Polens Reformzusagen, um an EU-Geld zu kommen: Mehr Schein als Sein?

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, in Warschau mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, in Warschau mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki Copyright European Union, 2022.
Von euronews
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Warschau erhält lange gesperrte Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Möglich machte das die Ankündigung, das Rechtssystem zu ändern. Viele haben weiterhin Zweifel.

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Polen wird die ersten Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds der Europäischen Union erhalten. Dieser Schritt ist umstritten. Bisher ist das Geld zurückgehalten worden, da es zwischen der Europäischen Kommission und der polnischen Regierung unterschiedliche Ansichten über Rechtsstaatlichkeitsfragen gibt.

Ende Mai stimmten die Abgeordneten des polnischen Parlaments mehrheitlich für die Auflösung einer Disziplinarkammer des obersten Gerichts des Landes und die Einrichtung einer neuen Stelle. Diese soll „Kammer für Arbeitsverantwortung“ heißen. Die Disziplinarkammer galt vielen als ein Mittel der Regierung, in die Justiz einzugreifen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Kammer als unvereinbar mit EU-Gesetzen eingestuft.

Geld für Polen: EU-Kommissionsmitglieder uneinig

Polen hatte im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds 35,4 Milliarden Euro beantragt, davon 23,9 Milliarden Euro als Beihilfe und 11,5 Milliarden Euro als Darlehen zu günstigen Bedingungen. Der Wiederaufbaufonds war 2020 aufgelegt worden, um den EU-Staaten wirtschaftlich über die Folgen der Pandemie hinwegzuhelfen. Aufgrund des Streits in Rechtsfragen zwischen Brüssel und Warschau erhielt Polen bisher keine Mittel aus dem Topf. Dass nun der Weg zur Auszahlung freigemacht wurde, ist auch innerhalb der EU-Kommission ein Streitthema. euronews erfuhr, dass unter anderem Klimaschutzkommissar Frans Timmermans und die Kommissarin für Digitalfragen, Margrethe Vestager, gegen die Entsperrung der Gelder für Polen sind.

Neben der Abschaffung der Disziplinarkammer des obersten Gerichts Polens sagte die polnische Regierung auch zu, Richter, die von der Disziplinarkammer bestraft wurden, erneut einer Prüfung zu unterziehen.

Brüssel pocht darauf, dass das Gremium, welches die Disziplinarkammer ablösen soll, den EU-Rechtsgrundsätzen entspricht. Iustitia, die richterliche Vereinigung Polens, warnte bereits, auch die neue Stelle könne nicht verhindern, dass seitens der Politik weiter Einfluss auf die Justiz ausgeübt werde.

Polen muss nachweisen, dass Fälle überprüft werden

Auch in der zweiten Zusage, nämlich der erneuten Prüfung der Fälle der von der Disziplinarkammer belangten Richter, gibt es mögliche Schlupflöcher: Die Disziplinarkammer konnte beispielsweise Geldstrafen und Gehaltskürzungen verhängen. 2021 sprach das Gremium Urteile in mehr als 200 Fällen, 122 betrafen Richter. 25 von ihnen wurde die Immunität entzogen. Einige weitere Fälle sind noch anhängig. Es geht dabei unter anderem um die Vorwürfe „kommunistische Verbrechen“, Trunkenheit am Steuer und Korruption.

Bis vor Kurzem forderte die Europäische Kommission, ihrer Ansicht nach unrechtmäßig verurteilte Richter wieder ihren Dienst aufnehmen zu lassen. Das hat sich geändert. Jetzt hieß es, Polen müsse nachweisen, dass die erneute Prüfung der Fälle eingeleitet wurde, aber nicht, ob diese Prüfung zum Abschluss gebracht wurde.

„Das Überprüfungsverfahren kann auf Antrag eines betroffenen Richters eingeleitet werden", sagte ein EU-Beamter, der anonym bleiben wollte. „Die erste Anhörung kann innerhalb von drei Monaten nach dem Antrag stattfinden und das gesamte Verfahren kann innerhalb von zwölf Monaten abgeschlossen werden.“ Einige Richter könnten wieder ihren Dienst aufnehmen, andere wohl nicht, so der Beamte.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hatte die Disziplinarkammer als nicht mit EU-Recht vereinbar eingestuft und eine vorübergehende Einstellung ihrer Arbeit sowie eine Rücknahme ihrer meisten Urteile angeordnet. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ordnete außerdem einstweilige Maßnahmen im Fall mehrerer polnischer Richter an, die nach Anwendung der EU-Rechtsprechung wegen „Amtsmissbrauchs“ angeklagt wurden.

Erste Auszahlung wohl bis Ende des Jahres

Polen kann bezüglich der EU-Wiederaufbauhilfe zwei Zahlungen pro Jahr anfordern. Voraussichtlich werden Warschau nach der Einigung die ersten beiden Zahlungen bewilligt, möglicherweise auch die ersten drei.

Die erste Zahlung dürfte knapp über vier Milliarden Euro liegen, sowohl in Form von Beihilfen als auch von Darlehen. Es wird erwartet, dass die Auszahlung bis spätestens Jahresende vollzogen worden ist. Die folgende Auszahlung, die im ersten Quartal des kommenden Jahres erwartet ist, dürfte einen ähnlichen Umfang haben. Die dritte Überweisung könnte dann in der zweiten Jahreshälfte 2023 über die Bühne gehen.

Die Europäische Kommission will sicherstellen, dass die gerichtliche Überprüfung der von Urteilen der Disziplinarkammer betroffenen polnischen Richter gemäß EU-Richtlinien abgeschlossen ist. Diese Bestimmung wird jedoch erst im letzten Quartal 2023 in Kraft treten, so dass Warschau ausreichend Zeit hat, die Entscheidungen der Kammer zu überprüfen.

Eine erste Zahlung ist nur möglich, wenn das neue Gesetz in Kraft getreten ist und alle Bedingungen erfüllt
Ursula von der Leyen
Präsidentin der Europäischen Kommission

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte: „Eine erste Zahlung ist nur möglich, wenn das neue Gesetz in Kraft getreten ist und alle Bedingungen erfüllt." Und sie sagte weiter: „Zusätzlich muss Polen bis Ende 2023 nachweisen, dass alle unrechtmäßig entlassenen Richter bis dahin wiedereingestellt worden sind. Das ist ein Fortschritt, aber wir sind noch nicht am Ende des Weges der Rechtsstaatlichkeit in Polen angelangt."

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki äußerte, er könne nicht zulassen, dass Anarchie über das polnische Rechtssystem herfalle. „Ich habe meine eigene Meinung zur Justiz vor 2025 und die von den kommunistischen Behörden ernannten Richter", sagte er. Von der Leyen kenne seine diesbezügliche Meinung sehr gut, so Morawiecki.

Brüssel hat eine nicht veränderbare Klausel eingesetzt, die sicherstellen soll, dass die polnische Regierung die beschlossene Reform des Rechtssystems nicht kippt. Sollte das dennoch geschehen, werden die Hilfszahlungen ausgesetzt.

Polen sollte erst dann Zugang zu EU-Geld erhalten, wenn das Land seine Bereitschaft zeigt, den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in vollem Umfang nachzukommen
Juan Fernando López Aguilar
spanischer Europaabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für bürgerliche Freiheit und Justiz

Juan Fernando López Aguilar, spanischer Europaabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für bürgerliche Freiheit und Justiz, genügt das nicht. López Aguilar ist als Kritiker der polnischen Regierung bekannt. „Polen sollte erst dann Zugang zu EU-Geld erhalten, wenn das Land seine Bereitschaft zeigt, den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in vollem Umfang nachzukommen", fordert er. Der Spanier ist der Meinung, von der Leyen habe ihre eigenen Aussagen verraten. „Die Richter wurden ihrer Ämter enthoben, weil sie EU-Recht umgesetzt haben. Das ist nicht hinnehmbar. Diese Fehler sind von der polnischen Regierung nicht rückgängig gemacht worden. Es gibt keine ausreichenden Zusicherungen", meint López Aguilar.

Polen hat 35,4 Milliarden Euro beantragt

Bis 2026 soll Polen in Form von Beihilfen und Darlehen 35,4 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds erhalten, um 49 Reformen durchzuführen und 52 Investitionen zu tätigen, von denen 42 Prozent in Zusammenhang mit umweltpolitischen Vorhaben stehen. Und zusätzlich kann Polen weitere Darlehen in Höhe von 25 Milliarden Euro entgegennehmen.

Die Einigung, den Weg zur Auszahlung des Geldes freizuräumen, steht in keinem Zusammenhang mit einem Urteil des obersten Gerichts Polens, in dem der Vorrang von EU-Recht in Zweifel gezogen wurde und in dessen Folge die Möglichkeit in der öffentlichen Diskussion auftauchte, Polen könne die Europäische Union verlassen.

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EU-Beamte bestehen darauf, dass die mit Warschau eingegangenen Verpflichtungen ausreichen, um die finanziellen Interessen der EU zu schützen, und dass Streitigkeiten bezüglich Rechtsstaatlichkeit durch Vertragsverletzungsverfahren und nicht durch den Wiederaufbaufonds behandelt werden sollten. Sie meinen, der ursprüngliche polnische Plan, der im Mai 2021 vorgelegt wurde, enthalte keine Verpflichtung in Bezug auf die Justizreformen.

Urteil: Geldstrafe von täglich einer Million Euro

Brüssel hat in den vergangenen Jahren mehrere Gerichtsverfahren gegen Polen angestrengt. Diese Fälle sind bis vor den Europäischen Gerichtshof gelangt. In einem Fall wurde Warschau zu einer Geldstrafe in Höhe von einer Million Euro pro Tag verurteilt.

„Wenn Polen die Punkte des Wiederaufbauplans vollständig einhält, wird die Kommission eher früher als später über die Vertragsverletzungsverfahren beraten", sagte ein EU-Beamter. Und zwar, um sie zu beenden. „Aber bis dahin sind die Fälle noch nicht abgeschlossen", betont er.

Nachdem Polen die Ampel auf Grün geschaltet hat, gibt es nur noch zwei Mitgliedstaaten ohne einen genehmigten Wiederaufbauplan: Ungarn, dessen Programm aus rechtsstaatlichen Gründen auf Eis liegt, und die Niederlande, die ihren Plan noch nicht vorgelegt haben.

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