisonarbeitskräften in der EU vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie zu gewährleisten. Nationalen Behörden, Arbeitsaufsichtsbehörden und Sozialpartnern werden Orientierungshilfen geboten, um die Rechte, die Gesundheit und die Sicherheit von Saisonarbeitskräften zu gewährleisten und sicherzustellen, dass Saisonarbeitskräften ihre Rechte bekannt sind.

Die Leitlinien decken eine Reihe von Aspekten ab, darunter: das Recht von Saisonarbeitskräften, in einem EU-Mitgliedstaat zu arbeiten, unabhängig davon, ob sie EU-Bürger sind oder aus Ländern außerhalb der EU kommen, angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen, einschließlich physischer Distanzierung und angemessener Hygienemaßnahmen, klare Unterrichtung der Arbeitskräfte über ihre Rechte, Schwarzarbeit sowie Aspekte der Sozialversicherung.

Sie schuften stundenlang unter sengender Sonne oder bei strömendem Regen, um das Obst und Gemüse anzubauen und zu ernten, das für uns so selbstverständlich ist.

Als die Coronavirus-Pandemie über Europa hinwegfegte, wurden die Saisonarbeiter, denen wir die Lebensmittel auf dem Teller zu verdanken haben, plötzlich sichtbar, ja sogar als "unverzichtbare Arbeitskräfte" gefeiert. Doch ihre Arbeitsrechte und Lebensbedingungen wurden jahrzehntelang ignoriert.

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union - der größte Subventionspool der Welt - zielt auf die Unterstützung von Landwirten ab und pumpt jedes Jahr fast 60 Milliarden Euro in diesen Sektor. Die Arbeitsbedingungen der in diesen Betrieben Beschäftigten werden jedoch in der Subventionsregelung nicht einmal erwähnt.

"Im Moment haben wir diese verrückte Situation, dass wir tatsächlich einen besseren Schutz für Tiere haben als für einige dieser Arbeiter auf unseren Höfen", sagte der deutsche Grünen-Europa-Abgeordnete Daniel Freund.

In einer gemeinsamen Recherche zusammen mit Lighthouse Reports, Spiegel und Mediapart befragte Euronews Dutzende Erntehelfer auf dem ganzen Kontinent. Sie beklagten sich über unbezahlte Arbeitsstunden, das Arbeiten unter enormem Druck, mit sehr wenig Wasser oder Schutz - einige werden ohnmächtig und erbrechen sich vor Erschöpfung. Sie zeigten uns katastrophale Wohnverhältnisse und sprachen von Fällen verbalen, körperlichen und sogar sexuellen Missbrauchs.

Spanien: Baracken und Strafen

Spanien ist Europas führender Produzent von Obst und Gemüse. In der südlichen Provinz Huelva sind Erdbeeren als "rotes Gold" bekannt, ein saftiges Geschäft mit einem jährlichen Umsatz von rund 500 Millionen Euro.

Doch die Branche verbirgt eine hässliche Seite. Viele Landarbeiter in der Region sind Migranten ohne Papiere, die in "Chabolas" leben - Hütten, die aus ausrangierten Holzpaletten, Sperrholz und Plastikresten von Gewächshäusern bestehen. Die Arbeiter haben keinen Zugang zu Elektrizität, sanitären Einrichtungen oder sauberem Wasser.

"Ein so entwickeltes Land wie Spanien, ein europäisches Land. Ich verstehe nicht, wie man so eine Situation zulassen kann", sagt Seydou Diop, der früher Erdbeeren pflückte und in einer dieser Barackensiedlungen lebte. Heute leitet er ein Arbeiterkollektiv, das Migranten ohne Papiere unterstützt. Laut seiner Aussage machen sie einen Großteil der Landarbeiter in der Region aus.

Anelise Borges / Euronews
Eine "Chabola" (Hütte) in einer Elends-Siedlung von Obstpflückern in der Nähe von Lepe, Provinz Huelva, Spanien.Anelise Borges / Euronews
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Eine "Chabola" (Hütte) in einer Elends-Siedlung von Obstpflückern in der Nähe von Palos de la Frontera, Provinz Huelva, Spanien.Anelise Borges / Euronews

Euronews und seine Partner befragten über 20 derzeitige und ehemalige Obstpflücker in Huelva. Viele sagten, sie hätten während der COVID-19-Pandemie keine Masken oder Handschuhe erhalten. Alle beklagten sich über unbezahlte Arbeitsstunden, zermürbende Arbeitsbedingungen und enormen Druck, große Mengen Obst zu sammeln.

José Antonio Brazo, ein Gewerkschaftsvertreter in Huelva (vom Sindicato Andaluz de trabajadores), sagte, diejenigen, die nicht produktiv genug seien, würden bestraft: "Das ist mittelalterlich. Wenn man nicht die geforderte Menge sammelt, gibt es Strafen von einem, zwei oder drei Tagen, an denen man nicht arbeiten darf - ohne Bezahlung. An diesen Tagen bringt man also kein Geld nach Hause."

Die meisten der Arbeiter, mit denen wir für diese Reportage sprachen, wollten anonym bleiben, aus Angst vor Repressalien. Mehrere hatten für Bionest gearbeitet, das nach Angaben der spanischen Regierung allein im vergangenen Jahr 4,4 Millionen Euro an Subventionen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU erhalten hat.

Bionest hat auf unsere wiederholten Anfragen um Stellungnahme nicht geantwortet. Auf der Unternehmens-Webseite gibt es eine besondere Botschaft, in der "allen Landarbeitern, Packhausarbeitern, allen an unserer Tätigkeit beteiligten Personen, die in diesen schwierigen Zeiten tagtäglich ihren Arbeitsplatz besetzen", gedankt wird.

Anelise Borges / Euronews
Eine Erdbeerfarm in der Nähe von Lepe, Provinz Huelva, SpanienAnelise Borges / Euronews

Frankreich: "Willkommen in der Hölle"

Als bei weitem größter Ölsaaten- und Getreideproduzent der EU erhält Frankreich mehr Agrarsubventionen als jedes andere Mitgliedsland - nach EU-Angaben über 7 Milliarden Euro pro Jahr.

Juan, ein junger Kolumbianer, kam mit einem Arbeitsferienvisum ins Land. Er hörte von den Larrère-Farmen auf einer Facebook-Seite. Dort wurden Stellen als landwirtschaftlicher Saisonarbeiter im Südwesten Frankreichs angeboten. Aber er wurde für diesen Job nicht von Larrère eingestellt, sondern von einem Subunternehmer, der Larrère und anderen landwirtschaftlichen Betrieben in der Region regelmäßig Saisonarbeitskräfte zur Verfügung stellt.

Juan flog Ende Mai mit Konsular-Unterstützung nach Kolumbien zurück, nachdem sich sein zweimonatiger Einsatz als Landarbeiter in Frankreich im Lockdown als bittere Enttäuschung erwiesen hatte. Angefangen bei der Unterkunft: ein Gästehaus, in dem mehr als 40 Saisonarbeiter untergebracht waren.

"Willkommen in der Hölle hieß es zur Begrüßung. Und ich dachte, das sei ein Witz. Aber als sie die Tür öffneten und ich das Haus sah - es war eine Katastrophe", erzählt Juan, der darum bat, dass wir seinen vollständigen Namen nicht veröffentlichen, in einem Telefoninterview.

Euronews und seine Partner erhielten Kopien der Baupläne des Hauses, das der Familie Larrère gehört, sowie die Protokolle der Mieter und die von ihnen bezahlte Miete - etwa 200 Euro im Monat, die direkt von ihrer Gehaltsabrechnung abgezogen wurden. Ende Juni zeigten die Bewohner unseren Reportern ihre Unterkunft.

Bis zu fünf Erwachsene waren in einem Schlafzimmer zusammengepfercht. Andere schliefen in Etagenbetten, was einen Verstoß gegen die französischen Gesetze über die Unterbringung von Saisonarbeitern darstellt. Es wurden keine Bettlaken oder Kissen zur Verfügung gestellt. In den Toiletten gab es kein Toilettenpapier.

Aurelien Coulet / Euronews
Eine andere Unterkunft, in dem einige Saisonarbeitskräfte in Saugnacq-et-Muret, Südwestfrankreich, wohnen.Aurelien Coulet / Euronews
Saisonarbeiter in einem Karottenfeld in Larrère bei Liposthey, Südwestfrankreich

Die Larrère-Betriebe sind mit einem Jahresumsatz von rund 50 Millionen Euro wichtige Erzeuger von Bio-Möhren in Frankreich. Nach Regierungsangaben erhalten sie jedes Jahr mehr als 300.000 Euro an europäischen GAP-Subventionen.

Die euronews-Reporterin sprach mit mehr als einem Dutzend Personen, die in diesen Betrieben arbeiten. Sie beschrieben lange Arbeitstage, unbezahlte Überstunden und überhöhte Wohnkosten.

Der Geschäftsführer des Familienunternehmens, Patrick Larrère, schickte uns als Antwort auf unsere Recherche eine ausführliche Stellungnahme per E-Mail. Drin heißt es, dass das Unternehmen seit unserem Besuch eine interne Umfrage durchgeführt und einige Mängel in seiner Organisation eingeräumt habe, dass aber die meisten der Befragten planten, in Zukunft wieder auf den Larrère-Höfen zu arbeiten.

Larrère fügte hinzu, dass der Betrieb einen Ethikkodex zur Verbesserung des Managements und der Arbeitsbedingungen ausarbeiten werde. Er versprach, Bettwäsche zur Verfügung zu stellen, und forderte die lokalen und nationalen Behörden auf, bei der Unterbringung ihrer Arbeiter während der Tourismus-Sommersaison zu helfen.

"Unverzichtbare Arbeiter"

Am 19. Juni erkannte das Europäische Parlament die Probleme an, mit denen Saison- und Wanderarbeitnehmer konfrontiert sind. Man verabschiedete eine Resolution, in der dringende Maßnahmen zum Schutz ihrer Gesundheit und Sicherheit gefordert wurden. Außerdem stellte man fest, dass die Pandemie "das Sozialdumping und die bestehende Unsicherheit" für viele von ihnen "aufgedeckt und verschärft" habe.

Die Resolution drängte die Mitgliedsstaaten auch dazu, die Arbeitsaufsicht zu verstärken und qualitativ hochwertige Wohnungen zu gewährleisten, deren Bezahlung von den Arbeiterlöhnen entkoppelt sind.

Die Europäische Kommission arbeitet derzeit an Richtlinien für die Mitgliedstaaten, um die Gesundheit und die sozialen Rechte von Saisonarbeitern besser zu schützen.

"Man kann kein Geschäftsmodell haben, das auf irgendeiner Form der Ausbeutung von ausländischen Arbeitnehmern basiert", sagt Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, gegenüber Euronews.

"Diese Arbeiter sind lebenswichtige Arbeitskräfte, denn in dieser Krise hätten wir ohne sie eine Lebensmittelkrise erlebt."

"Unsichtbare Arbeiter" ist eine monatelange gemeinsame investigative Recherche unter der Leitung von Lighthouse Reports mit Der Spiegel, Mediapart, Euronews, dem Guardian, Follow the Money und dem Investigative Reporting Project Italy.

Journalist • Anelise Borges

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