State of the Union: Warum die EU und die Türkei einander brauchen

State of the Union: Warum die EU und die Türkei einander brauchen
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Von Stefan Grobe
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In dieser Ausgabe unseres Wochenend-Magazins: Europas Impfkampagnen und die Crux mit AstraZeneca; Sofagate und die europäisch-türkischen Beziehungen; Kampf dem Frost in Frankreich

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In den USA gehen die Impfungen so gut voran, dass Präsident Joe Biden sein Ziel auf 200 Millionen Impfungen in seinen ersten 100 Tagen im Amt verdoppelt hat.

In Europa sind wir von solchen Verhältnissen weit entfernt. Selbst unter den beiden prioritär behandelten Gruppen, den über 80jährigen und Kranken- und Pflegepersonal, wurden weniger Menschen geimpft als geplant.

Der Grund ist eine Mischung aus geringeren Lieferungen und ineffektiven Impfkampagnen. Vor allem die anhaltenden Probleme mit dem AstraZeneca-Impfstoff haben die Dinge verzögert.

Laut der Europäischen Arzneimittel-Agentur gibt es eine Verbindung zwischen seltenen Blutgerinnseln im Hirn und dem AstraZeneca-Präparat. Dennoch verteidigt die Agentur die Genehmigung.

In dieser Woche war Europas Diplomatie vollauf mit einem Nebeneffekt der besonderen Art beschäftigt - oder sollte man lieber sagen: Überraschungseffekt?

Denn diesen muss Ursula von der Leyen gefühlt haben, als ihr klar wurde, im türkischen Präsidentenpalast keinen Stuhl zu bekommen - nur einen distanzierten Platz auf einem Sofa. So geschehen während eines Besuch der EU-Kommissionspräsidentin und des EU-Ratspräsidenten in Ankara.

Eine peinliche Sitzordnung der türkischen Gastgeber. Von der Leyen fand das gar nicht komisch.

"Die Präsidentin erwartet, dass die von ihr vertretene Institution mit dem angemessenen Protokoll behandelt wird. Sie hat deshalb ihre Mitarbeiter gebeten, sicherzustellen, dass sich so etwas nicht wieder ereignet", erklärte Kommissionssprecher Eric Mamer am Tag danach in Brüssel.

Was schnell als #Sofagate bekannt wurde, lenkte von Erdogans autoritärem Gehabe und den Gesprächen zwischen Brüssel und Ankara ab.

Von der Leyen und Michel waren in die Türkei gereist, um die jüngsten Spannungen weiter zu entschärfen. Die EU will mit der Türkei wieder in einen konstruktiven Dialog treten und Erdogan zugleich klarmachen, dass künftige Provokationen seinerseits politisch teuer werden.

Dazu das folgende Interview mit Yunus Ulusoy, Programmleiter beim Zentrum für Türkei-Studien an der Universität Duisburg-Essen.

Euronews: Ich muss Sie natürlich als erstes zu Sofagate befragen. War das eine simple Nachlässigkeit des türkischen Protokolls oder war das Absicht, wie viele hier in Brüssel glauben?

Ulusoy: Ich kann es mir nicht vorstellen, dass die Türkei absichtlich so ein Bild produziert hat. Ihr Interesse derzeit ist, sich näher an die Europäer, an den Westen anzunähern. Unter diesen Umständen kann ich mir so etwas nicht vorstellen. Hinzu kommt, hätte der Präsident, hätte die Türkei ein anderes Image, würde man wahrscheinlich über das Bild auch anders reden. Mit dem Image verbunden entsteht daraus Sofagate.

Euronews: In der Substanz sollten die Gespräche ja einen Neustart bringen, und die EU hatte dazu ja auch Vorschläge gemacht. Aber zugleich wurden auch Bedenken zur Lage der Menschenrechte und der Rechte der Frau in der Türkei geäussert. Wie wird Erdogan darauf reagieren?

Ulusoy: Er wird wahrscheinlich eher vielleicht diplomatisch eine andere Sprache verwenden, als er es früher getan hat, zumal in der Türkei keine Wahlen bevorstehen. Er muss also die Außenpolitik nicht instrumentalisieren, um in der Türkei Stimmen zu generieren. Das hat er früher immer gemacht, da hat er gerne dann vor allem gegen die europäischen Staaten mit Verbalkanonen geschossen, weil er das instrumentalisieren konnte. Im Moment sind die Interessenlagen der Türkei so, dass sie außenpolitisch eher isoliert dasteht. Ein Partner, Russland, ist nicht berechenbar für die Türkei. Allein gegenüber Russland zu stehen, ist für die Türkei viel zu riskant. In den außenpolitischen Konfliktfeldern Syrien, selbst in Libyen, gibt es viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem Westen als mit Russland oder mit China.

Euronews: Die EU will vor allem eine Neufassung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei, Ankara bessere Bedingungen bei der Zollunion. Beide Seiten brauchen also einander. Sehen Sie andere Bereiche, bei denen man sich einen engere Zusammenarbeit vorstellen könnte?

Ulusoy: Beide Seiten sind mit dem Status quo in Syrien nicht sonderlich zufrieden. Sehr viel Gestaltungsmöglichkeiten hat Europa nicht, die Türkei ist aber dort quasi als Player verankert. Also sie brauchen einander. Letztendlich, aus meiner Sicht natürlich, hat die Türkei langfristig viel mehr Interessen mit der Europäischen Union. Umgekehrt ist die Türkei eine starke Flanke für die Europäische Union, sie ist NATO-Mitglied immer noch, eine der größten Armeen, die die NATO unterhält. Da gibt es, glaube ich, für beide Seiten viel mehr zu verlieren.

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