Die Hintergründe des Ölembargos: Sieg für Orbán und offenes Ende der Ausnahmeregelung

Ölspeicher in der belarussischen Stadt Mozyr
Ölspeicher in der belarussischen Stadt Mozyr Copyright SERGEI GRITS/AP
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Die Europäische Union will bis Jahresende dafür sorgen, dass deutlich weniger russisches Erdöl eingeführt wird. Welche Ausnahmen gibt es? Und welche Rolle nimmt die Fernleitung Druschba ein?

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Der Krieg in der Ukraine geht in seinen vierten Monat und noch ist kein Ende in Sicht. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben sich darauf geeinigt, den Großteil des Ölankaufs aus Russland bis zum Jahresende einzustellen.

Fast vier Wochen dauerten die Verhandlungen, unter anderem ein Sondergipfel in Brüssel war notwendig, um eine Lösung auszuarbeiten und zu erzielen. Ungarns Forderung, auf einen vollständigen Halt russischer Öllieferung zu verzichten, wurde stattgegeben.

Die Einigung besagt, dass Öllieferungen aus Russland auf dem Seeweg verboten werden. Diese machen mehr als zwei Drittel der Lieferungen aus. Durch Fernleitungen darf russisches Öl vorerst weiter gen Westen fließen. Wie lange diese Regelung gilt, blieb offen. Ungarn hatte zunächst einen Übergangszeitraum bis Ende 2024 vorgeschlagen.

Erfolg für Orbán

Für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bedeutet der von den EU-Staaten getroffene Verhandlungslösung einen Erfolg. Orbán zeigte sich als hartnäckiger Verfechter seiner Standpunkte und sperrte sich gegen eine Lösung, bis eine Forderungen erfüllt waren. „Ungarische Familien können heute Nacht beruhigt schlafen", sagte Orbán nach der Einigung. „Der Vorschlag, den Brüssel unterbreitete, wäre wie eine Atombombe gewesen, aber uns ist es gelungen, ihn zu verhindern", so der ungarische Ministerpräsident.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand die Ölfernleitung Druschba (deutsch: Freundschaft). Diese stammt noch aus der Sowjetzeit. Betrieben wird die Leitung von dem russischen Unternehmen Transneft. Der Bau wurde zu Beginn der 1960er Jahre begonnen, das Netz umfasst eine Strecke von mehr als 5500 Kilometer. Das Öl fließt über diese Rohre nach Deutschland, Polen, in die Slowakei, nach Tschechien und nach Ungarn.

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Der Verlauf der Druschba-Ölfernleitungeuronews

Tausende Arbeitsplätze im Ölgeschäft

Täglich zwischen 750 000 und 800 000 Barrel Rohöl werden durch die Fernleitung Druschba gepumpt. Die tägliche Höchstmenge beträgt 1,4 Millionen Barrel. In den EU-Staaten wird das Öl in Raffinerien unter anderem zu Diesel, Benzin und Schmierstoffen. Diese Stoffe werden anschließend innerhalb der EU verkauft.

Auf diese Weise wurde Druschba zu einer wichtigen Achse des europäischen Ölhandels, an dem mittel- und unmittelbar tausende Arbeitsplätze hängen. Dieser Industriezweig ist also wegen der Einfuhren aus Russland stark davon abhängig, dass Druschba weiterhin Öl ausspuckt.

Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorschlug, die Einfuhren russischen Öls auf dem Seeweg und über Fernleitungen zu beenden, sorgte das nicht in der gesamten Europäischen Union für einhellige Zustimmung. Die Slowakei, Tschechien und Ungarn sind in hohem Maße von russischem Öl abhängig und verfügen über keine Meeresanbindung. Es wurden deshalb unterschiedliche Vorschläge unterbreitet, um die Energieversorgung umzuwandeln und dabei einen Übergangszeitraum von bis zu vier Jahren zu gewähren.

Die slowakische Regierung führte den Grund ins Feld, die Raffinerie Slovnaft verarbeite ausschließlich russisches Schweröl. Eine Umstellung des Betriebs auf die Verarbeitung leichteren Öls würde ein halbes Jahrzehnt dauern und Kosten von 250 Millionen Euro verursachen, ließ Bratislava verlauten.

Aus Budapest klang es ähnlich: Es seien sogar 550 Millionen Euro vonnöten, um eine Umstellung durchzuführen, während die tschechische Regierung betonte, man brauche bis Juni 2024, um die Flussmenge der Fernleitung Transalpine entsprechend zu erhöhen. Diese befördert Öl, das nicht aus russischen Quellen stammt, Ausgangspunkt ist die italienische Hafenstadt Triest.

Hinter verschlossenen Türen wurde ausführlich und angestrengt verhandelt, um möglichst allen Anforderungen der 27 EU-Mitgliedsstaaten Rechnung zu tragen. Dabei spielten technische Fragen eine große Rolle, aber auch die Nutzung alternativer Ölquellen und neue Lieferwege. Ständig begleitet wurden die Verhandlungen von der Sorge vor wirtschaftlichen Einbußen und Auswirkungen auf den Alltag der Bevölkerung. Kurzum: Die Streitsache enthielt Sprengstoff und barg sogar das Potenzial, die Europäische Union in dieser Frage in mehrere Lager zu teilen.

Ölverkauf füllt russische Kasse

Letztlich wurde eine Kompromisslösung gefunden, um in der Ölfrage eine für alle Beteiligten annehmbare Antwort zu finden und das sechste Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg zu bringen.

Auch wenn die Ausnahmeregelung mit unbekanntem Endzeitpunkt viele nicht zufriedenstellte, liefert das kommende Ölembargo doch eindeutige Zahlen: Die Europäische Union ist Russlands wichtigste Ölkundin. Vor dem Beginn des Kriegs lag der Verkauf bei rund 3,5 Millionen Barrel pro Tag, das entsprach 2021 einem Gegenwert von 74 Milliarden Euro.

Die steigenden Energiepreise machten ein Embargo für die EU unumgänglich: Dank des gewinnbringenden Verkaufs fossiler Brennstoffe konnte der Kreml den Rubel in die Höhe treiben und einen Kontostand von 90 Milliarden Euro erzielen.

„Das Embargo ist immer noch ein sehr positiver Schritt für Europa und zeigt, dass die EU es mit Sanktionen gegen Putin wegen der Gräueltaten in der Ukraine ernst meint", sagte Anna Krajinska, Mitarbeiterin einer Vereinigung, die sich für abgasfreien Verkehr einsetzt.

Polen und Deutschland wollen Druschba nicht mehr nutzen

Die Slowakei, Tschechien und Ungarn haben die Einigung ausdrücklich gutgeheißen und lobten, dass ihre Forderungen berücksichtigt worden seien. Polen und Deutschland, die an den nördlichen Zweig der Druschba-Fernleitung angeschlossen sind, haben zugesagt, über die gesetzlichen Verpflichtungen hinauszugehen und die Einfuhren über die Fernleitung zusätzlich zu den Lieferungen auf dem Seeweg einzustellen. Sollten die beiden Länder diese nicht verbindliche Zusage umsetzen, werden die EU-Länder einer Schätzung der Europäischen Kommission zufolge am Jahresende 90 Prozent weniger russisches Öl beziehen als zuvor. Wie es mit den übrigen zehn Prozent weitergeht, bleibt offen.

Die Ministerpräsidenten Belgiens und der Niederlande äußerten zwar Verständnis für Ungarns Lage, schlugen aber vor, die Ausnahmeregelung in den kommenden Monaten erneut zu prüfen, um sie zeitlich zu begrenzen. Dass die Regierung in Budapest sich darauf einlässt, ist fraglich.

Wie steht es um die Chancengleichheit?

Die getroffene Einigung wirft bereits Fragen bezüglich möglicherweise ungleicher Wettbewerbsbedingungen auf, denn: Die Slowakei, Tschechien und Ungarn beziehen weiterhin russisches Öl, während der Rest sich um andere Lösungen bemühen muss.

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„Die Länder werden einen Wettbewerbsvorteil haben, und das ist eine Gefahr, die für die Integrität des Binnenmarktes in Betracht gezogen werden sollte", sagte Ben McWilliams von der Denkfabrik Bruegel gegenüber euronews. „Es ist noch nicht klar, inwieweit Ungarn und andere Länder in der Lage sein werden, russisches Rohöl zu raffinieren und auf Sekundärmärkten zu verkaufen - aber dies muss begrenzt und genau überwacht werden“, fordert McWilliams.

In der Schlusserklärung des EU-Gipfels ist die Zusage enthalten, Chancengleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten sicherstellen zu wollen. Doch wie es tatsächlich aussehen wird, weiß man wohl erst Ende Dezember, wenn das Ölembargo in Gänze ausgearbeitet sein soll.

Höhere Preise anderer Ölförderländer?

Dass Russland Rohöl aus dem Ural mit einem auffälligen Abschlag von 35 Dollar gegenüber dem Referenzwert Brent anbietet, dürfte die Lage für die Europäische Union noch unangenehmer machen, insbesondere wenn nicht-russische Anbieter das Embargo nutzen, um die Preise zu erhöhen und größere Gewinne zu erzielen.

Eine weitere beachtenswerte Einzelheit der Einigung ist, dass Ungarns Ministerpräsident Orbán eine Bestimmung durchsetzte, die besagt, dass „im Falle einer plötzlichen Unterbrechung der Versorgung Notmaßnahmen ergriffen werden, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten“.

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