Istanbul-Konvention: Polen will auch aus Vertrag gegen häusliche Gewalt an Frauen austreten

Demonstrantinnen bei einer Kundgebung gegen die Pläne der polnischen Regierung, aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung häuslicher Gewalt auszutreten, in Wars
Demonstrantinnen bei einer Kundgebung gegen die Pläne der polnischen Regierung, aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung häuslicher Gewalt auszutreten, in Wars Copyright AP Photo
Von Sandrine Amiel
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Menschenrechtsgruppen haben Alarm geschlagen, nachdem das polnische Parlament einen weiteren Schritt gegangen ist, um aus der Istanbul-Konvention auszutreten.

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Menschenrechtsgruppen haben Alarm geschlagen, nachdem das polnische Parlament einen weiteren Schritt gegangen ist, um aus der Istanbul-Konvention auszutreten.

Der Vertrag aus dem Jahr 2011, der von 45 Ländern und der Europäischen Union unterzeichnet wurde, verlangt von den Regierungen die Verabschiedung von Gesetzen zur Strafverfolgung von häuslicher Gewalt und anderen Formen des Missbrauchs gegen Frauen.

Das polnische Parlament hat am Dienstag dafür gestimmt, einen Gesetzentwurf mit dem Titel "Ja zur Familie, Nein zum Geschlecht" zur Prüfung an die Parlamentsausschüsse zu schicken. Der Text fordert das osteuropäische Land auf, aus der Istanbul-Konvention auszutreten.

Erst Anfang des Monats hatte sich die Türkei aus dem Vertrag zurückgezogen - ein Schritt, der international verurteilt wurde und landesweite Proteste auslöste.

Die rechtsnationale polnische Regierung hatte im vergangenen Sommer angekündigt, aus dem Vertrag austreten zu wollen und argumentiert, dass er die Religion nicht respektiere und kontroverse Ideologien über die Geschlechter fördere.

"Das Parlament kann und sollte den gefährlichen Gesetzesentwurf nach wie vor ablehnen und sicherstellen, dass Mädchen und Frauen vor Gewalt geschützt werden", erklärt Hillary Margolis, eine Frauenrechtsforscherin bei Human Rights Watch.

Irene Donadio, Vorsitzende für Strategy and Partnership bei International Planned Parenthood Federation-European Network (IPPF-EN), sagte gegenüber Euronews, dass der Schritt sei "sehr beunruhigend" sei.

"Wir sind sehr, sehr besorgt über die Entwicklungen in Polen. Wir denken, dass es eine ernsthafte Bedrohung ist, dass der Schutz vor häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen abgebaut werden soll", so Donadio.

"Wir beobachten auch mit Sorge den Versuch, die Istanbul-Konvention durch eine andere Konvention über Familienrechte zu ersetzen."

Laut Regierungsdokumenten, die dem Balkan Investigative Reporting Network (BIRN) vorliegen, werden die Behörden versuchen, die Konvention durch einen neuen Vertrag zu ersetzen, der gleichgeschlechtliche Ehen und Abtreibungen verbieten würde.

"Alles in allem kann ich nur sagen, dass wir über die jüngsten Schritte des polnischen Parlaments empört sind und um das Schicksal der Frauen in Polen fürchten", sagte Donadio.

Euronews hat das polnische Justizministerium, das Außenministerium und das polnische Parlament um einen Kommentar gebeten, aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch keine Antwort erhalten.

Immer mehr Todesdrohungen

Die Abstimmung im Parlament kommt zu einem Zeitpunkt, an dem IPPF-EN, Human Rights Watch und CIVICUS einen Bericht veröffentlichen, der vor immer mehr Todesdrohungen gegen Frauenrechtsverteidiger:innen in Polen warnt.

"Bomben- und Todesdrohungen, die auf mindestens sieben Gruppen in Polen abzielen, weil sie sich für Frauenrechte und das Recht auf Abtreibung einsetzen, sind beunruhigende Hinweise auf die eskalierenden Risiken für Frauenrechtsverteidiger:innen", heißt es in einer Erklärung der Organisationen.

"Die Polizei sollte die Gewaltandrohungen gegen Frauenrechtler und andere Menschenrechtsverteidiger gründlich untersuchen und die Verantwortlichen bestrafen", so die Organisationen weiter.

Die Aktivistinnen berichten, dass die polnischen Behörden nicht nur versäumen, den Drohungen systematisch nachzugehen, sondern auch zu ihrem Gefühl der Unsicherheit beitragen, indem sie ihre Arbeit diskreditieren.

"Anstatt die Wut gegen diejenigen zu schüren, die versuchen, grundlegende Rechte aufrechtzuerhalten, sollten sich polnische Beamte darauf konzentrieren, um Frauen und Frauenrechte zu schützen", sagte Aarti Narsee, Civic-Space-Forscher bei CIVICUS.

"Mehrere Frauenrechtsverteidigerinnen wurden inhaftiert oder sehen sich politisch motivierten Strafanzeigen gegenüber", unter anderem wegen der Verursachung einer "epidemiologischen Bedrohung" bei Protesten, die während der Pandemie stattfanden.

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Die Proteste brachen im Oktober letzten Jahres aus, als das Verfassungsgericht entschied, Abtreibungen im Falle fötaler Defekte zu verbieten.

Sie wurden zur größten Massenbewegung gegen die Regierung in Polen seit dem Fall des Kommunismus vor drei Jahrzehnten. Die Entscheidung über das Abtreibungsverbot trat Ende Januar in Kraft.

'EU muss reagieren'

"Es wird einen dramatischen Präzedenzfall in der Europäischen Union schaffen, wenn wir zusehen und nichts tun", sagte Donadio gegenüber Euronews.

"Die EU muss den Beitritt zur Istanbul-Konvention vorantreiben und Frauen auf eine Art und Weise schützen, die EU-weit rechtsverbindlich ist", twitterte der Europaabgeordnete Guy Verhofstadt nach der Abstimmung im polnischen Parlament.

Die Spannungen zwischen Warschau und Brüssel sind in den letzten Jahren wegen Maßnahmen eskaliert, die als Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz, der Medienfreiheit und der Rechte von LGBTQ-Personen angesehen werden.

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Am Mittwoch kündigte die Europäische Kommission an, dass sie Polen an das oberste Gericht der EU verweisen werde, weil sie seit langem Bedenken hinsichtlich der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Richter des Obersten Gerichtshofs des Landes hat.

Die EU-Kommission erklärte, dass sie den Europäischen Gerichtshof bitten werde, bis zu einem endgültigen Urteil in dem Fall einstweilige Maßnahmen anzuordnen, um die Verschlimmerung eines "ernsten und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die richterliche Unabhängigkeit und die EU-Rechtsordnung zu verhindern".

Die EU hat Ende letzten Jahres auch einen neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus verabschiedet, der die Einhaltung der demokratischen Grundwerte der EU mit EU-Finanzierungen verknüpft.

Aber für Donadio sollte die EU sogar noch weiter gehen und in Erwägung ziehen, Artikel 7 gegen Polen anzuwenden - wegen seines Versagens, die Rechte von Frauen zu wahren.

Artikel 7 ist ein Verfahren, um bestimmte Rechte eines EU-Mitgliedsstaates auszusetzen, wenn "ein klares Risiko" besteht, dass die Grundwerte der EU verletzt werden.

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