5 Gründe, warum das Duell Macron-Le Pen dieses Mal völlig anders ist

Dieses Bild, aufgenommen am 6. April 2022 in Marseille, zeigt gefaltete Wahlprospekte der rivalisierenden Kandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen.
Dieses Bild, aufgenommen am 6. April 2022 in Marseille, zeigt gefaltete Wahlprospekte der rivalisierenden Kandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen. Copyright AFP
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Von Alasdair Sandford
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Schon vor fünf Jahren mussten Wähler:innen in Frankreich in einer Stichwahl zwischen Macron und Le Pen entscheiden. Doch die Ausgangslage ist in diesem Jahr eine ganz andere.

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Emmanuel Macron geht als Spitzenkandidat verglichen mit 2017 mit einem Vorsprung gegen Marine Le Pen in die Stichwahl der französischen Präsidentschaftswahlen.

Doch die zweite Runde des Duells zwischen dem proeuropäischen Zentristen und seiner nationalistischen Herausforderin dürfte ein ganz anderes, viel knapperes Rennen werden als vor fünf Jahren.

Seit Macrons damals neue Bewegung "En Marche" an die Macht gekommen ist, hat sich die politische Landschaft erheblich verändert.

Heute repräsentiert der Amtsinhaber das Establishment. Es ist sehr viel schwieriger, ein wütendes, gespaltenes Frankreich zu überzeugen und die Rechtsextremen auf Abstand zu halten.

Die Aussicht, dass Le Pen am Ende als erste Präsidentin der Grande Nation in den Elysée-Palast einzieht, war noch nie so wahrscheinlich.

1. Rechtsextreme am "Tor zur Macht" - ein viel engeres Rennen vorhergesagt

Die Alarmglocken, die im Vorfeld der ersten Wahlrunde für Le Pen geschrillt waren, wurden noch schriller, als das Ergebnis bekannt wurde.

Mehrere unterlegene Kandidat:innen warnten vor einer "extremen Rechten... an den Toren der Macht". Anne Hidalgo von den Sozialisten rief ihre Anhänger "mit Nachdruck" dazu auf, Macron zu unterstützen, um zu verhindern, dass Frankreich "in Hass umkippt und sich alle gegeneinander wenden". Valérie Pécresse von den Republikanern sagte, sie würde dasselbe tun, "um zu verhindern, dass Marine Le Pen an die Macht kommt und das Chaos, das daraus resultieren würde".

Auch Ex-Präsident Nicolas Sarkozy sagte am Dienstag, er werde für Macron stimmen, der momentan der einizige sei "der in der Lage ist zu handeln".

Zwei Meinungsumfragen, die am Sonntagabend veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass das Rennen in der Stichwahl sehr viel knapper ausfallen wird als 2017. Damals errang Macron einen Erdrutschsieg, da viele Wähler:innen gegen die Rechtsextremen abstimmten, wie sie es 2002 mit Le Pens Vater getan hatten.

Eine Umfrage von Ipsos France sieht Macron mit einem Vorsprung von acht Punkten, 54 %, gegenüber 46 % für Le Pen. Eine andere Umfrage von Ifop Opinion sieht die beiden fast Kopf an Kopf, wobei Macron mit 51%-49% nur knapp vorne liegt.

So radikal wie eh und je.

Die Chefin des "Rassemblement National" ("Nationale Versammlung") führte vor der ersten Runde einen geschickten Wahlkampf mit dem zentralen Thema Lebenshaltungskosten, das für Wählerinnen und Wähler derzeit besonders wichtig ist. Nachdem sie sich den Einzug in die Stichwahl gesichert hatte, rief sie zur Geschlossenheit in ihrer Sache auf.

Für ihre Gegner:innen und einige Analyst:innen verbergen Le Pens beruhigende Botschaft und ihr sanftes Image jedoch ein Programm, das nach wie vor in der harten Rechten verankert ist: Sie ist gegen Einwanderung, für ein Verbot der muslimischen Verschleierung in der Öffentlichkeit und bereit, der EU in Bezug auf grundlegende Prinzipien zu trotzen.

Douglas Webber von der Wirtschaftshochschule INSEAD bezeichnete ihr Lager als "insular" und "nationalistisch". Trotz eines öffentlichen Bildes, das nun völlig "entdämonisiert" ist, kommt der linke Think-Tank Jean Jaurès zu dem Schluss, dass Le Pens Partei "so radikal wie eh und je" ist und sich auf einen "autoritären ideologischen Kern stützt, der auf dem Anprangern von fehlender Sicherheit und Einwanderung beruht" - nach wie vor "wesentliche Elemente ihrer Position".

Michel Euler/AP
"Marine Präsidentin" und "Staatsfrau" steht auf einem Wahlplakat der RN-Chefin, die in 10 Tagen gegen Macron in eine Stichwahl geht.Michel Euler/AP

2. Macron als Establishment, nicht Außenseiter

Emmanuel Macron war in der französischen Öffentlichkeit noch nie wirklick beliebt.

Bei der Wahl 2017 hatte er den Vorteiil des frischen Herausforderers mit politischem Status quo in Frankreich. Fünf Jahre später ist er der Amtsinhaber, und Vertrautheit hat zu Verachtung geführt: Viele sehen ihn als das personifizierte Establishment.

Damals erhielt Macron im ersten Wahlgang nur 24 % der Stimmen. Viele Linke beschimpften ihn als "Freund der Banker" oder "Kandidat der Reichen". Für die Rechte hingegen war er aufgrund seiner früheren Rolle in der Regierung von François Hollande als Sozialist gebrandmarkt und als Feind der traditionellen konservativen Werte an den Pranger gestellt worden.

Diesmal ist es ihm gelungen, mehr Unterstützung zu gewinnen, vor allem von Mitte-Rechts und in geringerem Maße auch von Mitte-Links. Die Art und Weise, wie seine Regierung mit der durch die COVID-Pandemie geschädigten Wirtschaft umgeht, wird von Wirtschaftswissenschaftler:innen gelobt. Die Arbeitslosigkeit ist auf den niedrigsten Stand seit über einem Jahrzehnt gesunken. Unternehmertum, Arbeitsplatzschaffung und Arbeitsplatzsicherheit wurden gefördert. Die Energiepreise wurden gedeckelt. Die Inflation ist niedriger als in vergleichbaren europäischen Ländern.

Doch abseits der großen Städte und der wohlhabenden Teile des ländlichen Raums treffen die steigenden Preise weiterhin diejenigen, die sich während der Revolte der "gilets jaunes" ("Gelbwesten") 2018/19 erhoben haben. Damals hatte die Erhöhung der Kraftstoffsteuer eine Protestwelle ausgelöst. Die daraufhin eingeleiteten Bemühungen, die Bürgerinnen und Bürger in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, wurden als wenig ergebnisorientiert kritisiert.

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Für viele ist der Präsident eine antagonistische Figur, die als distanziert und abgehoben von den Sorgen der einfachen Menschen angesehen wird. Seine Breitseite gegen die Impfgegner Anfang des Jahres (er versprach, sie "bis aufs Blut zu verärgern") führte zu weiterer Entfremdung.

Le Pen wird weiter die Botschaft verbreiten, dass sie mit der Basis in Kontakt steht und die Kaufkraft der Menschen verbessern wird. Macrons Wahlkampfslogan lautet "Nous tous" ("Wir alle"). Der Präsident hat weniger als zwei Wochen Zeit, um viele, die derzeit glauben, dass er alles andere als das repräsentiert, davon zu überzeugen, dass seine Botschaft der Integration aufrichtig ist.

3. Eine weit schwächere "republikanische Front"

Vor zwanzig Jahren wurde Jean-Marie Le Pen von der Welle der Empörung nach dem Einzug des Front National in die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen regelrecht weggefegt. Millionen von Menschen, selbst auf der Linken, verhalfen Jacques Chirac mit 82 % zu einer zweiten Amtszeit.

Auch fünfzehn Jahre später war die "republikanische Front" immer noch lebendig: Die Ablehnung von Le Pens Tochter, die den Mantel der Rechtsextremen übernommen hatte, verhalf Emmanuel Macron 2017 mit zwei Dritteln der Stimmen zum Sieg.

Im Jahr 2022 ist es Marine Le Pen weitgehend gelungen, die gewalttätigen, rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Etiketten abzulegen, mit denen die Partei jahrzehntelang behaftet war. Viele wären zwar beunruhigt, wenn sie die Schlüssel des Elysée-Palastes in die Hand bekäme, aber viele andere - vor allem auf der Linken - sind Macron gegenüber auf gleichem Niveau feindselig eingestellt, wenn nicht sogar noch feindseliger.

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Entscheidend für den Ausgang der Wahl sind diesmal die Absichten derjenigen, die für den linken Jean-Luc Mélenchon gestimmt haben, der mit fast 22 % knapp auf dem dritten Platz landete.

"Wir dürfen Madame Le Pen nicht eine einzige Stimme geben", wiederholte der knapp unterlegene Kandidat am Sonntagabend mehrmals. Aber weder er noch seine engen Verbündeten haben sich dazu geäußert, ob sie am 24. April zur Wahl gehen und den Namen von Emmanuel Macron auf dem Wahlzettel ankreuzen werden.

So wie es aussieht, wird mindestens ein Drittel der Mélenchon-Anhänger seinen Rat ignorieren. "Mélenchons Wähler wollen heute zu 34 % für Emmanuel Macron stimmen, zu 30 % für Le Pen - das sind mehr als 2017 - und zu 36 % bleiben sie zu Hause", so Ipsos-Direktor Brice Teinturier.

4. Macrons Reserven an zusätzlichen Stimmen könnten bereits erschöpft sein

Das Ergebnis des ersten Wahlgangs hat nicht so sehr zu einer Aufteilung der Stimmen unter den 12 Präsidentschaftskandidaten geführt, sondern vielmehr dazu, dass sich drei Kandidaten herauskristallisiert haben, die den anderen überlegen sind.

Sie repräsentieren die neu entstandenen Blöcke in Frankreichs neuer politischer Landschaft: Macrons pro-europäische Zentristen, Le Pens nationalistischer Aufstand und Mélenchons harte Linke.

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Der Zusammenbruch der traditionellen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien deutet darauf hin, dass eine beträchtliche Anzahl von Anhängern bereits zu Macron gewechselt ist, vielleicht aus Angst vor Le Pens spätem Aufstieg. Dies wiederum könnte bedeuten, dass die Reserve an zusätzlicher Unterstützung, die der Präsident von diesem Teil der Wählerschaft zu gewinnen hoffte, aufgebraucht sein könnte.

Ich werde mir nicht den falschen Gegner suchen.
Eric Zemmour
Rechtsextremer Präsidentschaftskandidat

Eine weitere Sorge für Macron ist, dass der nationalistische Flügel der Republikaner versucht sein könnte, seine Stimme weiter nach rechts zu verlagern, anstatt sich hinter den Präsidenten zu stellen. "Ich persönlich werde in der Stichwahl nicht für Emmanuel Macron stimmen", sagte Eric Ciotti, ein Abgeordneter aus Nizza im Süden und früherer Präsidentschaftskandidat, der von Valérie Pécresse bei der Nominierung der Republikaner überholt wurde.

Der Präsident hofft sicherlich, dass die Wähler den Aufrufen der unterlegenen Kandidaten - darunter Pécresse, Hidalgo und Yannick Jadot von den Grünen - folgen und Macron ihre Stimme geben, um Le Pen zu isolieren.

Von ihrem rechtsextremen Rivalen, dem unterlegenen Eric Zemmour, wird Le Pen trotz ihrer "Meinungsverschiedenheiten" unterstützt. "Ich werde mir nicht den falschen Gegner suchen", sagte er. "Deshalb rufe ich meine Anhänger auf, Marine Le Pen zu wählen".

Lewis Joly/AP
Macron beim Besuch einer Baustelle in Denain (Nordfrankeich): Der Amtsinhaber muss viele französische Wähler:innen davon überzeugen, dass er Politik in ihrem Sinn macht.Lewis Joly/AP

5. Krieg in der Ukraine - und die Beziehungen zu Putin

Einige Tage vor der ersten Runde der Wahl stellte Macron Le Pen wegen ihrer Beziehungen zu Russland und ihrer "Nachsicht gegenüber Wladimir Putin" an den Pranger.

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Der Einmarsch Russlands in die Ukraine Ende Februar führte zu einem sprunghaften Anstieg der Unterstützung für Macron im eigenen Land, da Europa entsetzt auf die unprovozierte Aggression Moskaus reagierte. Macron versuchte wiederholt, mit Putin am Telefon zu verhandeln. Doch der Aufschwung in den Umfragen erwies sich nur als vorübergehend. Und das obwohl seine nationalistischer Rivalin zuvor seine Bewunderung für den russischen Staatschef bekundet hatte.

"In vierzehn Tagen wird vielleicht Marine Le Pen vor Putin stehen. Und was wird dann passieren? Sie werden sich gegenseitig an vergangene Gefälligkeiten erinnern", spottete ein Minister.

Der damalige "Front National" der rechtsextremen Parteivorsitzenden war vor den letzten Wahlen knapp bei Kasse und nahm bei einer russischen Bank einen Kredit in Höhe von 9 Millionen Euro auf - den sie bis heute zurückzahlt.

Le Pens Partei war die einzige in Frankreich, die die Annexion der Krim durch Russland unterstützt hat, und sie hat die Aufhebung der Sanktionen gegen Moskau gefordert. Obwohl sie Putins Einmarsch in den Rest der Ukraine als "falsch" verurteilt hat, wird die entschlossene, uneingeschränkte Unterstützung für die Ukraine, die viele im Westen zeigen, von Le Pens Anhänger:innen nicht geteilt.

Bryan Pecquer, 21, Student im westfranzösischen Angers, sagte, es sei "notwendig, mit allen zu sprechen", wenn "wir die Diplomatie dem Krieg vorziehen".

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Valentin Rebuffet, 24, von der vom Rassemblement National geführten Gemeinde Bruay-la-Buissière in Nordfrankreich, sagte, die Anschuldigung, Le Pen stehe Putin nahe, sei "lächerlich". "Ihre Botschaft ist kohärent. Es ist schwierig, an der Kaufkraft zu arbeiten und gleichzeitig für Sanktionen gegen Russland zu sein", fügte er hinzu.

Vor dem ersten Wahlgang war Le Pen der Kritik an ihrer Haltung zu Russland und dessen Krieg gegen die Ukraine weitgehend entgangen. Da er um sein politisches Überleben kämpft, ist zu erwarten, dass Emmanuel Macron in den nächsten anderthalb Wochen den Druck zu diesem und vielen anderen Themen erhöhen wird.

Mikhail Klimentyev/AP
Le Pen und Putin im März 2017Mikhail Klimentyev/AP
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