Dieser Italiener ist 3.200 km gefahren, um Ukrainer in Sicherheit zu bringen

Daniele (rechts) bei seiner Rückfahrt von der polnisch-ukrainischen Grenze. Auf dem Rücksitz sitzt eine 84 Jahre alte ukrainische Geflüchtete.
Daniele (rechts) bei seiner Rückfahrt von der polnisch-ukrainischen Grenze. Auf dem Rücksitz sitzt eine 84 Jahre alte ukrainische Geflüchtete. Copyright Daniele Bellofiore
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Von Andrea Carlo
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Daniele setzt sich in sein Auto und fährt los. Sein Ziel: Die ukrainische Grenze.

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Wie in vielen anderen Teilen Europas ist auch in Italien die öffentliche Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge groß: Laut einer aktuellen Umfrage sind mehr als vier von fünf Personen dafür.

Auch online ist die Stimmung ähnlich. Eine Facebook-Gruppe für Ukrainer:innen in Italien verzeichnet seit dem Einmarsch der Russen einen sprunghaften Anstieg. Es gibt dort Angebote für Unterkunft und Arbeit.

Auch die Politik in Rom hat schnell ihre Unterstützung für die Ukrainer mobilisiert. Spenden für einen Fonds für die Geflüchteten beläuft sich auf fast 4 Millionen Euro.

Aber nur wenige Italiener haben sich so ins Zeug gelegt wie Daniele Bellofiore.

Der 44-jährige gebürtige Turiner hat jahrzehntelange Erfahrung im Gastgewerbe und in der humanitären Arbeit. Nachdem er ein Jurastudium und einen Job in der IT-Branche aufgegeben hatte, die beide weit von seinen Zielen entfernt waren, beschloss er, seine Leidenschaft für die Natur mit der Hilfe für andere zu verbinden, indem er nach Kenia und Tansania ging, wo er zwei Vereine zur Unterstützung von Kleinunternehmen und Handwerkern gründete. Er verbrachte dort 12 Jahre und kehrte dann nach Italien zurück, wo er in der Toskana eine Pension eröffnete, das er bis heute betreibt.

Nach der Invasion Russlands in der Ukraine und der anschließenden humanitären Krise war Bellofiore zutiefst besorgt. Doch es war ein enger ukrainischer Freund der Familie - Oleg, ein Portier im Wohnblock seiner Mutter in Rom -, der ihn dazu brachte, aktiv zu werden.

"In der ersten Nacht des Krieges fragte ich ihn, wie ich helfen könnte, und ob es jemanden gäbe, der meine Hilfe braucht", sagte Bellofiore im Gespräch mit Euronews. "Ein paar Tage später sagte er mir, dass er ein paar Leute kenne, die fliehen wollten."

Später erfuhr Bellofiore, dass es diesen Personen gelungen war zu fliehen, dass es aber noch eine Person gab, die hoffte, ihren Cousin zu retten. Olegs Schilderungen hatten Bellofiores Entschlossenheit gestärkt, er hatte einen Entschluss gefasst. Ohne jegliche finanzielle Unterstützung, abgesehen von ein paar Spenden von Freunden, verbrachte Bellofiore die Tage damit, Hilfe zu sammeln und eine Gruppe zusammenzustellen, die nach Polen reisen sollte.

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3.200 Kilometer ist Daniele gefahren, um ukrainische Geflüchtete nach Italien zu bringen.Euronews

"Es war ein absoluter Notfall, unbeschreiblich"

Am Morgen des 6. März verließen Bellofiore und sein Team die toskanische Stadt Siena. Die Gruppe nahm medizinische Hilfsgüter, Lebensmittel, Kleidung, Decken und andere lebensnotwendige Dinge mit und traf sich mit anderen Helfern auf der Fahrt über die Halbinsel. Der Konvoi bestand aus acht Personen in sechs Autos.

Nach einer Zwischenübernachtung in Wien erreichte Bellofiore am Montagnachmittag die polnische Grenzstadt Przemyśl, weniger als 100 Kilometer von Lemberg entfernt. Sie gaben ihre Hilfslieferungen ab und gingen in das provisorische Tesco-Flüchtlingszentrum. Dort wurde Bellofiore Zeuge von Szenen, die ihn zutiefst erschütterten.

"Was ich dort sah, ist vergleichbar mit dem, was ich in meiner Zeit in Afrika erlebt habe", berichtete er. "Es war eine absolute Notlage. Es war unbeschreiblich."

Am nächsten Tag verteilte sich das Team auf andere Städte wie Medyka und konnte schließlich zwischen 10 und 20 Menschen aufnehmen.

Wir sahen die Angst und die Ungewissheit in den Augen der Menschen.

Bellofiore selbst nahm eine 84-jährige sehbehinderte Frau, ihre jüngere Nichte und ihre beiden Hunde auf, um sie nach Italien zu bringen. Am Mittwoch waren sie zurück in Rom. "Zu Beginn der Reise war sie verängstigt und völlig verunsichert", doch am Ende der Reise, erzählt Bellofiore, brachten sie ihm ukrainische Lieder bei und sangen gemeinsam.

Da es sich um seinen ersten Roadtrip dieser Art handelte, gab es neben den Tausenden von Kilometern auch zahlreiche logistische Probleme zu bewältigen. Dennoch will Bellofiores weitermachen, am 13. März trat er eine zweite Reise an die polnisch-ukrainische Grenze an. Mit mehr Leuten, besserer Koordination und einem Minivan.

Auch Stefano Torrelli will sich Bellofiore wieder anschließen. Der 33-Jährige aus dem norditalienischen Reggio Emilia erzählte Euronews, dass er "weder schlafen noch arbeiten" konnte, als er von der Invasion in der Ukraine erfuhr. Auf Facebook fand er die Initiative von Bellofiore, die ihn sofort dazu motivierte, sich an der Aktion zu beteiligen.

"Wir nahmen so viele Menschen wie möglich, die zurück nach Italien wollten, in unsere Autos auf. Alle wollten an verschiedene Orte", erklärte er. "Wir sahen die Angst und die Ungewissheit in den Augen der Menschen, wir sahen Menschen, die unvorstellbare Schrecken erlebt haben müssen."

Während und nach seiner Reise dokumentiert Bellofiore alles in den sozialen Medien und teilt Videos auf seiner Facebook-Seite (mit dem Namen "Daniele Unpostonelmondo", nach dem Namen seines B&B). Die Kommentare und Likes - darunter auch Dankesbekundungen von Angehörigen derjenigen, denen er geholfen hat - liegen im zweistelligen Bereich. Doch seine Initiative verbreitet sich so schnell, dass er inzwischen Hunderte von Nachrichten und Anfragen erhalten hat. 

"Wir sprechen über [Flüchtlinge], als wären sie Pakete, die man von einem Ort zum anderen transportiert", beklagte Bellofiore. "Aber es sind Menschen, von denen jeder seine Bedürfnisse hat. Als Teil unserer Mission versuchen wir, diesen Menschen zu helfen, ihren inneren Frieden zu finden, und zwar schon zu Beginn der Reise selbst."

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AP Photo
Dicht gedrängt und verunsichert: Flüchtlinge aus der Ukraine erreichen den Bahnhof in Przemysl, Polen, Sonntag, 27. Februar 2022AP Photo

Die Menschen zu Hause sind verängstigt

Hinter einer stark befahrenen Straße in Rebibbia - Roms vielgeschmähtem Gefängnisviertel - flattert eine kleine ukrainische Flagge heftig im eisigen Nordwind, der die italienische Hauptstadt in den letzten Wochen im Griff hat.

Neben dem Mast ist in einer geschlossenen Gasse, die zu einem kleinen Bungalow führt, ein zweisprachiges Plakat zu sehen, das für ein ukrainisches Restaurant wirbt, und dann ein Schild: Associazione Cristiana Culturale Italo Ucraina (Italo-Ukrainischer Christlicher Kulturverein).

Hinter dem unscheinbaren Tor verbirgt sich eine der wichtigsten Organisationen, die an vorderster Front an der Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge auf der Flucht nach Italien beteiligt ist.

Schon lange vor der russischen Invasion in der Ukraine hat das von einem ehemaligen italienischen Marinesoldaten, Mario Tronca, gegründete Zentrum Ukrainer, die nach Italien kommen wollten, unterstützt und aufgenommen.

Doch seit dem Einmarsch der russischen Truppen haben sich die Ankünfte dramatisch vervielfacht.

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Wir kennen immer noch so viele Menschen zu Hause, sie haben alle sehr viel Angst.

Als die Sonne unterzugehen beginnt, fährt ein weiterer Reisebus mit Passagieren auf den weitläufigen Parkplatz des Zentrums. Freiwillige Helfer begrüßen die Neuankömmlinge, die von der langen Reise sichtlich erschöpft sind. Einer der Helfer, Igor, erzählt, dass sie wegen der Warteschlangen an der österreichischen Grenze schon mehr als zwölf Stunden unterwegs sind.

Kleines Gebäck und Spielzeug werden schnell verteilt. Eine Mutter, begleitet von ihrer zehnjährigen Tochter, erzählt von traumatischen Erfahrungen, die sie gemacht haben, nachdem sie ihr Haus in Kiew verlassen hatten.

"Wir sind am zweiten Tag des Krieges losgefahren und haben in verschiedenen Städten angehalten, mitten in den Bomben und Trümmern, nachdem ein paar Freunde mit einem Auto gekommen sind, um uns abzuholen", sagte sie Euronews.

"Wir haben Freunde hier in Italien, die uns aufnehmen werden. Wir kennen immer noch so viele Menschen zu Hause, sie haben alle sehr viel Angst."

Die Frau ist eine von mehr als 23.000 Ukrainer:innen, die nach Italien geflohen sind.

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Immer wieder halten Autos an, Gespräche wechseln nahtlos zwischen Italienisch und Ukrainisch, und Menschen kommen, um zu helfen. Eine Helferin, die Kisten trägt, erzählt beiläufig, dass ihre Familie immer noch in der Ukraine festsitzt und dass sie im Moment nur denen helfen kann, die es geschafft haben.

Als die Nacht hereinbricht, zerstreuen sich die Neuankömmlinge schnell und lassen den Parkplatz so leer und still zurück wie eine halbe Stunde zuvor.

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