NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens: Warum ist Erdoğan dagegen?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Copyright AP Photo/Burhan Ozbilici
Copyright AP Photo/Burhan Ozbilici
Von euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

euronews hat mit drei Fachleuten gesprochen: Sie erläutern, welche Bedenken die Türkei vorbringen und welche Lösung es geben könnte.

WERBUNG

Dass die türkische Regierung Bedenken hat, Finnland und Schweden zur NATO zuzulassen, sorgt in Helsinki und Stockholm für Verwunderung. Die beiden nordischen Staaten haben dem Militärbündnis ihre Aufnahmeanträge vorgelegt. Der Beitritt kommt nur dann zustande, wenn alle 30 Mitgliedsstaaten dem zustimmen.

„Dies ist keine Drohung"

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat Finnland und Schweden vorgeworfen, „Gasthäuser" des Terrorismus zu sein. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu betonte, beide Staaten müssten Sicherheitsgarantien vorlegen und ihr Ausfuhrverbot für einige militärische Güter in die Türkei aufheben. „Unsere Haltung ist völlig offen und klar. Dies ist keine Drohung - dies ist keine Verhandlung, bei der wir versuchen, unsere Interessen durchzusetzen", so Çavuşoğlu.

Aus dem nationalistischen Lager in der Türkei kam die Warnung, ein NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens könne Russland provozieren und für eine Ausweitung des Krieges in der Ukraine sorgen.

Veto zur NATO-Erweiterung: Erdogan will mehr "Fingerspitzengefühl"

Sorge wegen PKK und YPG

Im Mittelpunkt der türkischen Bedenken steht die kurdische Arbeiterpartei PKK. Finnland hat diplomatische Bemühungen eingeleitet, um eine einvernehmliche Lösung zu erreichen. Einige NATO-Länder versuchten, die Aussagen aus der Türkei zu relativieren.

Paul Levin von der Universität Stockholm ist Fachmann zwischenstaatliche Beziehungen. Er sagte gegenüber euronews, dass die Türkei insbesondere darüber besorgt sei, dass PKK-Mitglieder in Schweden lebten. „Was die Türkei als Bedrohung durch die PKK wahrnimmt, ist das zentrale nationale Sicherheitsanliegen der Türkei. Schweden teilt nicht ganz die gleiche Sichtweise auf diese Bedrohung", sagte Levin.

„Wenn Schweden nun der NATO beitreten will, ist das eine willkommene Gelegenheit für die Türkei, ihren Standpunkt darzulegen und zu fordern, dass Schweden dies berücksichtigt", sagte er.

Alles nur taktische Spielchen?

Doch Levin geht auch davon aus, dass der türkische Präsident Erdoğan auch aus innenpolitischen Gründen Bedenken gegen den NATO-Beitritt der beiden Staaten angemeldet hat. Denn im Sommer 2023 stehen in der Türkei die Parlamentswahl und die Präsidentschaftswahl an. Gerüchten zufolge ist jedoch im Gespräch, beide Abstimmungen auf den kommenden Herbst vorzuziehen. Levin: „Erdoğan schneidet in Umfragen nicht gut ab. Es sieht so aus, als würde er verlieren. Das könnte auch etwas sein, das bei einem größeren türkischen Publikum gut ankommt", so Levin.

In Schweden gibt es eine große kurdische Gemeinde. Die PKK wird sowohl in der Türkei als auch in der Europäischen Union als terroristische Vereinigung eingestuft. Finnland und Schweden sind bekanntermaßen EU-Mitglieder.

Der ehemalige türkische Diplomat Sinan Ülgen, der jetzt als politischer Kommentator bei einer Istanbuler Denkfabrik tätig ist, glaubt nicht daran, dass die Türkei tatsächlich einen NATO-Beitritt der beiden Länder verhindern werde, sondern angesichts der derzeitigen Lage versuche, Gewinn zu erzielen.

Waffenembargo aufheben?

„Meiner Meinung nach hat die Türkei berechtigte Forderungen. Zum Beispiel sollte Schweden das Waffenembargo gegen die Türkei aufheben. Es ist nicht vernünftig, ein NATO-Land zu sein und einem anderen Verbündeten innerhalb desselben Bündnisses ein Waffenembargo aufzuerlegen", sagte Ülgen im euronews-Gespräch. Auch Levin hatte diesen Punkt hervorgebracht und betont, dass sich die Türkei F-16-Kampfflugzeuge zulegen und wieder Teil des US-amerikanischen F-35-Projekts sein möchte, nachdem man wegen des Kaufs eines russischen Raketensystems ausgeschlossen worden war.

Und Ülgen meint, dass die Türkei Schweden auffordern werde, mehr im Kampf gegen die PKK zu unternehmen und der YPG keine militärische und geldliche Hilfe mehr zu leisten. Die kurdische Miliz YPG wird von der türkischen Regierung in unmittelbaren Zusammenhang mit der PKK gebracht.

Erdoğan lehnte Entsendung diplomatischer Abordnungen ab

Levin und Ülgen sind überzeugt, dass zwischen der Türkei einerseits sowie Finnland und Schweden andererseits Verhandlungen geben werde, möglicherweise könnten auch weitere NATO-Staaten eingebunden werden. Allerdings lehnte Erdoğan die Entsendung diplomatischer Abordnungen nach Finnland und Schweden zwecks Verhandlungen ab.

Der ehemalige US-Diplomat Matthew Bryza sagte, die Türkei wisse die strategischen Vorteile zu schätzen, die ein NATO-Beitritt der beiden Länder bedeuten könnte, dass aber Ankara die Gunst der Stunde nutze, um weltweite Aufmerksamkeit zu erregen.

„Es wäre unklug zu unterschätzen, wie wütend die Spitze der türkischen Regierung und das türkische Volk darüber sind, dass eine Organisation, die selbst von der EU als terroristisch eingestuft wird, die PKK, sowohl in Schweden als auch in Finnland einen sicheren Hafen findet", so Bryza gegenüber euronews. Auch er glaubt nicht, dass die Türkei letztlich einen Beitritt der beiden Staaten zum Militärbündnis verhindern würde, sondern einen Preis herausschlagen möchte.

„In Ankara ist man sich deutlich im Klaren darüber, dass die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO für das gesamte Bündnis von tiefgreifender strategischer Bedeutung ist, und ich denke, die Türkei wird letztendlich einen Weg finden wollen, um Ja zu sagen", betont der US-Diplomat.

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Nato-Chef Stoltenberg will "Bedenken der Türkei ernst nehmen"

Zahlreiche Festnahmen zum Jahrestag der Gezi-Proteste - Oppositionelle Kaftancioglu wieder frei

Schiffe von NATO-Mitgliedsstaaten besuchen den Hafen von Helsinki