100 Tage seit den Wahlen in Belarus: Lukaschenko ist immer noch an der Macht

Demonstration in Minsk, Belarus
Demonstration in Minsk, Belarus Copyright Dmitri Lovetsky/AP
Von Orlando Crowcroft
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Die Protestbewegung, die sich nach der Wahl in Belarus formierte, lässt sich nicht einschüchtern, trotz eines zunehmend gewaltsamen Vorgehens der Polizei. Ist das Land in einer Sackgasse?

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Es ist 100 Tage her, dass Alexander Lukaschenko bei der wahrscheinlich manipulierten Wahl mit 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Die Protestbewegung, die sich nach der Wahl formierte, lässt sich nicht einschüchtern, trotz eines zunehmend gewaltsamen Vorgehens der Polizei.

Mehr als drei Monate seit der Wahl vom 9. August und die Situation ist festgefahren. Lukaschenko, der Unterstützung aus Moskau erhält, regiert weiter. Seine wichtigsten politischen Gegner bleiben im Exil oder sitzen im Gefängnis. Auf den Straßen geht die hemmungslose Gewalt gegen Demonstranten weiter.

Am 12. November starb der 31-jährige Raman Bandarenka, nachdem er von der Polizei verprügelt worden war. Die Europäischen Union kritisierte das Land scharf. Sie forderte ein Ende der Niederschlagung der Proteste und zusätzliche Sanktionen gegen Lukaschenko, seine Familie und sein Umfeld.

Lukaschenko erwähnte Bandarenkas Tod in einem Interview mit den staatlichen Medien am 13. November nicht. Dort argumentierte er, dass die Unruhen in den Straßen von Minsk und anderen Städten unzulässig gewesen seien - er verglich sie mit anderen vom Westen unterstützten sogenannten Farbrevolutionen im post-sowjetischen Europa.

"Wir bewerten die Ereignisse nach den Wahlen eindeutig als einen Versuch eines verfassungswidrigen Staatsstreichs", erklärte Lukaschenko.

Trotz der Gewalt - 17.000 wurden seit Beginn der Protestbewegung festgenommen und geprügelt - gehen die Proteste in Minsk und anderen Städten weiter.

"Es sollte verstanden werden, dass die belarussischen Proteste in erster Linie 'gegen' und nicht 'für' etwas sind. Sie sind gegen Lukaschenko und für jeden anderen. Das ist die Meinung der meisten Belarussen", sagt Ales Kirkievicz, Journalist, Schriftsteller, und Mitglied des Rates der Belarussischen Volksfront, gegenüber Euronews.

Darin liegt vielleicht das Problem. In den letzten 26 Jahren hat Lukaschenko sowohl seine Gegner als auch seine potenziellen Nachfolger aus dem Weg geschafft und um sich herum ein Führungsvakuum kreiert, das jeden politischen Rivalen außerhalb seiner eigenen Familie ausschließt. Inzwischen ist das Parlament von Belarus weitgehend vergeblich. Nur wenige Persönlichkeiten könnten Lukaschenko als Präsident ersetzen.

Nicht leicht zu ersetzen: Alexander Lukaschenko

"Tatsache ist, dass es derzeit auf der belarussischen politischen Szene praktisch niemanden gibt, weder in Lukaschenkos näherem Umfeld noch in der Opposition, der als möglicher Nachfolger in Frage käme. Aus dieser Perspektive scheinen die Anhänger der Proteste kein echtes politisches Gewicht zu besitzen und werden höchstwahrscheinlich nur eine vorübergehende Rolle spielen", sagte Rumen Dobrinsky vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsstudien.

Da ist natürlich Swetlana Tichanowskaja, die bei der Wahl am 9. August an zweiter Stelle stand. Die Opposition behauptet allerdings, dass sie besser als abgeschnitten habe als das offizielle Wahlergebnis behauptet. Tichanowskaja hält sich derzeit im Exil auf. Viele Menschen außerhalb von Belarus sehen deshalb ihr die rechtmäßige Nachfolgerin Lukaschenkos. Dennoch: über ihre politischen Ziele nach Neuwahlen ist kaum etwas bekannt.

"Die Menschen wissen immer noch nicht, was ihr Programm konkret bietet, wie es in Belarus aussehen würde, wenn sie Präsidentin wird", erklärt Kirkievicz.

Sie selbst erklärte einmal, dass nur einen Machtwechsel verwalten würde, nicht aber selbst für das Präsidentenamt kandidieren wolle.

Dann wäre da noch Wiktar Babaryka, ein Bankier, der zunächst daran gehindert wurde, sich bei der Wahl registrieren zu lassen und dann ins Gefängnis gesteckt wurde, wo er nach wie vor sitzt. "Er ist eine starke Führungspersönlichkeit, ein guter Manager mit diplomatischem Geschick. Es ist nicht bekannt, wie sehr er sich während seiner Zeit im Gefängnis verändert hat, aber wenn seine politischen Ambitionen bestehen bleiben, hat er meiner Meinung nach eine ernsthafte Chance", schätzt Kirkievicz.

Aber ebenso wie die unterschiedlichen Persönlichkeiten ist sich auch die Opposition uneinig. Auf der Straße gibt es diejenigen, die Lukaschenko loswerden wollen, aber nicht wissen, wer ihn ersetzen soll. Da ist Babaryka, der im Gefängnis sitzt. Es gibt den Koordinierungsrat unter Führung von Tichanowskaja, die sich im Exil befindet und wenig Einfluss auf die Situation vor Ort haben kann.

Opposition will die Taktik ändern

"Deshalb sprechen viele Menschen, darunter auch Tichanowskaja, davon, die Taktik zu ändern. Wie das geschehen soll, ist noch nicht entschieden. Deshalb ist die Situation nach wie vor festgefahren: Die Behörden sind nicht bereit für einen Dialog mit der Opposition.  Die Opposition kann nichts anderes anbieten als Massenkundgebungen auf der Straße. Bis jetzt ist es eine Sackgasse", so Kirkievicz.

Außerhalb von Belarus nimmt der Druck auf Lukaschenko zu. Die EU verhängte nach den Wahlen Sanktionen gegen Dutzende von Beamten, und am 13. November drohte Peter Stano, der außen- und sicherheitspolitische Sprecher der EU, mit weiteren Maßnahmen. 

Unterdessen schlug die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, vor, dass die EU den demokratischen Wechsel in Belarus mit wirtschaftlichen Mitteln belohnen könnte.

"Der wirtschaftliche Einfluss Europas ist immens", sagte von der Leyen. Es liegt an uns, unsere wirtschaftliche Schlagkraft strategischer zu nutzen. Es liegt an uns, unsere Positionen klar zu vertreten und sie mit stärkeren Aktionen durchzusetzen", sagte sie.

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Das Problem der staatlichen Industrie

Es ist kein Zufall, dass von der Leyen die Wirtschaft erwähnt, denn die wirtschaftlichen Aussichten von Belarus sind düster. Russland hat begonnen, die Energiesubventionen abzubauen, die Inflation schnellt in die Höhe, und der belarussischen Regierung geht das Geld aus. Experten gehen davon aus, dass das Land in den nächsten 12 Monaten 3,3 Milliarden US-Dollar - etwa 7 Prozent des gesamten BIP des Landes - aufnehmen muss, um die Auslandsschulden zu begleichen.

Am teuersten sind die erheblichen staatseigenen Betriebe, die Tausende von Belarussen beschäftigen und nur dank riesiger staatlicher Subventionen überlebt haben. Lukaschenko schafft es nicht, diese ineffizienten staatlichen Giganten zu privatisieren. Denn das würde zwangsläufig zu Massenarbeitslosigkeit führen - und das dürfte der Oppositionsbewegung in die Hände spielen.

Rumen Dobrinsky argumentiert, dass diese festen Arbeitsplätze Teil des "Gesellschaftsvertrags" zwischen Lukaschenko und den Weißrussen sind, der seit 1994 dafür sorgt, dass er den Menschen des Landes Stabilität und Beschäftigung bietet, als Gegenleistung für den Mangel an politischer Freiheit und einer faktisch autokratischen Herrschaft. Dieser Vertrag ist nun jedoch praktisch gescheitert.

"Praktisch gesehen ist dieses System schon im Jahr 2020 zusammengebrochen, und wir sehen jetzt dessen Trümmer in den Straßen von Minsk", sagte Dobrinsky. Aus seiner Sicht hat der Zerfall schon früher begonnen, als sich Lukaschenko von den belarussischen Bürgern entfernte.

Dann kam die Corona-Pandemie, und Lukaschenko weigerte sich, das Land gegen den Rat seiner Beamten in den Lockdown zu schicken. Und der Versuch, die Wahlergebnisse zu manipulieren. Das sei  "der Funke [gewesen], der die öffentliche Empörung entzündete", so Dobrinsky.

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Hier kommt Wladimir Putin ins Spiel, der nicht vergessen hat, dass Belarus vor fast 30 Jahren den Vertrag über die Gründung Russisch-Weißrussische Union unterzeichnet hat und seitdem Lukaschenko bedrängt, das Land davon abzuhalten, es zu seinem größeren Nachbarn zu machen. Tatsächlich wurden die enormen Subventionen Russlands an Belarus eingestellt, damit Moskau Druck auf Minsk ausüben konnte.

Eliza Kania, Politikwissenschaftlerin an der Brunel-Universität London, erklärte, angesichts der totalen finanziellen Abhängigkeit Lukaschenkos von Russland sei es nur die Unterstützung Moskaus, die ihn an der Macht halte.

"Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lukaschenko ohne die Unterstützung Moskaus nicht in der Lage sein wird, seine Macht zu behalten", sagte sie. "Intern zählt er auf seine härteste politische Basis und versucht, sie zu radikalisieren, um Proteste zu unterdrücken und die Öffentlichkeit zu terrorisieren."

Putin hat wiederholt davor gewarnt, dass Russland einschreiten würde, sollten europäische Mächte versuchen, einen Regimewechsel in Belarus herbeizuführen. Es warnte davor, dass "extremistische Elemente" im Land "Banditentum" betreiben und dass Russland - bei Bedarf-Strafverfolgungsbehörden einsetzen könnte.

Welche Hoffnung besteht für die Opposition?

"Lukaschenko hat weder eine soziale Legitimität noch das Vertrauen des belarussischen Volkes", meint Kania. "Die Proteste selbst werden an dieser Situation langfristig nichts ändern, daher stellt sich die Frage, wie die politische Taktik verbessert werden kann, um einen Raum für Verhandlungen zu schaffen, der über Straßenproteste hinausgeht."

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Möglicherweise gibt es Risse in Lukaschenkos russischer Rüstung. Sergej Lawrow, der russische Außenminister, schlug kürzlich vor, dass Belarus eine "Verfassungsreform" durchführen solle. Zudem besteht noch immer die Möglichkeit, dass Lukaschenko so schädlich wird, dass sogar Moskau ihn fallenlassen wird. Aber das Problem bleibt: Wer kann ihn ersetzen?

"In der Praxis ist das einzige Zugeständnis, von dem Lukaschenko spricht, die Verfassungsreform. In welcher Form und wie sie aussehen wird, weiß niemand. Aber Lukaschenko wird die Macht nicht aufgeben und weggehen, weglaufen oder kapitulieren", sagte Kirkievicz.

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