Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?

Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?
Copyright euronews
Von Valérie GauriatSabine Sans
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Gerade hat der "Jahrhundertprozess" gegen die 20 Angeklagten in Paris begonnen. Ein Urteil ist frühestens im Mai 2022 zu erwarten

Hunderte Opfer im Prozess zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015 werden in den kommenden Monaten in Paris aussagen. Ihre Stimmen haben auch dazu beigetragen, die Hilfs- und Entlastungssysteme im Falle von Massenanschlägen zu überarbeiten. Unreported Europe hat hinter die Kulissen geschaut.

130 Menschen starben, 350 wurden verletzt, als Terroristen am 13. November 2015 in Paris angriffen. Knapp sechs Jahre nach den islamistischen Terroranschlägen hat jetzt der "Jahrhundertprozess" begonnen - 20 Angeklagte stehen vor Gericht.

Unter ihnen ist der bereits in Belgien verurteilte Salah Abdeslam, der als einer der Haupttäter gilt. Ein Urteil ist frühestens im Mai 2022 zu erwarten.

Was in der Terrornacht geschah

Drei Gruppen von Terroristen griffen in kurzen zeitlichen Abständen in und um Paris an: erst an einem Fußballstadion in Saint-Denis, dann in einem Pariser Ausgehviertel und schließlich im Konzertsaal Bataclan.

Im Stade de France spielten gerade Frankreich und Deutschland gegeneinander, als die ersten Explosionen zu hören waren. Das Spiel wurde zunächst fortgesetzt, um Panik zu vermeiden. Wären die Selbstmordattentäter früher gekommen oder ins Stadion eingedrungen, hätte es noch deutlich mehr Opfer gegeben.

Mehr als 1.700 Nebenkläger

Für das angekündigte Verfahren "V13" (V steht für Vendredi, Freitag) wurde im Pariser Justizpalast ein neuer Saal mit 550 Sitzplätzen eingezogen. Bildschirme stellen die Übertragung der Verhandlung in alle Bereiche des Saals sicher, während des gesamten Prozesses steht für die Betroffenen eine psychologische Betreuung bereit.

Über fünf Wochen hinweg werden rund 300 Opfer und Angehörige das Erlebte schildern, je eine halbe Stunde wird jedem eingeräumt, 14 solcher Aussagen pro Verhandlungstag sind eingeplant. Erst im Anschluss sind die ersten Befragungen der Angeklagten vorgesehen.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gibt es 1.765 Nebenkläger, beim Prozessauftakt sind alleine zwei Tage dafür reserviert, jeden namentlich aufzurufen. Erst am dritten Tag will das Gericht inhaltlich breiter auf die Vorwürfe eingehen, die sich auf 500 Aktenordner voll Ermittlungsergebnisse stützen. Hunderte Zeugen sind vorgeladen worden, darunter Ermittler aus Frankreich und Belgien.

Im folgenden Tweet der Organisation der Opfer "Life for Paris" heißt es:

Entsetzliche Erinnerung an die Realität der Anschläge vom 13. November 2015 heute bei der Verhandlung.

Der Vorsitzende des Gerichts nannte die Namen und das Alter der 130 Opfer, die an den verschiedenen Orten ermordet wurden.

Allein für das Bataclan sind 5 Minuten und 20 Sekunden vergangen.

Zwölf Angeklagten droht lebenslange Haft

Zwölf der 20 Angeklagten droht lebenslange Haft, gegen sechs wird der Prozess in Abwesenheit geführt.

In welchem Umfang der Prozess zu den Hintergründen und Drahtziehern der Terrornacht neue Erkenntnisse bringen wird, hängt auch davon ab, ob die Angeklagten überhaupt zu einer Aussage bereit sind. Zunächst ist der Prozess bis Mai 2022 terminiert.

Stimmen der Opfer

Die Stimmen der Opfer haben auch dazu beigetragen, die Hilfs- und Entlastungssysteme im Falle von Massenanschlägen zu überarbeiten.

Die 25-jährige Estelle gehörte zu den Opfern des Anschlags auf den Konzertsaal Bataclan.

Ihre Mutter Marie Bolzer ist aus der Bretagne angereist, um dem Prozess beizuwohnen. Sie wird im Oktober aussagen:

"Ich werde an diesem Tag schildern, was am 13. November passiert ist, aber auch danach - , an den Tagen, die folgten, den Monaten, und sogar Jahren. Denn es hat mein Leben verändert, und das vieler anderer Menschen. Und unsere Wunden sind noch nicht verheilt."

Wunden, über die die Mutter bereit ist zu reden. Als Marie Bolzer und ihr Mann am Abend des Anschlags von dem Freund ihrer Tochter über deren Tod informiert wurden, fuhren sie nach Paris.

Opfer der Anschläge hatten mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen

Erst nach mehreren Tagen anstrengender Nachforschungen wurde das Paar schließlich zur Identifizierung der Leiche ihres Kindes in das Pariser Institut für Gerichtsmedizin bestellt.

Erinnerungen, die sich tief eingegraben haben, erzählt die Mutter:

"Die Sekretärin setzte uns ins Büro und ließ uns einige Formulare ausfüllen. Es kamen Fragen wie: 'Haben Sie bereits einen Bestatter ausgesucht? Soll Ihre Tochter begraben oder eingeäschert werden?' Wir waren wie benommen, wir wussten nicht einmal, ob sie da war. Und dann hatten wir fünf Minuten Zeit, unsere Tochter zu sehen, hinter einer Glasscheibe. Danach hörten wir eine Woche lang nichts mehr von ihnen. Dann riefen sie uns an, um den Sarg zu schließen und ihre Leiche zu übernehmen. Wir waren fünf Familien, die alle um 14 Uhr bestellt wurden, alle zur gleichen Zeit. Wir gingen in einen Korridor. Dort gingen fünf Leichensäle ab. Da waren zwischen 100 und 150 Leute, alle zur gleichen Zeit. Einige Leute gingen in die falschen Leichensäle. Es war einfach ein totales Chaos. Die Leute schrien, die Leute weinten in den Gängen, die Leute fielen um. Und als wir den Raum betraten, sagte man uns: 'Sie haben 30 Minuten Zeit'. Das war's, genau 30 Minuten, dann legten sie sie in einen Sarg. Dann wurden alle Särge in einer Reihe auf die Leichenwagen gebracht, und das war's. Das sind Momente, die ich nie vergessen werde."

Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit

Eine Geschichte, die nur ein Beispiel für die vielen Schwierigkeiten ist, mit denen die Opfer der Anschläge von 2015 konfrontiert waren. Angefangen bei Identifizierungsfehlern, die dazu führten, dass einige Familien um Leichen trauerten, die nicht die ihrer Angehörigen waren.

Sechs Jahre später wurden die Hilfs- und Unterstützungsmechanismen für die Opfer von Terroranschlägen neu gestaltet, von der Soforthilfe bis zur Langzeitbetreuung. Das Krankenhaus Pitié-Salpétrière hat Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen.

Mathieu Raux koordinierte die Aufnahme von Dutzenden Verwundeten in der Nacht des 13. November 2015. Schulungen für medizinisches Personal in Kriegsmedizin und Krisenmanagement, neue IT-Systeme oder eine Einheit zur Opfer-Identifizierung sind nur einige der neuen Maßnahmen, mit denen das Krankenhaus seine Vorsorge für mögliche Massenanschläge verstärkt hat.

"Die Lektion, die wir gelernt haben, besteht darin, dass es über die Organisation des Krankenhauses hinaus, die unser Bereich ist, eine bessere Kapazität zur Identifizierung der Opfer und eine bessere Kapazität zu deren Betreuung gibt", erklärt der Leiter der Anästhesie und Intensivmedizin, Krankenhaus Pitié-Salpêtrière. "Nicht so sehr in Bezug auf die medizinische Versorgung, damit haben wir gute Erfahrungen gemacht, sondern eher in Bezug auf die psychologische Betreuung. Wir sind auch besser in der Lage, die Angehörigen der Opfer zu begleiten, entweder im Krankenhaus oder bei den Bemühungen, Betroffene zu finden. Und wir haben auch gelernt, unser Personal besser zu unterstützen. Denn auch sie waren Opfer einer Form von Trauma."

Bessere Unterstützung der Opfer

Unter der Aufsicht des Justizministeriums koordiniert die interministerielle Delegation für die Unterstützung von Opfern die öffentlichen Maßnahmen in diesem Bereich.

Man ist bestrebt, die Unterstützung und die langfristige Begleitung der Opfer und ihrer Familien zu verbessern, insbesondere was die psychologische Betreuung, die Entschädigung und die Rückkehr an den Arbeitsplatz betrifft.

Neue Instrumente, die vom Innenministerium, den Rettungsdiensten und den Krankenhäusern verwaltet werden, wurden ebenfalls eingeführt.

"2018 wurden Sinus und Sivic, zwei digitale IT-Geräte, entwickelt", erzählt Frédérique Calandra, französische interministerielle Beauftragte für Opferhilfe. "Es handelt sich um zwei Systeme zur Identifizierung von Opfern, die Fehler, Doppelungen, Fehlalarme usw. einschränken. Und gerade wurde ein Erlass über die Einrichtung von SIVAC veröffentlicht, dem interministeriellen Informationssystem für Opfer von Terrorismus und Katastrophen. Das ist der nächste Schritt zur Verbesserung der Systeme für den Informationsaustausch. Es gibt bis zu 11 verschiedene Verwaltungen und mindestens sieben Ministerien, die an der Bewältigung von Massenanschlägen, Naturkatastrophen oder anderen schwerwiegenden Ereignissen mit sehr vielen Opfern beteiligt sein können."

Bessere Krisenvorbereitung

Eine weitere Neuerung ist ein Krisenstab, der vom Premierminister oder dem Innenministerium im Falle eines Anschlags, einer Naturkatastrophe oder eines schweren Unfalls jeglicher Art aktiviert werden kann. Yves Hocde, stellvertretender Direktor für Krisenvorbereitung und -Management beim französischen Innenministerium, erklärt:

"Es handelt sich um eine Anrufplattform, um auf die verschiedenen Personen zu reagieren, die Angehörige von Opfern oder Opfer eines Ereignisses sein könnten. Wir haben ein System mit mehr als 50 Personen, die sofort reagieren. Und wenn die Zahl der Anrufe es nötig macht, erhöhen wir die Zahl der Mitarbeiter zusammen mit dem Roten Kreuz, je nach dem Ausmaß des Ereignisses."

Hilft der Prozess den Opfern, ein neues Kapitel aufzuschlagen?

Arthur Dénouveaux, Überlebender des Bataclan-Anschlags und Präsident von Life for Paris, einer Vereinigung von Opfern der Anschläge vom 13. November, gehört zu denjenigen, die sich für eine bessere Anerkennung des Status der Opfer von Terroranschlägen eingesetzt haben, um die Verfahren zu erleichtern, insbesondere was die Entschädigung oder die Erstattung von Arztkosten und psychologischer Betreuung angeht. Er wird im Rahmen des Prozesses aussagen, der seiner Meinung nach den Opfern auch ermöglichen soll, ein neues Kapitel aufzuschlagen:

"Wir haben wirklich für ein einfacheres Verständnis dieses Gesetzes gekämpft, um all das, was den Opfern zusteht, zusammenzuführen. Man kann schnell zum Opfer werden. Das ist ein schneller, passiver Vorgang. Gibt der Staat, gibt die Gesellschaft, geben wir, die Opfer, uns wirklich die Möglichkeit, irgendwann nicht mehr Opfer zu sein? Damit wir nicht ein Leben lang in diesem Status gefangen sind. Das war einer unserer Hauptkämpfe. Er ist nicht unbedingt vollständig abgeschlossen, denn ein Teil hängt nur von uns ab. Es muss eine Zeit kommen, in der wir dieses Etikett loswerden."

Wird der Terrorismus angemessen bekämpft?

Für Jean Pierre Albertini, dessen Sohn Stéphane im Bataclan ermordet wurde, liegen die wahren Probleme woanders. In einem Buch, das er zu Ehren seines Sohnes geschrieben hat, stellt er auch die Maßnahmen zur Bekämpfung des radikalen Islam infrage:

"Es gibt eine Medaille, eine Medaille für die Opfer des Terrorismus. Wenn ein Staat die Verleihung von Medaillen der Idee vorzieht, eine bestimmte Ideologie zu besiegen, dann deshalb, weil er zugibt, dass er in eine Sackgasse geraten ist. Wenn man die Existenz von Opfern tatsächlich anerkennt und es nicht schafft, ihre Zahl zu begrenzen."

Nichtsdestotrotz. Seit 2017 wurden in Frankreich und in ganz Europa mehrere Dutzend dschihadistische Terroranschläge vereitelt.

Das Ergebnis der Maßnahmen nach dem bitteren Versagen bei den Anschlägen von 2015, die von Personen verübt wurden, die den europäischen Geheimdiensten bekannt waren, stellt dieser Experte für internationalen Terrorismus fest.

"Wir haben schnell erkannt, dass diese Netzwerke länderübergreifend sind, dass Grenzen für sie keine Rolle spielen und dass es darauf ankommt, operative Informationen mit ausländischen Partnern auszutauschen", so Jean-Charles Brisard, Vorsitzender des Zentrums für die Analyse des Terrorismus. "Es gibt eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Staaten, das ist sehr bemerkenswert und wichtig für die Zukunft. Vor allem die terroristischen Organisationen, die uns bedrohen, sind durch die militärischen Offensiven erheblich geschwächt worden. Der Wille dieser Gruppen, uns anzugreifen, ist nach wie vor vorhanden und wir wissen das. Aber wir denken, dass dieses Risiko heute viel geringer ist als das Risiko der inneren (endogenen) Bedrohung."

Eine Bedrohung, die die Inlandsgeheimdienste in die vorderste Reihe stellt; allein in Frankreich hat sich ihre Mitarbeiterzahl seit 2015 verdoppelt.

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Nach Explosion in Liverpool: Terrorwarnstufe hochgesetzt

Frankreich: Warmlaufen der Präsidentschaftskandidaten

Slowenien: Medienfreiheit in Gefahr?