Warum richtet die NATO keine Flugverbotszone ein, wie von Selenskyj gefordert?

Warum richtet die NATO keine Flugverbotszone ein, wie von Selenskyj gefordert?
Copyright Olivier Matthys/Copyright 2022 The Associated Press. All rights reserved
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Von Jorge Liboreiro
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Weil der Westen die von der Ukraine geforderte Flugverbotszone bisher nicht eingerichtet hat, gibt Präsident Selenskyj der NATO eine Teilschuld an den Toten durch russische Angriffe in seinem Land. Warum kommt die NATO der Bitte nicht nach?

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In seiner Rede vor britischen Abgeordneten im Unterhaus sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Bitte sorgen Sie dafür, dass unser ukrainischer Luftraum sicher ist. Bitte stellen Sie sicher, dass Sie tun, was getan werden muss".

Mit seinem eindringlichen Appell per Videoschalte forderte Selenskyj erneut eine Flugverbotszone, in deren Rahmen seine westlichen Verbündeten ihre Kampfjets einsetzen würden, um die russischen Streitkräfte zu vertreiben, die seit mehr als zwei Wochen ukrainische Städte bombardieren.

Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, wurde durch zahllose Luftangriffe verwüstet. Die Straßen sind voller Schutt und Bombenkrater,die alle Hoffnungen auf einen schnellen Wiederaufbau zunichte machten. In der belagerten Hafenstadt Mariupol wurde am Mittwoch ein Kinderkrankenhaus bombardiert, wobei drei Menschen, darunter ein Mädchen, ums Leben kamen.

"Wie lange will die Welt noch Komplize sein und den Terror ignorieren? Schließt sofort den Himmel! Stoppt das Töten!", schrieb Selenskyj auf Twitter und beschuldigte Russland des Angriffs.

Bislang wurden die Aufrufe des Präsidenten jedoch nicht erhört.

Auch wenn die westlichen Länder Entschlossenheit gezeigt haben, Moskaus militärische Aggression zu verurteilen und gleichzeitig eine Reihe Sanktionen zu verhängen, um den Militärapparat des Landes lahmzulegen, bleibt eine Flugverbotszone ein Schritt, den die Demokratien nicht bereit zu machen sind.

Die Flugverbotszone - oder NFZ - ist ein relativ neues Konzept, das Anfang der 1990er Jahre während des Golfkriegs eingeführt wurde, als sich eine Koalition aus 35 Nationen zusammenschloss, um die irakischen Streitkräfte von Saddam Hussein aus Kuwait zu vertreiben.

Die Theorie ist einfach: Eine Flugverbotszone ist ein begrenztes Gebiet, über dem Flugzeuge einer bestimmten Herkunft nicht fliegen dürfen. Man könnte sie als das fliegerische Äquivalent einer entmilitarisierten Zone betrachten.

In der Praxis ist das Konzept jedoch sowohl kompliziert als auch riskant.

Flugverbotszone im Nordirak und in Bosnien

Um es durchzusetzen, müssen Überwachungs- und Kampfflugzeuge eingesetzt werden, um all jene aufzuspüren, zu identifizieren und gegebenenfalls abzuschießen, die gegen die Bestimmungen verstoßen.

1991 führten die USA, Großbritannien und Frankreich eine Flugverbotszone im Nordirak ein, um irakische Gräueltaten gegen die in der Region lebende kurdische Minderheit zu verhindern. Gleichzeitig wurde eine separate Zone zum Schutz der schiitischen Muslime im Süden eingerichtet.

Zehn Jahre lang, bis zur Invasion des Irak im Jahr 2003, flogen die USA und ihre Verbündeten nach Angaben des Pentagon mehr als 280.000 Einsätze.

Flugverbotszonen wurden auch 1993 von der NATO während des Bosnienkriegs eingerichtet, dem ersten Einsatz des Bündnisses in einem bewaffneten Konflikt. Im Jahr 2011 wurden sie während des libyschen Bürgerkriegs eingesetzt und ebneten den Rebellen den Weg zum Sturz der Regierung von Muammar Gaddafi.

Nun, da Russland unbeeindruckt von internationalen Sanktionen seine Angriffe zu Lande, zu Wasser und in der Luft fortsetzt, hat Selenskyj seine Forderung, für eine Flugverbotszone der NATO über der Ukraine bekräftigt. 

Wenn ihr das nicht tut (...) kann man nur zu dem Schluss kommen, dass ihr wollt, dass wir ganz langsam getötet werden.
Wolodymyr Selenskyj
Präsident der Ukraine

"Wir wiederholen jeden Tag: Schließen Sie den Himmel über der Ukraine", sagte Selenskyj .

"Wenn ihr das nicht tut, wenn ihr uns nicht wenigstens Flugzeuge gebt, damit wir uns selbst schützen können, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass ihr wollt, dass wir ganz langsam getötet werden."

Warum tun sie es dann nicht?

Leid vs. mehr Leid

Im Gegensatz zu Irak, Bosnien und Libyen würde eine Flugverbotszone in der Ukraine die NATO mit einer Atommacht, Russland, konfrontieren, die über die zweitstärkste Armee der Welt verfügt - etwas, das die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen offensichtlich vermeiden wollen.

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"Ich glaube, dass alle Ermutigungen für die NATO, sich jetzt in den militärischen Konflikt einzumischen, unverantwortlich sind", sagte die litauische Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte.

In Brüssel unterstreicht NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg diese rote Linie jedes Mal, wenn eine Journalistin oder ein Journalist sie anspricht.

"Wir verstehen die Verzweiflung, aber wenn wir das täten, würde das zu einem ausgewachsenen Krieg in Europa führen, in den noch viel mehr Länder verwickelt wären und der noch mehr Leid verursachen würde", sagte er in der vergangenen Woche.

Die Umsetzung würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten ihre Kampfjets in den ukrainischen Luftraum entsenden müssten, um russische Streitkräfte aufzuspüren und zu verjagen. Die Überwachungsmaßnahmen müssten ständig und systematisch durchgeführt werden und sich über eine Fläche von 603 km² erstrecken.

Die westlichen Länder wären zudem gezwungen, Moskaus bodengestützte Luftabwehrsysteme anzugreifen, um ihre eigenen Flugzeuge vor dem Abschuss zu schützen. Dies könnte das Bündnis vor erhebliche Herausforderungen stellen, da einige dieser Systeme außerhalb der Ukraine stationiert sein könnten, so dass die NATO gezwungen wäre, russisches oder weißrussisches Gebiet anzugreifen, um die Lufthoheit zu gewährleisten.

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Dieses Szenario würde aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer offenen und direkten Konfrontation führen, die die Verbündeten unbedingt vermeiden wollen, und möglicherweise Artikel 5 der kollektiven Verteidigung der NATO auslösen. Die Befürchtung eines verheerenden Atomkriegs würde über Nacht von einer weit hergeholten Annahme zu einer plausiblen Annahme.

"Wir sind nicht Teil dieses Konflikts. Und wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass er nicht eskaliert und sich über die Ukraine hinaus ausbreitet", sagte Stoltenberg.

Das Risiko ist so hoch, dass ein polnischer Vorschlag, alle seine MiG-29-Kampfjets über einen US-Stützpunkt in Deutschland in die Ukraine zu schicken, vom Pentagon abgelehnt wurde, weil er "ernste Bedenken für das gesamte NATO-Bündnis" aufwerfe - eine kaum verhüllte Anspielung auf einen möglichen Showdown mit dem Kreml.

Abschrecken oder Provokation?

In Moskau hat Putin bereits davor gewarnt, dass eine Flugverbotszone durch Dritte als "Beteiligung an einem bewaffneten Konflikt" angesehen würde. Allerdings sieht er die vom Westen verhängten Sanktionen, die sich gegen verschiedenste Bereiche richten, von der russischen Zentralbank bis hin zu High-Tech-Gütern, einer Kriegserklärung gleichkämen.

Die praktische Beteiligung des Bündnisses würde es Putin leicht machen, den Einmarsch in die Ukraine als Überlebenskampf gegen das Vordringen der NATO darzustellen und so seine Mitbürger:innen weiter für den Militäreinsatz zu mobilisieren.

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In Kiew weist Selenskyj jedoch alle Bedenken und "Was-wäre-wenn"-Prognosen zurück und plädiert weiterhin für die Sperrung des ukrainischen Luftraums für "alle russischen Raketen" und "russische Militärflugzeuge". In seiner harten Antwort an Stoltenberg ging der ukrainische Präsident sogar so weit, dem Westen die Schuld an den zivilen Opfern zu geben.

"Alle Menschen, die von heute an sterben, werden auch wegen Euch sterben, wegen Eurer Schwäche, wegen Euren Mangels an Einigkeit", sagte der Präsident.

Fenster der Gelegenheit

Während die Debatte zwischen den Hauptstädten weitergeht, geht auch der Krieg weiter.

In den zwei Wochen seit Beginn der Invasion haben die Vereinten Nationen mehr als 1.300 zivile Opfer innerhalb des Landes gezählt, fast 500 Menschen wurden getötet. Die Zahlen sind angesichts der extremen Umstände vor Ort schwer nachzuprüfen.

"Die meisten der erfassten zivilen Opfer wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht, einschließlich des Beschusses durch schwere Artillerie und Mehrfachraketen sowie durch Raketen- und Luftangriffe", so die UN. Die tatsächlichen Zahlen dürften "erheblich höher" sein, so die UN.

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Es ist unklar, wie viel von dieser Zerstörung durch russische Flugzeuge im Vergleich zu den Boden- und Seestreitkräften angerichtet wurde.

Moskau setzt nicht nur Kampfflugzeuge und Kalibr-Marschflugkörper ein, um ukrainische Einrichtungen zu treffen, sondern auch Tausende von Panzern, Artilleriegeschützen und Militärfahrzeugen, um umfangreiche Raketen- und Artillerieangriffe durchzuführen. Dabei wurden Wohngebäude getroffen und zahlreiche Zivilisten im ganzen Land getötet.

"Tatenlos zuschauen oder handeln"

Im Gegenzug hat die Ukraine die russische Invasionsarmee mit Panzer- und Flugabwehrraketen angegriffen, die von den USA und der NATO in Rekordzeit bereitgestellt wurden. Der erbitterte Widerstand Kiews hat die russische Invasion verlangsamt und die Voraussetzungen für einen langwierigen und blutigen Konflikt geschaffen.

"Je grausamer der Krieg wird und je deutlicher wird, dass er nicht morgen vorbei sein wird, desto höher werden die humanitären Kosten sein", sagt Bruno Lété, Senior Fellow beim German Marshall Fund of the United States.

"Die Frage für die NATO wird sein, ob sie tatenlos zuschauen oder handeln soll."

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Die Gewalt hat die größte Fluchtbewegung von Menschen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst. Mehr als zwei Millionen Ukrainer sind nach Angaben der Vereinten Nationen in weniger als zwei Wochen aus dem Land in die Nachbarstaaten geflohen. Die Europäische Union hat ein nie zuvor angewandtes Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen aktiviert.

Die sich rapide verschlechternde Situation, so Lété, biete der NATO die Möglichkeit, eine Flugverbotszone über dem westlichen Teil der Ukraine einzurichten, den die russischen Streitkräfte noch nicht erreicht haben, und so einen humanitären Korridor zu schaffen, der eine geordnete und sichere Ausreise der Bürger ermöglichen würde.

"Das ist im Moment machbar, mit geringem Risiko. Wir sehen, dass die russischen Streitkräfte derzeit in der Ostukraine und um Kiew konzentriert sind", sagt Lété gegenüber Euronews. Er selber habe kürzlich seine Meinung über die rote Linie der NATO geändert.

"In Anbetracht des sehr langsamen Fortschritts des Krieges glaube ich nicht, dass Russland derzeit überhaupt die Möglichkeit hat, die Einrichtung einer Flugverbotszone im Osten zu verhindern."

Selbst wenn die Flugverbotszone geografisch begrenzt wäre, so Lété, müsste jeder einzelne NATO-Mitgliedstaat grünes Licht für die Operation geben, was derzeit unwahrscheinlich ist, da die politische Bereitschaft für ein Vorhaben, das zu einer Eskalation führen könnte und ein Engagement ohne klares Ende voraussetzt, gering ist.

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Eine Flugverbotszone zu verhängen, muss grundsätzlich durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats unterstützt werden, wie dies bei den Übergriffen in Bosnien und Libyen der Fall war.

Und als eines der ständigen Mitglieder wird Russland sein Veto einlegen und jede Resolution, die die Invasion verurteilt oder eine militärische Intervention genehmigt, ablehnen.

Alternativ könnte die ukrainische Regierung ausländische Streitkräfte offiziell zum Einmarsch in das Land einladen, wie es die irakische Regierung mit der von den USA angeführten Koalition tat, die 2014 zur Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates entsandt wurde.

Angesichts der jüngsten Äußerungen von Selenskyj scheint die Einladung trotz der wiederholten Bemühungen des Westens, sie abzulehnen, immer noch auf dem Tisch zu liegen.

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